Marx und Gotha

Hanns Graaf

Den Weg der SPD – und gewissermaßen auch der II. Internationale – begann am 27. Mai 1875 in Gotha mit dem Zusammenschluss der Lassalleaner mit den Eisenachern. Das dort beschlossene „Gothaer Programm“ war das erste Programm der deutschen Sozialdemokratie, die zuerst noch „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands“ hieß. 1891, also erst 16 Jahre später, nahm dann der Erfurter Parteitag der SPD das „Erfurter Programm“ an. Dieses Programm galt auch noch 1914, also weitere 23 Jahre (!) später. Das verweist schon auf ein großes Manko bei der programmatischen Arbeit der SPD und dem Mangel an systematischer programmatischer Verarbeitung der Erfahrungen des Klassenkampfes und der Veränderungen der Gesellschaft. Immerhin begann in den 1890ern die imperialistische Periode des Kapitalismus, die u.a. mit massiver Hochrüstung, stärkerem Militarismus und wachsender Kriegsgefahr verbunden war.

Die mangelhafte Programmarbeit der SPD, die auch große Bedeutung für die II. Internationale insgesamt hatte, muss auch vor dem Hintergrund des dramatischen Zusammenbruchs der II. Internationale und der offenen Unterstützung der SPD und der meisten Parteien der II. Internationale für den imperialistischen 1. Weltkrieg und der zentralen Rolle der SPD-Führung bei der Niederschlagung der deutschen Novemberrevolution gesehen werden.

Wir wollen hier der Frage nachgehen, inwieweit sich in den beiden Programmen der SPD dieser Zeit das historische Desaster, in das die Arbeiterklasse von „ihrer“ Partei geführt wurde, schon andeutet. Dazu betrachten wir hier zunächst die Kritik von Marx und Engels am „Gothaer Programm“, die v.a. in Marx´ „Randglossen zum Gothaer Programm“ formuliert wurde.

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1917 – ein Modell für heute? (Teil 2/2)

Hanns Graaf

Die Rolle der Bolschewiki in der Revolution

Der Beginn der Revolution im Februar 1917 war eine spontane Massenbewegung, die ihren Anfang in den Protesten von Arbeiterfrauen gegen die Hungersnot hatte. Ausgehend von den Großbetrieben v.a. in Petrograd (St. Petersburg) entstanden Massendemonstrationen der Arbeiterschaft, die bald zu Massenstreiks wurden. Von Beginn an entstanden auch Machtorgane der Klasse, die üblicherweise als „Sowjetsystem“ bezeichnet werden. Die Basis dieser Sowjets waren aber die betrieblichen Strukturen der Arbeiterinnen und Arbeiter, eine Organisations-Pyramide aus Betriebs- und Abteilungskomitees. Auf dieser proletarischen Basis beruhten die Sowjets, z.B. der Petrograder Sowjet. Erst nach der Konstituierung der betrieblichen Basis bildeten sich proletarische Selbstverwaltungsstrukturen auch in den Wohngebieten und Soldatenkomitees in der Armee und die „eigentlichen“ Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, Bauernsowjets sowie nationale Sowjetstrukturen (Allrussischer Sowjetkongress).

Die Sowjets, z.B. die entscheidenden in Petrograd und Moskau, waren keine rein proletarischen Organe, sondern sozial, politisch und strukturell heterogen. In beiden Städten war die Mehrzahl der Sowjetmitglieder sozial gesehen nicht-proletarisch. Neben den delegierten Arbeitern aus den Betrieben, gab es Soldatenvertreter, die mehrheitlich Bauern waren, und Delegierte der Parteien, meist Intellektuelle. Bis etwa Mitte 1917 stellten Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Anarchisten die Mehrheit der Sowjets der beiden Metropolen Russlands. V.a. die ersten beiden Parteien traten gegen den Sturz der bürgerlichen Kerenski-Regierung (die sie ja selbst mehrheitlich stellten) und gegen eine sozialistische Revolution auf. Nur die Bolschewiki (und tw. die Anarchisten und die linken Sozialrevolutionäre) waren konsequent revolutionär eingestellt; einmal, weil sie für die kompromisslose Umsetzung der Forderungen der Massen eintraten, v.a. für die Beendigung des Krieges und die Landreform, zum anderen, weil sie den Sturz Kerenskis und „Alle Macht den Sowjets“ forderten.

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1917 – ein Modell für heute? (Teil 1/2)

Hanns Graaf

Viele Marxisten und revolutionäre Linke beziehen sich positiv auf die Russische Revolution von 1917 und halten sie für ein Modell, das auch noch für heute Gültigkeit hätte. Dafür spricht, dass die Oktoberrevolution bisher die einzige erfolgreiche sozialistische Revolution war, in der das Proletariat die Macht erringen konnte. Diese Singularität kann allerdings auch dagegen sprechen. Es mangelte im 20. Jahrhundert nicht an revolutionären Versuchen oder an Situationen, wo eine Revolution möglich war: Deutschland 1918, Ungarn 1919, China 1927, Frankreich 1934, Spanien 1936 oder Griechenland 1944/45. Chancen auf revolutionäre Veränderungen gab es in mehreren Ländern auch nach dem 2. Weltkrieg oder Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre in Frankreich, Chile oder Portugal.

