Eine schiefe Analogie

Paul Pfundt

Der Krieg in der Ukraine wirft die Frage auf, wie sich Revolutionäre dazu verhalten sollten. Die trotzkistische „Revolutionär-kommunistische internationale Tendenz“ (RCIT) vertritt eine Position, die zwei Elemente miteinander verbindet: 1. wendet sie sich gegen alle imperialistischen Mächte, die am Konflikt beteiligt sind bzw. ihn mit herbeigeführt haben: die USA, die EU und die NATO einerseits und Russland andererseits. 2. unterstützt sie die Ukraine, d.h. den Kampf des Selensky-Regimes, gegen Russland. Diese Position begründet sie damit, dass es eine Art von „unabhängigem Volkswiderstand“ gebe und dass die Ukraine eine Halbkolonie sei, die Marxisten gegen den Imperialismus unterstützen müssten (https://www.thecommunists.net/worldwide/global/ukraine-war-second-sino-japanese-war-a-historical-analogy/#anker_3).

In einem Artikel (https://aufruhrgebiet.de/2022/03/welche-haltung-zum-ukrainischen-widerstand/) sind wir bereits auf diese Argumente eingegangen. Dabei haben wir gezeigt, dass es derzeit keinen vom Kiewer Regime unabhängigen, geschweige denn gegen die Regierung gerichteten Widerstand gibt. Wir haben zudem darauf verwiesen, dass Waffenlieferungen diese Strukturen – selbst wenn es sie gäbe – gar nicht erreichen würden, da alle Lieferungen von der Regierung kontrolliert und verteilt werden. Weiter haben wir betont, dass die Ukraine zwar eine Halbkolonie ist, aber vom Westen aufgerüstet wurde. Die Ukraine führt einen Stellvertreterkrieg – und sie hat diesen Krieg mit den Angriffen auf die Donbass-Republiken, die bereits 14.000 Tote gefordert haben sollen, bereits 2014 begonnen. Das rechtfertigt allerdings nicht Putins Aggression gegen die Ukraine als Gesamtstaat.

Die RCIT-Position

Nun hat die RCIT in einem Beitrag ihre Position der Unterstützung Kiews zu untermauern versucht, indem man eine Analogie zum Krieg zwischen China und Japan 1937-41 anführt. Die RCIT schreibt: „Es ist nicht schwer, die Ähnlichkeiten zwischen dem gegenwärtigen Krieg in der Ukraine und dem chinesisch-japanischen Krieg von 1937-41 zu erkennen. In beiden Fällen wurde ein halb-koloniales Land (Ukraine bzw. China) von einer imperialistischen Macht (Russland bzw. Japan) angegriffen. In beiden Fällen wurde der Widerstand des unterdrückten Landes von verräterischen bürgerlichen Kräften (Zelenski bzw. Chiang Kai-shek) angeführt. In beiden Fällen war der nationale Befreiungskrieg mit einer inner-imperialistischen Rivalität zwischen Großmächten verbunden, die zu eskalierenden Spannungen und Wirtschaftssanktionen führte (NATO gegen Russland bzw. USA gegen Japan).

In beiden Fällen unterstützten Marxisten den legitimen Verteidigungskrieg des unterdrückten Volkes, während sie im Konflikt zwischen den Großmächten eine revolutionär-defätistische Position einnahmen. In beiden Fällen lehnten die Marxisten imperialistische Sanktionen ab, befürworteten aber Arbeitersanktionen gegen den Aggressor.

Die RCIT setzt die Methoden und das Programm der Vierten Internationale fort. Wir rufen alle authentischen Sozialisten, die mit einer solchen internationalistischen und anti-imperialistischen Perspektive einverstanden sind, auf, sich uns im Kampf gegen die russische Invasion, gegen alle Großmächte und für das Programm der internationalen sozialistischen Revolution anzuschließen. Vorwärts im Aufbau einer Revolutionären Weltpartei!“

Falsche Analogie

Wenn die RCIT behauptet, dass in „beiden Fällen (…) der Widerstand des unterdrückten Landes von verräterischen bürgerlichen Kräften (Zelenski bzw. Chiang Kai-shek) angeführt“ wurde, dann ist das falsch. Neben der bürgerlichen Kuomintang gab es in China nämlich auch die KP-geführte Volksbefreiungsarmee unter Mao, die ebenfalls gegen die Japaner kämpfte. Parallel zum nationalen Befreiungskampf der Chinesen gegen Japan tobte ein Bürgerkrieg im Land. In diesem Konflikt war es durchaus richtig, den Widerstand Chinas gegen Japan, dabei aber die Kräfte Maos, zu unterstützen.

