Ein dreiviertel Jahrhundert für vier Quadratmeter

Die Wohnungsfrage in der UdSSR

Hanns Graaf

Sofort nach der Oktoberrevolution gingen die Bolschewiki daran, die Wohnsituation der werktätigen Massen, v.a. des Proletariats zu verbessern. Ohne dass es zunächst offizielle Beschlüsse gab, wurden reiche Wohnungseigentümer enteignet, die Wohnungen ArbeiterInnen übergeben oder sie dort einquartiert. Die bourgeoisen Eigentümer mussten die Wohnungen oft innerhalb 24 Stunden räumen. Von der Einrichtung durfte nichts, von der Kleidung nur wenig mitgenommen werden. Mitunter wurde das Nutzungsrecht der ehemaligen Wohnungsinhaber auf ein oder zwei Zimmer in ihrer eigenen Wohnung beschränkt.

In die freigewordenen Räumlichkeiten zogen Parteimitglieder und ArbeiterInnen ein. Mitunter waren diese darüber aber nicht einmal besonders froh, denn oft entsprach es kaum ihren Wünschen,  ihre noch so bescheidene Wohnung gegen eine nach Quadratmetern berechnete, formell größere Fläche in der Ecke einer Villa zu tauschen. Hier zeigt sich schon der erste grundsätzliche Fehler im Vorgehen der Bolschewiki bzw. der Sowjets. Es wurde oft verabsäumt, den vorhandenen Wohnraum systematisch zu erfassen und nach einem sinnvollen, demokratisch erarbeiteten Plan im Interesse der Werktätigen zu nutzen. Schon die pauschale Norm nach Quadratmetern – ohne Bezug zur Wohnraumstruktur – geht an der Lebensrealität vorbei. Ein weiterer Fehler war, dass oft nicht versucht wurde, die Betroffenen selbst – die Mieter bzw. die Bewohner des Viertels – in die Entscheidungsfindung einzubinden und dafür entsprechende Basis-Strukturen wie Mieter- oder Bewohnerkomitees zu schaffen.

Diese Konzeptlosigkeit in der Frage, wie die Wohnraumnutzung gelöst werden soll, ist allerdings kein hausgemachtes Problem der Revolutionäre in Russland, sondern wurzelt im Marxismus selbst. In seiner Abhandlung über die Wohnungsfrage (1872) schreibt Engels:

„Wie eine soziale Revolution diese Frage lösen würde, hängt nicht nur von den jedesmaligen Umständen ab, sondern auch zusammen mit viel weitergehenden Fragen, unter denen die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land eine der wesentlichsten ist. Da wir keine utopischen Systeme für die Einrichtung der künftigen Gesellschaft zu machen haben, wäre es mehr als müßig, hierauf einzugehn.“ (zit. nach Lenin, Staat und Revolution, Dietz-Verlag 1960, LW Bd. 25, S. 446)

Wie so oft lehnten es MarxistInnen mit dem Verweis, keine „Utopisten“ zu sein, ab, konkretere Überlegungen anzustellen, wie eine nachkapitalistische Gesellschaft Probleme lösen könnte und welche Probleme und Aufgaben sich für sie überhaupt stellen. Mag das bei Marx und Engels noch angehen, muss das bei den Theoretikern und Politikern der II. Internationale als grobes Versagen konstatiert werden, da diese, v.a. in Deutschland, über wirklichen Masseneinfluss verfügten, um schon unter kapitalistischen Verhältnissen Kämpfe für die Lösung oder die Milderung der Wohnungsnot zu führen. Die Führer der SPD hatten zudem ja durchaus auch die Perspektive vor Augen, innerhalb nur weniger Jahrzehnte so stark zu sein, dass die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft konkret auf die Tagesordnung rückt. Das führte bezeichnenderweise allerdings nicht dazu, konkrete programmatische und taktische Schlussfolgerungen zu ziehen. So standen schließlich auch die Bolschewiki als „Kinder der II. Internationale“ konzeptionell mit leeren Händen da, als sie die Macht hatten, um die Gesellschaft zu revolutionieren.

Lenin führt zur Wohnungsfrage in „Staat und Revolution“ aus: „Hier wird nicht die Veränderung der Form der Staatsmacht behandelt, sondern nur der Inhalt ihrer Tätigkeit. Expropriationen und Einquartierungen erfolgen auch auf Verfügung des jetzigen Staates. Formell betrachtet, wird auch der proletarische Staat Einquartierungen und Expropriationen von Häusern „verfügen“. Es ist aber klar, daß der alte Vollzugsapparat, die mit der Bourgeoisie verbundene Beamtenschaft, zur Durchführung der Verfügungen des proletarischen Staates einfach untauglich wäre.“ (ebenda S. 447)

Obwohl Lenin darauf hinweist, dass es ihm hier nicht darum geht, die Form des neuen (proletarischen) Staatsapparats zu beschreiben, und obwohl er betont, dass der alte, bürgerliche  Staatsapparat für die „sozialistischen“ Aufgaben ungeeignet ist, finden wir – wie auch zu anderen Fragen – kaum Aussagen darüber, wie denn der neue proletarische Staat konkret organisiert sein solle. De facto war die „Wohnungspolitik“ der Bolschewiki dann eben auch meist eine Mischung einerseits aus Anordnungen des zentralen Staatsapparats und oft genug einfach des Parteiapparats bzw. der Kommissare und andererseits den spontanen Aktionen der Basis.