Trotzkis Theorie

Dafür, dass all diese Möglichkeiten entweder in einer Niederlage endeten oder das Proletariat gar keine Revolution durchführte, gibt es verschiedene Erklärungen. Eine davon stammt von Leo Trotzki. Dieser hatte schon ab den 1920ern den Aufstieg des Stalinismus in der UdSSR und die darauf folgende Stalinisierung der kommunistischen Weltbewegung kritisiert. Für Trotzki war der Stalinismus eine konterrevolutionäre Agentur im Arbeiterstaat Sowjetunion und in der Kommunistischen Internationale (Komintern). Trotz des Aufstiegs des Stalinismus beharrte Trotzki jedoch darauf, dass die UdSSR immer noch ein Arbeiterstaat sei – jedoch blockiere der Stalinismus dessen Weiterentwicklung zum Sozialismus und weise erhebliche Deformationen auf. Das bewog Trotzki dazu, die UdSSR als „degenerierten Arbeiterstaat“ zu bezeichnen, dessen Perspektive davon abhängig wäre, ob das Proletariat imstande sein würde, die Bürokratie durch eine – nur politische – Revolution von der Macht zu verdrängen und eine Revitalisierung des Rätesystems einzuleiten.

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Vom Traum zum Trauma

Hannes Hohn

Vorwort: Anlässlich des 50. Jahrestages des blutigen Putsches gegen die Allende-Regierung in Chile am 11. September 1973 veröffentlichen wir hier eine Analyse aus dem Jahr 2003, der zuerst in der Zeitung „Neue Internationale“ der Gruppe Arbeitermacht veröffentlicht wurde. Heute arbeitet der Autor in der Initiative Aufruhrgebiet mit. Die Redaktion

Am 11. September 1973 ging in Santiago de Chile der Präsidentenpalast, die Moneda, in Flammen auf. Das Militär unter General Pinochet putschte gegen den gewählten Präsidenten Salvador Allende und errichtete eine blutige Militärdiktatur.

Der Putsch beendete die Hoffnung von Millionen Chilenen auf die Umgestaltung des Landes und auf die Einführung des Sozialismus. Stattdessen herrschte in Chile nun Friedhofsruhe. Fast alle demokratischen Rechte wurden von der Pinochet-Junta außer Kraft gesetzt und Gewerkschaften und Streiks verboten. Die Löhne wurden halbiert, während sich die Arbeitszeit gleichzeitig erhöhte. Diese Folgen des Putsches verdeutlichen, in wessen Sinn und Auftrag der Mörder Pinochet handelte: in dem der Kapitalisten.

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Neue Broschüre: Revolution und Staat

Revolution und Staat - Beiträge zur marxistischen Staatstheorie

Unsere neue Broschüre Revolution und Staat – Beiträge zur marxistischen Staatstheorie ist ab sofort bestellbar.

Gliederung

  1. Marx und Engels zum Staat
  2. Der Staat im Kapitalismus
  3. Sozialdemokratie und Staat
  4. Anarchismus und Staat
  5. Lenins Staatsauffassung
  6. Stalinismus und Staat
  7. Rätedemokratie und Selbstverwaltung
  8. Klassenkampf und Staat heute

Neue Broschüre: Die proletarische Wirtschaft

Unsere neue Broschüre Die proletarische Wirtschaft – Beiträge zu einer nachkapitalistischen Ökonomie ist ab sofort bestellbar.

Gliederung

  1. Die Übergangsgesellschaft
  2. Die Beiträge von Marx und Engels
  3. Positionen der II. Internationale & Lenins
  4. Was ist Staatskapitalismus?
  5. Erfahrungen im Stalinismus
  6. Die Kollektivwirtschaft in Spanien
  7. Die Produktrevolution
  8. Gesellschaftliche Produktivstrukturen
  9. Die Bedeutung der Kollektivbetriebe
  10. Einige Schlussfolgerungen

Die Jahrhundert-Katastrophe (Teil 2 von 2)

Hanns Graaf

Am 22. Juni 1941 überfiel Hitlerdeutschland die UdSSR. Die deutsche Wehrmacht war kriegserfahren, selbstbewusst und verfolgte eine moderne Militär-Doktrin. Angesichts der Größe Russlands und seiner riesigen Ressourcen war es aber auch Hitler und seinen Generälen klar, dass die Entscheidung schnell erfolgen musste, ehe Stalin dazu kommen konnte, diese Kräfte zu mobilisieren.