Auch in anderer Hinsicht ist die Analogie der RCIT falsch. Der Kampf Chinas gegen die imperialistischen Mächte begann schon lange vor 1937 – ohne Unterstützung der USA. Ab den 1920er Jahren drückte die Arbeiterklasse dem sozialen und nationalen Befreiungskampf immer stärker ihren Stempel auf. Massenstreiks, der Aufschwung der Gewerkschaftsbewegung und das schnelle Wachstum der KP belegen das. Erst die fatale Orientierung durch Moskau erzwang deren Unterordnung unter die Kuomintang und ihre bürgerliche Strategie und führte zu einem blutigen Desaster, bei dem 1927 tausende Arbeiter und Kommunisten durch die Kuomintang hingemetzelt wurden. Es war Trotzki, der diese Politik von Stalin und Bucharin massiv kritisiert hatte. Die KP und die Arbeiterbewegung haben sich lange nicht von dieser Niederlage erholt. Das führte u.a. dazu, dass Mao zum Führer wurde, dass seine Bewegung stark von der Arbeiterklasse isoliert war und schon früh die typischen Merkmale des Maoismus wie terroristische Methoden, Voluntarismus, fehlende Demokratie und Staatsorientierung ausprägte.

China war also nicht nur von einem nationalen Konflikt, sondern auch von einem inneren Klassenkampf geprägt. Davon kann aktuell in der Ukraine keine Rede sein. Im Gegenteil: seit das Maidan-Regime ab 2014 im Amt ist, haben reaktionäre, nationalistische und faschistische Kräfte und Tendenzen zugenommen. Die nationale Frage wurde in der Ukraine nach 2014 auf eine Weise angefacht, die überhaupt keinen fortschrittlichen Charakter hat und sich stark von der nationalen Bewegung in China unterscheidet. China wurde jahrzehntelang vom Imperialismus geknebelt und ausgeplündert. Insofern war der Kampf der Chinesen für nationale Unabhängigkeit gerechtfertigt, konnte aber auch nur wirkliche Effekte bringen, wenn die nationale Befreiung mit der sozialen Befreiung und mit der Überwindung der Rückständigkeit verbunden war.

Die RCIT zitiert die damalige Position der IV. Internationale: „Sollte der japanische Imperialismus in China von seinen imperialistischen Rivalen und nicht von den revolutionären Massen besiegt werden, würde dies die Versklavung Chinas durch das anglo-amerikanische Kapital bedeuten. Die nationale Befreiung Chinas und die Emanzipation der chinesischen Massen von jeglicher Ausbeutung kann nur durch die chinesischen Massen selbst, im Bündnis mit dem Proletariat und den unterdrückten Völkern der ganzen Welt, erreicht werden.“ Das ist richtig, nur: in der Ukraine gibt es aktuell keine in irgendeiner Weise fortschrittliche Bewegung.

Die nationale Frage in der Ukraine

Die Ukraine war staatlich fast immer mit Russland verbunden. Die Phasen nationaler Selbstständigkeit waren sehr kurz. Die Ukraine war nach der Oktoberrevolution nur während des Bürgerkrieges vorübergehend formell unabhängig, dann erst wieder ab 1991 nach dem Zerfall der UdSSR. Von einer nationalen Unterdrückung durch den Zarismus konnte – wenn überhaupt – erst ab dem 18. Jahrhundert gesprochen werden. Die kurze Zeit der unabhängigen Ukraine von 1918-22 war auch mit einem reaktionären Nationalismus verbunden, der sich gegen die soziale Umwälzung im Zuge der Oktoberrevolution richtete.