Das Dilemma der Konzeptlosigkeit drückt sich auch darin aus, dass erst ein dreiviertel Jahr (!) nach der Machtergreifung ein allgemeines Dekret zur Wohnungsfrage beschlossen wurde. Erst am 20. August 1918 erließ die Sowjetregierung ein „Dekret über die restlose Aufhebung des Privateigentums an städtischem Grund- und Hausbesitz.“ Allein schon der Titel verweist auf einen Maximalismus, der mit den konkreten Möglichkeiten und Strukturen überhaupt nicht vereinbar war. Denn die „restlose Aushebung“ müsste ja auch damit einhergehen, „restlos“ eine andere Struktur zu schaffen und die Mittel dafür zu haben. Davon aber konnte keine Rede sein. Dem Dekret vom August 1918 folgten etliche andere Verfügungen. Eine Regelung bestimmte, dass die Mieter der verstaatlichten Häuser von der Mietzahlung befreit wurden. Anfang 1921 wurde die Zahlung der Miete überhaupt aufgehoben.

Diese Regelungen haben einen ambivalenten Charakter. Einerseits wird hier das kapitalistische Wertgesetz in diesem Sektor außer Kraft gesetzt und – zumindest vordergründig – den Lohnabhängigen eine soziale Wohltat gewährt. Andererseits wird ein (bürgerlicher) ökonomischer Wirkungszusammenhang zerstört, ohne dass an dessen Stelle ein anderer getreten wäre. Statt zweckentsprechender Maßnahmen, die den ökonomischen wie sozialen Bedingungen Rechnung trugen, wurde anhand von „allgemeinen Prinzipien“ administriert. Dasselbe trifft auch für die Enteignung der Wohnungseigentümer zu. Es wurden deren soziale Privilegien beschnitten und ihrer Bereicherung ein Riegel vorgeschoben, doch zugleich wurde die Abschaffung ihrer Zuständigkeit und ihres Interesses für die Instandhaltung der Gebäude nicht durch eine andere Regelung ersetzt. Es gehört wenig Phantasie dazu, um sich auszumalen, wohin dieser – sicher gutgemeinte – planlose Aktionismus der Bolschewiki führte: zum Chaos. Diese Fehlentwicklungen hätte man korrigieren können. Da aber die Entscheidungsbefugnis – d.h. die reale Macht – nicht in Händen lebendiger Räte-Organe, die von den Massen direkt bestimmt und kontrolliert sind, lagen, sondern wesentlich in den Händen eines neuen, von der Partei eingesetzten Staatsapparates, war aber auch der  „Reparaturmechanismus“ gestört.

Schon nach kurzer Frist zeigten sich all jene Probleme, welche die Wohnsituation nicht nur der frühen UdSSR sondern im Prinzip des späteren „Ostblocks“ insgesamt prägten. Erstens eine verbreitete Interesselosigkeit der – meist proletarischen – MieterInnen, eine Verantwortungslosigkeit gegenüber „ihrem“ staatlichen Wohneigentum. Bezeichnenderweise gab es diese Probleme bei denen, die Wohneigentum hatten, z.B. den „Häuslebauern“ nicht. Die Ursache hierfür liegt aber nicht darin, dass „das Bewusstsein“ unterentwickelt gewesen wäre, sondern einfach darin, dass die notwendigen sozialen (Räte)Strukturen, in denen sich das Bewusstsein und die Bedürfnisse der BewohnerInnen auch hätte materialisieren können, fehlten. Die zweite Ursache war die – notwendige – Unfähigkeit der zuständigen Bürokratie, an der misslichen Situation irgend etwas zu verbessern. In der Sowjetunion sind die Klagen über verfallende und verwahrloste Häuser von Beginn an Alltag. Und es klagen alle: die Bewohner, die Bürokratie und die Politik. Presse und politische Erklärungen sind voll davon.

Konkret machte sich die verfahrene Situation so bemerkbar: „In den bürgerlichen Bevölkerungsschichten hatte die Überzeugung feste Wurzel geschlagen, daß jede Wohnung zugunsten einer anderen Person oder einer Behörde fortgenommen werden würde, sobald man sie einmal instandgesetzt hätte. Daher fürchteten sich die zur früheren Bourgeoisie gehörenden Bewohner davor, irgendwelche Instandsetzungsarbeiten vorzunehmen. Andererseits wurden derartige Arbeiten von den neuen Bewohnern aus der Arbeiter- oder der Sowjetbeamtenklasse auch nicht unternommen, weil ihnen der Besitz der Wohnung nicht sicher genug erschien; sie ließen vielmehr die Wohnungen verwahrlosen, entwendeten Einrichtungsgegenstände usw.“ (I.Koblenz, Das Wohnungsrecht, Verlag des Instituts für Sowjetrecht, Moskau 1924, S. 42)*

1928 hieß es dazu offiziell: „Die Abnutzung der Häuser geht ganz anormal schnell vor sich. Nach Angaben der Hauptverwaltung der Kommunalwirtschaft erreichte der Verfall des munizipalisierten Wohnungsfonds gegen Anfang des Jahres 1927 im Durchschnitt 35% (…), in einzelnen Städten war dieser Prozentsatz aber noch bedeutend höher. So erreichte zum Beispiel in Leningrad, wo die diesbezüglichen Ermittlungen mit besonderer Sorgfalt durchgeführt wurden, die Abnutzung der munizipalisierten Häuser 59,4 Prozent, in Kostroma 39,8 Prozent, in Nowgorod 40,3 Prozent usw.“ (Koserenko, Ekonomitscheskaja Shisn, 1928, Nr. 6)*

