Die große Metamorphose (Teil 2 von 2)

Hanns Graaf

Was hat sich in reichlich einem Jahrzehnt, in den 1920ern, in der UdSSR verändert? Zunächst konnten die Bolschewiki den Bürgerkrieg siegreich beenden, jede Opposition bekämpfen und ihre Macht sichern. Auf dieser Basis gelang es, bis Mitte der 1920er die Wirtschafts- und Versorgungskrise zu überwinden und zu stabilisieren. Parallel dazu gab es aber einen Niedergang des Sowjetsystems, d.h. der Räte- und Selbstverwaltungsstrukturen des Proletariats. An deren Stelle agierte ein riesiger Partei-Staats-Apparat. So notwendig bzw. unvermeidbar diese Entwicklung unter den komplizierten Startbedingungen Sowjetrusslands auch war – sie stellte eine bedrohliche Abweichung von jenem Weg, von jenen Methoden dar, die zentral für den sozialistischen Aufbau sind: die Selbstorganisation in einem Rätesystem. Anstatt, dass der Staat begann „abzusterben“, weitete er sich immer mehr aus. Dieser Prozess ist aber langfristig notwendig damit verbunden, die Formierung der Arbeiterklasse zum sozialen Subjekt zu blockieren. In den 1920ern bestand noch die Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, Voraussetzung dafür war aber, dass es erkannt und mit den richtigen Mitteln und Methoden überwunden würde. Letztlich bleibt zu konstatieren, dass das Bewusstsein und die Fähigkeiten dafür in ausreichendem Maße weder in der Arbeiterklasse noch in der Partei vorhanden waren. Die geringen Ansätze dazu wurden bekämpft (z.B. durch das Fraktionsverbot von 1921). Schon zu Beginn der 1920er erlangten die Bürokratie und deren Methoden (z.B. Kommissar-Ernennungsprinzip statt Wahl und Kontrolle von unten) ein Übergewicht. Die zentrale Figur dieses Prozesses war Stalin, der sich dafür einen „treuen“ Funktionärsapparat schuf.

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Die große Metamorphose (Teil 1 von 2)

Vom degenerierten Arbeiterstaat zum Staatskapitalismus

Hanns Graaf

Wir bezeichnen Sowjetrussland bzw. die UdSSR bis Ende der 1920er Jahre als degenerierten Arbeiterstaat. Diese Kategorie beschreibt einerseits die Tatsache, dass mit der Oktoberrevolution (bzw. in den Monaten danach) das Kapital enteignet, der bürgerliche Staatsapparat weitgehend zerschlagen wurde und das Proletariat (v.a. in Gestalt der bolschewistischen Partei) die politisch-administrative Macht übernommen hat. Deformiert war der Arbeiterstaat insofern, als sowohl die Rätemacht des Proletariats und dessen Zugriff auf die Produktionsmittel – die industriellen und umso mehr die agrarischen – noch sehr unzureichend entwickelt war. Die Tendenzen zur Bürokratisierung begannen schon 1918/19, tw. aufgrund einer fehlerhaften Konzeption der Bolschewiki („Staatskapitalismus“ in der Wirtschaft, Parteistaat), v.a. aber aufgrund ungünstiger Umstände (Kleinheit des Proletariats, Unterentwicklung seiner sozialen Kompetenzen, Rückständigkeit, Krieg, Bürgerkrieg, Krise, Hunger).

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Arbeiterstaat oder Staatskapitalismus? Zum Klassencharakter der Sowjetunion

Anmerkungen zu Trotzkis Analyse

Hanns Graaf

Der Klassencharakter der UdSSR wird bekanntlich von Autoren und Organisationen der Linken sehr unterschiedlich eingeschätzt. Die Positionen reichen von der Kennzeichnung der stalinschen Sowjetunion als „sozialistisch“ über deren Charakterisierung als deformierter oder degenerierter Arbeiterstaat oder die Einordnung als „bürokratischer Kollektivismus“ bis dahin, die UdSSR als Staatskapitalismus anzusehen. Diese unerhörte Spannweite an Einschätzungen allein in der sich auf Marx beziehenden Linken (von anderen Richtungen wie dem Anarchismus oder den diversen bürgerlichen und sozialdemokratischen Einschätzungen ganz abgesehen) ist umso verwirrender, als selbst innerhalb dieser Richtungen große Unterschiede bestehen, so auch im Trotzkismus, wo sehr verschiedene Positionen vertreten werden. Dazu kommt noch, dass selbst bei gleichen Einschätzungen des Klassencharakters der UdSSR das methodische Herangehen oder der Zeitpunkt, ab dem diese Einschätzung zutreffen würde, stark differieren. „Arbeiterstaat oder Staatskapitalismus? Zum Klassencharakter der Sowjetunion“ weiterlesen

Staatskapitalismus statt Sozialismus (Teil 1 von 2)

Ein Beitrag zur Konzeption einer nachkapitalistischen Wirtschaft

Hanns Graaf

Schon Anfang und Mitte der 1920er Jahre begann in der internationalen Linken eine Diskussion über den Klassencharakter der UdSSR. Mit dem Aufstieg Stalins und der Etablierung jener Strukturen, die wir heute „Stalinismus“ nennen, spitzte sich diese Diskussion noch zu. Die einen sahen die UdSSR als mehr oder weniger „sozialistisch“ an, andere, v.a. Trotzki, bezeichneten sie als „degenerierten Arbeiterstaat“, wieder andere, darunter z.B. RätekommunistInnen und AnarchistInnen, verstanden die UdSSR als Staatskapitalismus. Bis heute trennt die Frage der Charakterisierung der UdSSR und des „Ostblocks“ die Linke in gegensätzliche Lager. „Staatskapitalismus statt Sozialismus (Teil 1 von 2)“ weiterlesen