Einen großen Schub erhielt der ukrainische Nationalismus durch die Politik Stalins – wenn auch ungewollt. Durch seinen Terror und die Zwangskollektivierung wurden Millionen Ukrainer getötet, verhaftet, umgesiedelt, enteignet oder sie verhungerten aufgrund der „genialen“ Agrarpolitik Stalins. Diese Tragödien befeuerten den ukrainischen Nationalismus. Noch bis Anfang der 1950er gab es bewaffnete Konflikte zwischen den Sicherheitskräften und reaktionären Partisanen, die sich auf den faschistischen Nationalisten Bandera beriefen und von ihm vom Westen aus geführt wurden. Diese Kämpfe kosteten auf beiden Seiten tausende Tote. Von einer nationalen Unterdrückung der Ukraine nach Stalins Tod zu sprechen, wäre allerdings stark übertrieben. Wenn es um nationale und soziale Unterdrückung geht, dann trifft das ab 2014 aber auf die Russen im Donbass zu (und auf andere Minderheiten in der Ukraine). Das Anheizen des Nationalismus in der Ukraine und die damit verbundenen reaktionären und faschistischen Tendenzen sind Ergebnis des Einflusses des Westens auf das Kiewer Regime, um Russland als Konkurrenten zu bekämpfen.

Dass China eine eigene Nation  darstellt ist klar, ob das bei der Ukraine der Fall ist, bleibt offen. Die Unterschiede zwischen der sozio-kulturellen Verfasstheit der Ukraine und Russlands sind in etwa so wie der Unterschied zwischen Bayern und Norddeutschland. Deswegen käme aber niemand auf die Idee, dass die Bayern eine eigene Nation wären. Ganz unabhängig davon ist es aber das Recht der Ukrainer, einen eigenen Staat zu haben. Daher hat auch Putin nicht das Recht, die nationale Integrität der Ukraine zu bestreiten. Es ist ein typischer Ausdruck von Imperialismus, dass Putin glaubt, mit Gewalt seine großrussischen Vorstellungen durchzusetzen. Es ist dieselbe imperiale und reaktionäre Logik, die im Zweiten Weltkrieg die Westalliierten dazu brachte, mit Terrorangriffen auf deutsche Städte die Bevölkerung gegen die Nazis aufzuwiegeln – der gegenteilige Effekt trat ein.

Der von der RCIT angeführte Vergleich zwischen China und der Ukraine hinkt also gewaltig. Der Kampf Chinas gegen den Imperialismus war (trotz der Unterstützung der Kuomintang durch die USA) ein gerechter nationaler Befreiungskrieg. Die Selbstverteidigung der ukrainischen Bevölkerung gegen Putins Einmarsch ist zwar gerechtfertigt, deshalb aber nicht einfach fortschrittlich, denn ein Sieg Kiews würde nur bedeuten, dass das Land ein vorgeschobener Stützpunk der NATO gegen Russland bleibt und komplett vom Westen abhängig wäre. Die Bedrohung Russlands und die Missachtung seiner durchaus legitimen Sicherheitsinteressen wäre nicht beendet, sondern nur auf ein noch gefährlicheres Level gehoben. Deshalb ist es richtig, den sofortigen Rückzug der russischen Truppen (außer aus dem Donbass und der Krim, wo die Bevölkerung über die Staatszugehörigkeit entscheiden soll) zu fordern und dafür einzutreten, Verhandlungen zu beginnen. Es war bisher aber immer Kiew, das auf Druck der USA alle Verhandlungen (Minsker Abkommen, Donbass) abgelehnt hat.

Für die Arbeiterbewegung gibt es in der Ukraine keine fortschrittliche Seite, die unterstützt werden könnte. Chinas Befreiungskampf wurde von Trotzki damals richtigerweise unterstützt. Wäre es damals jedoch darum gegangen, aus China eine Kolonie der USA zu machen oder es zu deren Marionette zu degradieren, wäre die Position Trotzkis sicher anders ausgefallen. Ob die Ukraine selbstständig bleibt oder wieder zu Russland gehört (mit welchem Status von Autonomie auch immer), soll der Entscheidung der ukrainischen Bevölkerung unterliegen, nicht aber auf Druck des Westens oder Moskaus erfolgen.

Der Linken und der Arbeiterbewegung muss es v.a. darum gehen, den Krieg in der Ukraine schnell zu beenden und eine Ausweitung des Konflikts zu einem Weltkrieg zu verhindern. Deshalb muss sie sich sowohl gegen Putins Aggression wie gegen den Westen stellen, der seit 2014 einen offen anti-russischen und militaristischen Konfrontationskurs fährt. Keine der beteiligten Seiten – die USA, die NATO, die EU, Kiew und Russland – tragen zur Lösung des Konflikts bei oder bewirken gar eine progressive Entwicklung.