Da der Verfall immer größere Ausmaße annahm und sich die Wohnungsnot von Jahr zu Jahr steigerte, musste der Staat reagieren. Kleine Häuser (mit einer Wohnfläche unter 125 qm) wurden den Eigentümern zurückgegeben, weil die Bewirtschaftung dieser Häuser für die Kommune, also den örtlichen Sowjet, unmöglich war. (Dekret vom 28.12.21). Hieran zeigt sich einerseits das Missverhältnis zwischen den großen Ambitionen des Staates und seinen sehr beschränkten Mitteln und andererseits die Unmöglichkeit, Wohnungen überhaupt durch einen zentralen (bürokratischen) Staat effektiv zu verwalten. Auch die Zahlung der Miete wurde wieder eingeführt, um Mittel für die Instandsetzung zu haben. Da sich der Staat aber nicht imstande zeigte, die Häuser durch die „Kommunalwirtschaftlichen Abteilungen“ der Stadt-Sowjets zu bewirtschaften, wurden die Bewohner jedes Hauses in eine Art Pachtgenossenschaft gezwungen, die für die Bewirtschaftung und das Eintreiben der Mieten verantwortlich war. Dieses Vorgehen offenbart nicht nur das Versagen der staatlich-bürokratischen Wohnungsverwaltung sondern auch den daraus folgenden pseudo-demokratischen Aktionismus.

Die „Kommunalwirtschaftlichen Abteilungen“ sind zudem ein gutes Beispiel dafür, wie man, anstatt von unten eine Selbstverwaltungsstruktur der Wohnungsnutzer aufzubauen, etwas von „Oben“ administrierte. Dass dieses Prozedere unter dem Namen „Stadt-Sowjet“ firmierte, ändert daran nichts (zudem wurden die Sowjets immer mehr nur zum verlängerten Arm der Partei).

Die 1921 erneut eingeführten Mieten richteten sich nach der sozialen Lage der Bewohner. Er war am niedrigsten für ArbeiterInnen und Mitglieder der Partei. Dann kamen die Sowjetbeamten. Die höchsten Sätze hatten Handel- und Gewerbetreibende, Freiberufler usw. Diese an sich insgesamt richtige und nachvollziehbare Regelung (mit Ausnahme der Parteimitglieder) hatte aber auch ihre Kehrseite. Das Problem war, dass einerseits das Wertgesetz modifiziert, d.h. abgeschwächt wurde, andererseits aber trotzdem intakt blieb, weil es eben keinen allgemeinen Plan und keine allgemeine Rechungsführung gab, welche die gesellschaftlichen Kosten für das Wohnen erfasst und auf die einzelnen Gesellschaftsteile (Städte, Häuser usw.) umlegt. Wozu führte das?

Es stellte sich sehr schnell heraus, dass es überraschenderweise v.a. die ArbeiterInnen waren, die unter der Neuordnung litten. Die Bezahlung der Miete, d.h. das Aufkommen an Mitteln zur Instandhaltung, hing davon ab, in welchem Verhältnis die einzelnen – unterschiedlich viel zahlenden – sozialen Gruppen unter den Hausbewohnern vertreten waren. War ein Haus nur oder überwiegend von Proletariern mit niedrigen Mieten bewohnt, war die Deckung der Unkosten schwer möglich. Es gab also ein Interesse, möglichst solvente Mieter zu haben. Die – sicher unbeabsichtigte – Wirkung des Mechanismus war nun, dass ArbeiterInnen in die schlechteren Häuser verdrängt wurden – eine (ungewollte) Gentrifizierung besonderer Art.

In einem Gutachten vom März 1928 wiesen die Gewerkschaften darauf hin, dass dieses System zu einer ungleichmäßigen Rentabilität der Häuser und zu einer schlechteren Instandhaltung gerade derjenigen Gebäude führt, die durch schlechter bezahlte Mieter bewohnt werden. „Außerdem schützt das gegenwärtige System die Arbeiter sehr unzureichend dagegen, daß sie in die schlechteren Häuser verdrängt werden, weil die Hausverwaltungen unter den verschiedensten Vorwänden versuchen, diese unvorteilhaften Mieter loszuwerden.“ (Zentralausschuß der Gewerkschaften über die Wohnungsmiete, Trud, 23.3.28) *

1926 erfolgte eine allgemeine Erhöhung der Mieten, um die Haus-Unkosten zu decken. Doch auch nach dieser Maßnahme betrug die Kostendeckung nur ca. 50%, wie offiziell festgestellt wurde. Die am 17.12.26 vorgenommene Wohnungszählung, welche die gesamte UdSSR erfasste, ergab:

* Lt. Wohnungsgesetz sind 8 qm Wohnfläche pro Kopf das „sanitäre“ Minimum, welches garantiert sein soll.

* Insgesamt gab es 2.881.931 (städtische) Wohngebäude mit einer Gesamtfläche von 183.770.100 qm. Die bewohnte Fläche betrug 153.839.300 qm. Von der gesamten städtischen Bevölkerung von 26.310.084 Menschen in insgesamt 1.920 Städten wohnten 119.652 Personen in Räumen, die für das Wohnen nicht bestimmt oder geeignet waren (Fabriken, Lagerhäuser usw.). 24.488.631 Menschen wohnten in „normalen“ Wohnungen, 1.701.615 in Gemeinschaftswohnungen.