In vielen, v.a. stalinistisch beeinflussten, militärischen Darstellungen wird behauptet, dass die deutsche Seite hoch überlegen gewesen wäre und die Niederlagen der Roten Armee bis Ende 1941 erklären würden. Allenfalls wird zugestanden, dass Stalin bzw. die Armeeführung einige Fehler gemacht hätten. V.a. das Ignorieren der vielen Warnungen vor einem deutschen Überfall durch Stalin war so offensichtlich, dass sein Versagen kaum geleugnet werden konnte.

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Die Jahrhundert-Katastrophe (Teil 1 von 2)

Hanns Graaf

Vor 80 Jahren, am 22. Juni 1941, überfiel Hitlerdeutschland die UdSSR, unterstützt u.a. von Rumänien, Finnland, Ungarn, Italien und Spanien. Doch statt eines erneuten siegreichen Blitzkriegs, der bis Ende Herbst 1941 die Linie Archangelsk – Astrachan erreichen sollte, zogen sich die Kämpfe an der Ostfront bis Mai 1945 hin und endeten mit der Niederlage Deutschlands.

Obwohl die Wehrmacht auch an anderen Fronten kämpfte (Afrika, Atlantik, Luftkrieg), große Teile Europas besetzt hielt und ab 1944 auch noch mit der Eröffnung der „Zweiten Front“ durch die Westalliierten konfrontiert war, band die Ostfront den Hauptteil der Kräfte Deutschlands. Die Kämpfe im Osten und der Nazi-Terror in den besetzten Teilen der Sowjetunion forderten das Gros der Opfer des 2. Weltkriegs. Über 20 Mill. Sowjetbürger starben an der Front, in Gefangenen- und Arbeitslagern, in KZs oder bei Säuberungsaktionen.

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Die große Metamorphose (Teil 2 von 2)

Hanns Graaf

Was hat sich in reichlich einem Jahrzehnt, in den 1920ern, in der UdSSR verändert? Zunächst konnten die Bolschewiki den Bürgerkrieg siegreich beenden, jede Opposition bekämpfen und ihre Macht sichern. Auf dieser Basis gelang es, bis Mitte der 1920er die Wirtschafts- und Versorgungskrise zu überwinden und zu stabilisieren. Parallel dazu gab es aber einen Niedergang des Sowjetsystems, d.h. der Räte- und Selbstverwaltungsstrukturen des Proletariats. An deren Stelle agierte ein riesiger Partei-Staats-Apparat. So notwendig bzw. unvermeidbar diese Entwicklung unter den komplizierten Startbedingungen Sowjetrusslands auch war – sie stellte eine bedrohliche Abweichung von jenem Weg, von jenen Methoden dar, die zentral für den sozialistischen Aufbau sind: die Selbstorganisation in einem Rätesystem. Anstatt, dass der Staat begann „abzusterben“, weitete er sich immer mehr aus. Dieser Prozess ist aber langfristig notwendig damit verbunden, die Formierung der Arbeiterklasse zum sozialen Subjekt zu blockieren. In den 1920ern bestand noch die Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, Voraussetzung dafür war aber, dass es erkannt und mit den richtigen Mitteln und Methoden überwunden würde. Letztlich bleibt zu konstatieren, dass das Bewusstsein und die Fähigkeiten dafür in ausreichendem Maße weder in der Arbeiterklasse noch in der Partei vorhanden waren. Die geringen Ansätze dazu wurden bekämpft (z.B. durch das Fraktionsverbot von 1921). Schon zu Beginn der 1920er erlangten die Bürokratie und deren Methoden (z.B. Kommissar-Ernennungsprinzip statt Wahl und Kontrolle von unten) ein Übergewicht. Die zentrale Figur dieses Prozesses war Stalin, der sich dafür einen „treuen“ Funktionärsapparat schuf.

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Die große Metamorphose (Teil 1 von 2)

Vom degenerierten Arbeiterstaat zum Staatskapitalismus

Hanns Graaf

Wir bezeichnen Sowjetrussland bzw. die UdSSR bis Ende der 1920er Jahre als degenerierten Arbeiterstaat. Diese Kategorie beschreibt einerseits die Tatsache, dass mit der Oktoberrevolution (bzw. in den Monaten danach) das Kapital enteignet, der bürgerliche Staatsapparat weitgehend zerschlagen wurde und das Proletariat (v.a. in Gestalt der bolschewistischen Partei) die politisch-administrative Macht übernommen hat. Deformiert war der Arbeiterstaat insofern, als sowohl die Rätemacht des Proletariats und dessen Zugriff auf die Produktionsmittel – die industriellen und umso mehr die agrarischen – noch sehr unzureichend entwickelt war. Die Tendenzen zur Bürokratisierung begannen schon 1918/19, tw. aufgrund einer fehlerhaften Konzeption der Bolschewiki („Staatskapitalismus“ in der Wirtschaft, Parteistaat), v.a. aber aufgrund ungünstiger Umstände (Kleinheit des Proletariats, Unterentwicklung seiner sozialen Kompetenzen, Rückständigkeit, Krieg, Bürgerkrieg, Krise, Hunger).

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