Während es in China mit der Roten Armee eine fortschrittliche Alternative zum Imperialismus und zur bürgerlich-nationalen Kraft der Kuomintang gab, existiert eine solche Kraft gegenwärtig in der Ukraine nicht. Diesen Widerstand hat es allenfalls von den Russen im Donbass gegeben. Die Masse der Bevölkerung in der Ukraine hat der Westorientierung, der Aufrüstung und den rechten Tendenzen in der Gesellschaft keinen Widerstand entgegengesetzt. Die RCIT weigert sich aber, diese Realität zur Kenntnis zu nehmen. Sie schreibt: „Wir unterstützen das ukrainische Volk und seinen Widerstand gegen die Invasion des imperialistischen Russlands. Gleichzeitig stellen wir uns gegen beide Lager in der anhaltenden inner-imperialistischen Rivalität zwischen den Großmächten – sowohl Russland als auch die NATO.“ Einen Widerstand „des Volkes“ – für Marxisten ohnehin eine fragwürdige Kategorie – gibt derzeit nicht, nur den Widerstand des Selensky-Regimes. Und: Stellt man sich gegen die NATO, wenn man deren Rammbock gegen Russland unterstützt?!

Die RCIT fordert: „Verteidigt die Ukraine! Besiegt den russischen Imperialismus! Internationale Volkssolidarität mit dem ukrainischen nationalen Widerstand – unabhängig von jedem imperialistischen Einfluss!“ Nur leider hat der Imperialismus auf den Widerstand nicht nur Einfluss – er führt ihn an und rüstet ihn auf.

Die RCIT weiter: „Nieder mit allen imperialistischen Mächten – NATO und EU ebenso wie Russland! In allen Konflikten zwischen diesen Mächten kämpfen Revolutionäre gegen beide Lager!“ Schön wärs, doch die RCIT unterstützt die Ukraine, den Vasallen des westlichen Imperialismus.

2 Gedanken zu „Eine schiefe Analogie“

  1. „Es ist auf jeden Fall bewusste UNTERLASSUNG geboten, nämlich sich NICHT an sogenannten ‚Friedensdemonstrationen‘ zu beteiligen, die sich irgendwie auf die Seite Zelenskijs und der NATO-Staaten stellen, indem sie auch nur ‚Neutralität‘ vortäuschen, oder gar gelb-blaue Fahnen schwenken und AUF KEINEN FALL unter solchen demagogischen Parolen wie ‚Gegen den russischen Angriffskrieg‘. Wer damit glaubt den Frieden zu befördern, spielt das Spiel der westlichen Kriegstreiber.“
    Entnommen aus: freidenker.com (Klaus Linder)
    Ich halte diese Position für richtig. (Mit der Organisation habe ich nichts zu tun.)

    1. Ja, Revolutionäre müssen zugleich gegen Russland, die Nato und das Kiewer Regime Stellung beziehen. Zur Frage der Nationalfahnen: Ukrainische Fahnen müssen nicht generell aus antiimperialistischen Antikriegsdemos entfernt werden. Das ist nur dann nötig, wenn sie erkennbar von rechten Nationalisten oder Faschisten getragen werden. Es gibt durchaus Ukrainer oder auch andere Menschen, die mit der Fahne zum Ausdruck bringen wollen, dass sie sich gegen Putins Aggression stellen. Damit sind sie nicht automatisch schon Unterstützer der Nato oder von Selenski. Eine antiimperialistische Antikriegsdemo ist eine Einheitsfrontaktion, kein „Parteiaufmarsch“. Bei solchen Aktionen wird es immer wieder vorkommen, dass Symbole auftauchen oder Kräfte dabei sind, die nicht in Gänze das Anliegen der Aufrufer teilen. Würde man all diese von vornherein ausschließen, gäbe es keine Aktion, die über das eigene Klientel hinausgeht – es wäre reine Sektiererei. Auch früher gab es z.B. bei Palästina-Demos auch Nationalfahnen. Rote Fahnen wären sicher besser, doch der Klassenkampf ist kein Wunschkonzert.

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