* Die auf eine Person entfallende Wohnfläche betrug im Durchschnitt 5,9 qm, etwa drei Viertel der als Minimum angesehenen Fläche von 8 qm. Am größten war die Wohnungsnot in Verwaltungszentren wie Moskau oder Charkow, die eine enorme Aufblähung an Bürokratie erlebten.

Zum Vergleich: in Deutschland kamen in dieser Zeit auf 100 verfügbare Wohnungen im Durchschnitt 108 Familien. D.h. auf 100 Familien, die im Besitz einer eigenen Wohnung waren, kamen 8, die in einer fremden Wohnung leben mussten. In Moskau hingegen kamen auf 100 Wohnungen etwa 300 Familien. Im Durchschnitt kamen in der UdSSR Ende der 1920er auf 100 Wohnungen 168 Familien (in den ländlichen Gebieten war die Situation besser). Zusammengefasst bedeutete das: extreme Wohnungsnot. Diese Situation fand die Revolution vor, es war nicht ihre Schuld. Entscheidend aber ist die Frage, ob die sowjetische Politik geeignet war, diese Misere zu beheben. Wir werden sehen, dass die Bilanz insgesamt negativ ausfällt.

Über die Hälfte der Wohnfläche befindet sich in den frühen 1920ern in den Händen des Staates. In den Großstädten etwa 80%. Trotzdem gab es noch über zwei Millionen städtische Privathäuser. Von diesen waren 567.448 Gebäude nicht aus Ziegelsteinen und Holz gebaut, m.a.W.: Lehmhütten. Es waren nur die größten und besten Häuser verstaatlicht worden. Von 1921-23 waren somit nur kleinere und schlechtere Häuser ihren Besitzern zurückgegeben worden.

Warum sich die Wohnungssituation über Jahrzehnte kaum besserte, hat eine besondere Ursache, die sehr viel darüber aussagt, welche gesellschaftlichen Strukturen sich nach der Oktoberrevolution etabliert hatten.

1923 wurde offiziell festgestellt, dass in der Sowjetunion im Durchschnitt 33,8% (!) der gesamten städtischen Wohnfläche von staatlichen Behörden belegt war. Auch wenn diese Zahl sehr hoch erscheint und womöglich übertrieben ist, war es ohne Zweifel so, dass tatsächlich ein beträchtlicher Anteil des Wohnraums von Verwaltungen belegt war. Das verwundert nicht, hatten es die Bolschewiki doch in wenigen Jahren geschafft, eine Verwaltung aufzubauen, die um ein mehrfaches größer war als die zaristische. Während sich die Bürokratie breitmachte, lebten die ArbeiterInnen oft in menschenunwürdigen Verhältnissen. Die von der Regierung zugewiesene Wohnfläche wurde von ihnen daher mit Galgenhumor als „Sargnorm“ bezeichnet.

Die durchschnittliche Wohnfläche in der UdSSR betrug 1930 5,86 qm. ArbeiterInnen hatten nur 4,91 qm zur Verfügung. Daraus ist erstens ersichtlich, dass seit 1926 der Durchschnitt nicht gestiegen, sondern leicht zurückgegangen war (von 5,9 auf 5,86 qm). Zweitens zeigt sich, dass die Bürokratie sich die größte Wohnfläche angeeignet hatte: 6,96 qm.

Bei diesen Zahlen muss bedacht werden, dass es in Sowjetrussland kein größeres Problem mit massenhaft zerstörtem Wohnraum infolge von Krieg und Bürgerkrieg gab. Dazu kam, dass es aufgrund der Wirtschaftskrise und des Hungers zwischen 1918 und den frühen 1920ern eine sehr starke Abwanderungstendenz von den Städten aufs Land gab und Millionen durch Bürgerkrieg, Hunger, Seuchen usw. umkamen, d.h. die Bevölkerungszahl sank bzw. weniger stark anstieg als früher. Weniger Bevölkerung stand also relativ mehr Wohnraum zur Verfügung. Dieser „Vorteil“ wurde aber eben zum großen Teil durch den Verfall der Bausubstanz und die wuchernde Bürokratie und deren Raumbedarf zunichte gemacht.

Freilich haben Regierung und Kommunen versucht, durch Wohnungsneubau die Situation zu verbessern. Es wurden hunderte von Millionen Rubel dafür ausgegeben. Doch der Neubau konnte den gleichzeitigen Verfall von Wohnraum kaum ausgleichen, geschweige denn, mehr Wohnraum schaffen. Die Gründe dafür sind vielfältig: v.a. Mangel an Baumaterial sowie schlechte Qualität der Materialien und der Bauausführung. Die Zeitschrift „Ekonomitscheskaja Shisn“ bemerkte dazu: „wenn wir 300 Millionen Rubel in den Bau von neuen Wohnungen investieren, so vergrößern wir hierdurch unseren Wohnfonds nur um 100 Millionen. (…) Es werden bei uns viele Zwei- und Drei-Zimmerwohnungen gebaut, während der Arbeiter nur ein Zimmer bewohnen kann. Das Ergebnis ist, dass Arbeiterfamilien des öfteren alle Zimmer vermieten und selbst in der Küche oder in einer kleinen Kammer hausen. Dieser Umstand trägt natürlich keineswegs zur Erhaltung der Häuser bei. In Leningrad befinden sich erst kürzlich erbaute Arbeiterwohnungen in einem äußerst verwahrlosten und verfallenen Zustande.“ (Koserenko, Die nächsten Aufgaben des Wohnungsbaues, Ekonomitscheskaja Shisn, 18.1.28) *

Wie impotent der staatliche Wohnungsbau war, zeigt auch das folgende Beispiel. 1924-27 schuf der private Wohnungsbau (der oft illegal und mit enormen Materialbeschaffungsproblemen konfrontiert war) eine Wohnfläche von 7,8 Mill. Quadratmetern, während der staatliche Wohnungsbau im gleichen Zeitraum und mit dem Aufwand weit größerer Geldmittel nur 6,4 Mill. Quadratmeter herstellte.

Mit der Durchsetzung des Stalinismus wurden immense Ressourcen dafür verwendet, unsinnige Prestigeobjekte zu errichten. So ist z.B. der Kontrast zwischen den pompösen Metro-Stationen in Moskau und Leningrad oder den landesweit errichteten „Kulturpalästen“, die v.a. der Bürokratie dienten, und der kärglichen Wohnsituation der meisten Menschen schockierend. Andere Projekte wie z.B. der Weißmeer-Kanal wurden mit riesigem Aufwand (darunter dem Einsatz von hunderttausenden Zwangsarbeitern) erstellt, oft ohne dass sie irgendeinen Nutzen hatten und zudem noch permanent enorme Instandhaltungskosten erzeugten.

Die Not und das völlige Versagen ihrer Wohnungspolitik bewog die Stalin-Regierung dann sogar dazu, am 28. August 1928 ein Dekret zu erlassen, das außerordentliche Begünstigungen für ausländisches Privatkapital vorsah, wenn es im Wohnungsbau investieren würde. So sollten die Bauherren das Recht haben, die Wohnungen in den von ihnen erbauten Häusern frei zu vermieten und eine von ihnen bestimmte Miete zu fordern. Allein: es fand sich natürlich kein ausländischer Kapitalist, der sich darauf einlassen wollte.

In der „Verratenen Revolution“ (1936) geht auch Trotzki auf die Wohnungsfrage ein. „Doch hinsichtlich des Wohnungsbaus wurde der Plan (von 1935, d.A.) nur zu 55,7% erfüllt, wobei der Bau von Arbeiterwohnungen am langsamsten, schlechtesten und nachlässigsten erfolgte. Was die Kolchosbauern betrifft, so wohnen sie wie bisher in ihren alten Katen zusammen mit ihren Kälbern und Kakerlaken. Andererseits beschwert sich der Sowjetadel in der Presse, dass nicht in allen für ihn errichteten Neubauten ´Zimmer für Hausangestellte´, d.h. Dienstmädchen, vorhanden sind.
Jedes Regime schafft sich seinen monumentalen Ausdruck im Bauwesen und in der Architektur. Für die heutige Epoche charakteristisch sind die zahlreichen Sowjetpaläste und Sowjethäuser, wahre Tempel der Bürokratie, die zuweilen dutzende von Millionen Rubel kosteten, teure Theater, Gebäude der Roten Armee, d.h. Militärklubs, hauptsächlich für die Offiziere errichtet (…)“ (Arbeiterpresseverlag Essen, 1990, 127f)

So richtig Trotzki die Mißstände auch schildert – er bleibt die Antwort darauf schuldig, was die Wurzeln dieser Fehlentwicklungen sind. Kein Wunder, sonst müsste er nämlich auch auf die ersten Jahre nach der Revolution eingehen, in denen die Politik der Bolschewiki selbst schon jene Strukturen geschaffen hat, auf denen dann Stalin im wahrsten Sinn des Wortes „aufbauen“ konnte.

Eine sehr anschauliche Darstellung der Wohnsituation der UdSSR gibt Michael S. Woslensky in seinem kenntnisreichen Buch „Nomenklatura. Die herrschende Klasse in der Sowjetunion“. (Verlag Fritz Molden, 1980) Darin schildert er nicht nur die reale – und nicht kleiner werdende –  Wohnungsnot in der UdSSR, sondern auch die Wohnverhältnisse der herrschenden Bürokratie. Er zeigt, dass diese sich einen nicht unerheblichen Anteil am gesellschaftlichen Mehrprodukt dadurch aneignet, dass sie zu besonders billigen Preisen oder gar umsonst größere und bessere Wohnungen nutzen kann. Die Bürokratie erhält Datschas (Wochenendhäuser) umsonst oder spottbillig, für die ein(e) ArbeiterIn im günstigsten Fall viele Jahre oder Jahrzehnte sparen müsste, um sie sich leisten zu können. Diese inoffizielle „Immobilien-Zulage“ der Bürokratie ist ein wichtiger Teil ihres Real-Einkommens und ihrer sozialen Privilegien.

All das begann – wenn auch in geringerem Umfang – schon sofort nach der Revolution 1917. Und es hatte fast nichts damit zu tun, „bürgerliche Spezialisten“ zufrieden zu stellen. Diesen „Anfang“ der Geschichte“ erzählt Trotzki nicht, geschweige denn, dass er die Frage auch nur streifen würde, warum die Politik der Bolschewiki so aussah, wie sie tatsächlich war – nämlich ein Mischmasch aus administrativem Aktionismus und Errichtung eines staatlich-bürokratischen Mega-Apparats neben und gegen die Sowjets, also den rätedemokratischen Selbstverwaltungsstrukturen der Massen. Selbst wenn man einräumt, dass es unter den äußerst schwierigen Bedingungen der ersten Jahre nach 1917 nötig war, mitunter zentralistisch-bürokratisch zu „regieren“, stellt sich die Frage, warum nicht nach dem Ende des Bürgerkriegs 1921 bewusst Schritte zur Überwindung des Bürokratismus und der Wiederbelebung der Sowjets unternommen wurden. Lenins Schriften – nicht nur die letzten, sondern auch schon die von 1918 – sind voll von drastischen Klagen über das monströse und ineffiziente neue Staatsmonstrum. Doch seine Vorschläge zur Überwindung des Problems sind so unkonkret wie hilflos. Sie erinnern geradezu fatal an das Agieren von Gorbatschow, der glaubte, den Apparat aus sich selbst heraus reformieren zu können.

Gerade in der Wohnungsfrage zeigt sich, dass das Problem nicht darin bestand, dass es den Bürgerkrieg, die Rückständigkeit, den Stalinismus oder die Zerstörungen von Gebäuden durch die Nazis gab. Die Ursache ist wesentlich „hausgemacht“: sie wurzelt schon in der Wirtschafts-, Staats- und Gesellschaftskonzeption der Bolschewiki – soweit man von einer bewussten Konzeption überhaupt sprechen kann.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Bolschewiki wirklich die Absicht hatten, die Wohnverhältnisse – und alle anderen sozialen Verhältnisse – grundsätzlich umzuwälzen und zu verbessern. Es stellt sich aber die Frage, warum die reale Entwicklung zu einer Gesellschaft führte, die so sehr anders war, als die Vorstellungen vieler KommunistInnen und sicher auch die von Marx? Hier ist allerdings nicht der Platz, diese Frage breiter darzustellen. Was wir beispielhaft zeigen wollten, ist, dass die schon von den Bolschewiki geschaffenen Strukturen und Methoden zur Lösung der Probleme ungeeignet waren und einer Gesellschaft, die sich Richtung Kommunismus entwickeln will, nicht gerecht wird.

Als 1985 Gorbatschow an die Macht kam, verkündete er (wie alle seine Vorgänger), die Lösung des Wohnungsproblems energisch anzugehen. Denn auch ein dreiviertel Jahrhundert nach der Oktoberrevolution hatte sich an der fatalen Wohnsituation der städtischen Massen fast nichts geändert. Die sowjetischen ArbeiterInnen durften sich auf einer Fläche mit der immer noch bestehenden Mindestnorm von 9 qm „wohnlich“ einrichten. Rein statistisch betrachtet brachte ein dreiviertel Jahrhundert „sozialistischer“ Entwicklung also ganze vier Quadratmeter mehr Wohnraum pro Sowjetbürger.

Sicher spielen auch die enormen Kriegszerstörungen in der Sowjetunion im 2. Weltkrieg eine große Rolle. Doch in Deutschland, wo die Zerstörung der Städte ähnlich schlimm war, gelang es trotzdem in relativ kurzer Zeit, Wohnverhältnisse – auch für die Arbeiterklasse – zu schaffen, die sogar deutlich besser als vor 1945 waren.

Was sind nun die Gründe dafür, dass eine Gesellschaft, die vorgab, den Kapitalismus überwunden zu haben und historisch „überlegen“ zu sein, auf dem Gebiet des Wohnungswesens so versagt?! Oft – und v.a. von Linken und TrotzkistInnen – werden drei Ursachen dafür angeführt, die eine erfolgreichere Entwicklung verhindert hätten: die Rückständigkeit, die Isolation Russlands sowie der Stalinismus. Wir wollen im Folgenden untersuchen, wie plausibel diese Argumente sind bzw. ob sie das Scheitern der Entstehung einer „sozialistischen Wohnkultur“ erklären können.

Der russische Anarchist Volin schildert an einem Beispiel, wie das Wohnungsproblem von der Bevölkerung in Kronstadt schon ab Frühjahr (!) 1917 angegangen wurde (und sicher gab es solche Versuche auch anderswo): „Alle Aufgaben der öffentlichen Dienste und des täglichen Lebens der Stadt wurden von den Bürgern selbst mittels Häuserkomitees und ´Milizen´ wahrgenommen (…). Zug um Zug schritt man zur Sozialisierung der Wohnungen  und aller städtischen Dienstleistungen.

Vor der ´Inthronisierung´ der Bolschewiki wurden (…) von den Bewohnern eines Hauses zunächst einmal einige Mieterversammlungen organisiert. Diese Versammlungen ernannten ein ´Mieterkomitee´, in das energische Leute gewählt wurden, die auch in der Lage waren, die verschiedensten Aufgaben zu bewältigen.  (…) Das Komitee war für die Ordnung im Hause und für die Sicherheit seiner Bewohner zuständig: es organisierte Nacht- und Tagwachen und so fort. Die  ´Häuserkomitees´ delegierten eines ihrer Mitglieder in das Strassenkomitee, das sich mit allen Angelegenheiten befasste, die die Straße des Viertels betrafen. Die nächste Stufe war das ´Bezirkskomitee´, das sich mit den Belangen der Stadt  befasste und das (…) die notwendigen Zentralisierungen vornahm. (…)

Alles funktionierte wunderbar, denn die Beauftragten arbeiteten mit Freude an der Sache und mit Sachverstand (…) Natürlich lösten die Bolschewiki, nachdem sie an die Macht gelangt waren, diese Selbstverwaltung Stück um Stück auf und ersetzten sie durch eine ´mechanische´, etatistische und von Funktionären getragene Organisation.“ (Volin, Die unbekannte Revolution, Die Buchmacherei, Berlin 2013, S. 390f)

Und weiter: „Zu Beginn des Jahres 1918 fasste die Kronstädter Bevölkerung nach ausgedehnten  Debatten (…) den Beschluss, zur ´Sozialisierung der Häuser und Wohnungen´zu schreiten.“ (ebenda S. 393) Dieser Beschluss erfolgte also ca. ein halbes Jahr vor dem offiziellen Wohnungs-Dekret der Sowjetregierung im August 1918.

Volin schildert, wie widersprüchlich das Verhalten der Kronstädter Bolschewiki dazu war. Sie versuchten zuerst, eine Beschlussfassung zu verhindern, indem sie darauf verwiesen, dass solche grundlegenden Entscheidungen von „oben“ getroffen werden müssten und Lenin schon ein Dekret dazu ausarbeiten würde. Einige bolschewistischen Mitglieder des Sowjets, die nicht warten wollten und mit der Mehrheit des Sowjets für sofortige Maßnahmen stimmten, wurden deshalb aus der Partei ausgeschlossen. Das ist ein – und nicht das einzige – Beispiel dafür, wie die Bolschewiki der Dynamik der sozialen Umwälzungen nicht immer gerecht wurden und von Anfang an einen Hang zur Überzentralisation zeigten und sich die sozial-revolutionäre Bewegung unterzuordnen suchten.

Das Vorgehen der Kronstädter zeichnete sich durch Konsequenz wie durch Planmäßigkeit aus. „Alle Wohnungen wurden systematisch aufgesucht, geprüft und registriert, um eine gerechtere Verteilung vornehmen zu können. (…) Jedes Stadtteilkomitee richtete eine Werkstatt ein, die mit Reparatur- und Ausbauarbeiten  (…) beauftragt wurden. Die Werkstätten arbeiteten erfolgreich.“ (…) Später zerstörte die bolschewistische Regierung diese Organisation (…) Die Verwaltung der Häuser wurde von einer rein bürokratischen, von oben zentralisierten Institution übernommen“ (…) sie „installierte in jedem Wohnhaus, jedem Viertel und jedem Stadtteil einen Funktionär (…). Die betroffene Bevölkerung wurde ganz herausgehalten (…) und so verfiel alles wieder in Trägheit und Stagnation. Die besten Gebäude wurden für staatliche Behörden und Beamtenwohnungen reserviert. Die anderen Häuser wurden mehr oder weniger ihrem Schicksal überlassen und verkamen.“ (ebenda S. 395/96)

Auf dem Wohnungssektor zeigt sich dasselbe Bild wie überall. Anstatt eines klaren Plans, einer systematischen Konzeption besteht die Politik der Bolschewiki bzw. der von ihr dominierten Sowjets darin, gutgemeinte, aber mit den Erfordernissen der Praxis oft über Kreuz liegende Maßnahmen, so z.B. die Abschaffung und Wiedereinführung der Miete, durchzusetzen. Von einer politischen Systematik kann schon deshalb nicht gesprochen werden, weil das Vorgehen der Bolschewiki sich durch ein „Zickzack“ auszeichnete. Was Trotzki – zurecht – als ein Merkmal des Stalinismus ausmachte, eben dieses Zickzack, dieses Hin und Her, mit dem ungeeignete Maßnahmen abrupt durch andere, ebenso ungeeignete ersetzt wurden, kennzeichnet aber oft auch schon die Politik des Bolschewismus. Eine einigermaßen vernünftige Planung, welche die Instandhaltung, den Neubau, die Nutzung und Belegung usw. von Wohnungen und Gebäuden zweckentsprechend regelt, gab es jedoch am Anfang nicht und auch nicht 5, 10, 20 oder 30 Jahre nach der Revolution. Das wäre nur möglich gewesen, wenn die HausbewohnerInnen selbst eine solche Planung demokratisch ausarbeiten, kontrollieren und umsetzen – gerade das aber gab es nicht oder war völlig unterentwickelt.

Die „linken“ Thesen, dass die Probleme der Entwicklung der UdSSR durch die historische Rückständigkeit, die Isolation und den Stalinismus bedingt waren, treffen also nur teilweise zu. Sie verschleiern erstens die Probleme und Fehler der Politik und der Konzeption der Bolschewiki und  verweisen zweitens darauf, dass deren Grundproblem – die Entmachtung der Massen (nicht nur des Proletariats) – und die Errichtung eines neuen bürokratischen Mammutstaates in Sowjetrussland schon vor der Stalin-Periode absolut nicht verstanden werden.

Die Lösung des Wohnproblems ist natürlich verzahnt auch mit der Frage der Überwindung der bürgerlichen Familie und der Vergesellschaftung von Hausarbeit und Erziehung. Unter den konkreten Bedingungen der russischen Revolution waren da am Anfang grundsätzlich nur kleine Schritte möglich. Die Bolschewiki wollten diese auch gehen. Das zeigen die Versuche, Kindergärten u.a. Einrichtungen zu schaffen. Doch auch hier springt oft ins Auge, dass bestimmte Maßnahmen zwar „gut gemeint“, aber letztlich falsch und den konkreten Bedingungen oft unangemessen waren.

Ein Beispiel. Vielerorts wurden öffentliche, d.h. staatliche (kommunale) Kantinen eingerichtet. Die erste Frage ist: Braucht man dazu einen zentralen „Staat“? Sicher nicht. Es wäre problemlos möglich, so etwas kollektiv durch die Einwohner selbst zu lösen. Allein schon die Form verrät hier aber, dass es den Verantwortlichen darum ging, von „Oben“ etwas zu dekretieren – unter Ausschluss der Basis. Zumindest nahm man deren Bedürfnisse und Fähigkeiten nicht ernst. Davon abgesehen sind, ökonomisch betrachtet, öffentliche Kantinen (nicht zu verwechseln mit Betriebskantinen) Unsinn. Wenn schon Vergesellschaftung der Speisenzubereitung, dann im Rahmen eines Hauses oder „Kleinviertels“. Die von „Oben“ administrierten „Volksküchen“ waren umso absurder, als sie in einer Situation geschaffen wurden, wo es an allem, was für sie nötig war, extrem mangelte: Räumlichkeiten, Essen, Einrichtungsgegenstände. Anstatt das Wenige sinnvoll zu nutzen, wurde eine Struktur geschaffen, die zusätzlich Ressourcen verbraucht. Allein in Petrograd gab es 1919 über hundert Beamte, die mit der Verwaltung der Volksküchen (nicht mit der konkreten Arbeit dort) befasst waren. Absterben des Staates? Sicher nicht so! Die zeitgenössischen Berichte über diese Volksküchen offenbaren deren „Erfolg“: wenig Essen, schlechtes Essen, Dreck, ewige Wartezeiten, kein Service, hoher Kontrollaufwand, um festzustellen, wer wie viel isst und wie oft kommt usw. Es dauerte nicht lange, und diese Projekte gingen ein.

Es ist in diesem Zusammenhang durchaus bezeichnend, dass von konkreten Ideen und Konzepten hinsichtlich der Vergesellschaftung des Wohnens in den offiziellen Dokumenten der frühen Sowjetunion kaum und später im Stalinismus gar nicht mehr die Rede war. Auch im Wohnungsbau wurde fast immer am bürgerlichen Modell der Familien-Wohnung festgehalten. Dass im nachrevolutionären Russland viele Ideen nicht sofort oder nur in bescheidensten Ansätzen verwirklicht werden konnten, liegt auf der Hand. Dass aber auch Ideen kaum entwickelt wurden, kann wohl schwerlich nur auf die Verhältnisse geschoben werden.

Die Hauptübel dieser Politik sind jedoch nicht nur durch die Umstände verschuldet, sie sind auch Ergebnis – und ein notwendiges Ergebnis – der falschen oder auch fehlenden Programmatik für die Gestaltung der Übergangsgesellschaft. Deshalb sind sie allgegenwärtig, deshalb erwiesen sie sich als so „unüberwindbar“, deshalb gab es mit dem Anschwellen des Stalinismus oft überhaupt keine Strukturveränderungen. Der bürokratische Staat blieb in seiner Grundstruktur unverändert. Ein riesiger bürokratischer Staat thronte über der Gesellschaft, die Sowjets und alle anderen Räte-ähnlichen Strukturen blieben entweder eine inhaltsleere und machtlose Hülle oder aber sie wurden gänzlich ausgemerzt.

Die allgemeine konzeptionelle Schwäche in der Frage der Entwicklung der Übergangsgesellschaft hat ihre Wurzeln letztlich in der Stagnation und Degeneration des Marxismus schon seit der II. Internationale, welche weder von den Bolschewiki noch von der Komintern noch später von der IV. Internationale umfassend gesehen oder gar überwunden wurde. Diese Aufgabe steht deshalb aktuell vor den MarxistInnen der heutigen Generation.

Anmerkung:

Die mit * markierten Zitate stammen aus: Iwan Iljin (Herausgeber) „Welt vor dem Abgrund. Politik, Wirtschaft und Kultur im kommunistischen Staate“, Eckart-Verlag Berlin, 1931. Das Autorenkollektiv dieses Buches bestand zum größten Teil aus konservativen Gelehrten, die in den 1920ern aus Sowjetrussland emigrieren mussten. Dieses Buch ist u.a. deshalb von Gewicht, weil die Autoren (im Unterschied zu vielen anderen) die sowjet-russischen Verhältnisse aus eigener Anschauung kannten und – weil Russisch ihre Muttersprache war – sie die zeitgenössischen Originalquellen kannten und nutzen konnten.

2 Gedanken zu „Ein dreiviertel Jahrhundert für vier Quadratmeter“

  1. „Die allgemeine konzeptionelle Schwäche in der Frage der Entwicklung der Übergangsgesellschaft hat ihre Wurzeln letztlich in der Stagnation und Degeneration des Marxismus schon seit der II. Internationale, welche weder von den Bolschewiki noch von der Komintern noch später von der IV. Internationale umfassend gesehen oder gar überwunden wurde. Diese Aufgabe steht deshalb aktuell vor den MarxistInnen der heutigen Generation.“

    Ein Hinweis auf die Arbeitszeitrechnung wäre wünschenswert gewesen, die als planwirtschaftliches Konzept der Arbeiter:innenselbstverwaltung vieles mitbringt, was es für eine rätedemokratische Übergangsgesellschaft des 21.Jahrhunderts bräuchte.

    Wer die Arbeitszeitrechnung nicht kennt, kann hier einen netten 5 minütigen Kurzfilm schauen:
    https://www.youtube.com/watch?v=_CptYwReLtw

    LG Irina

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