Die Jahrhundert-Katastrophe (Teil 1 von 2)

Hanns Graaf

Vor 80 Jahren, am 22. Juni 1941, überfiel Hitlerdeutschland die UdSSR, unterstützt u.a. von Rumänien, Finnland, Ungarn, Italien und Spanien. Doch statt eines erneuten siegreichen Blitzkriegs, der bis Ende Herbst 1941 die Linie Archangelsk – Astrachan erreichen sollte, zogen sich die Kämpfe an der Ostfront bis Mai 1945 hin und endeten mit der Niederlage Deutschlands.

Obwohl die Wehrmacht auch an anderen Fronten kämpfte (Afrika, Atlantik, Luftkrieg), große Teile Europas besetzt hielt und ab 1944 auch noch mit der Eröffnung der „Zweiten Front“ durch die Westalliierten konfrontiert war, band die Ostfront den Hauptteil der Kräfte Deutschlands. Die Kämpfe im Osten und der Nazi-Terror in den besetzten Teilen der Sowjetunion forderten das Gros der Opfer des 2. Weltkriegs. Über 20 Mill. Sowjetbürger starben an der Front, in Gefangenen- und Arbeitslagern, in KZs oder bei Säuberungsaktionen.

Der Krieg gegen die UdSSR stellte auch eine neue Qualität des Inhumanen dar. Per Führerbefehl – in Kenntnis und mit Unterstützung der Wehrmacht – war das „Unternehmen Barbarossa“ bewusst als Ausrottungsfeldzug nicht nur gegen Kommissare und Juden, sondern gegen die „slawischen Untermenschen“ angelegt. Die Regeln der „zivilisierten“ Kriegführung wurden missachtet. Der von den Nazis geschürte Rassismus und Chauvinismus hatte dafür die ideologische Basis geschaffen und Millionen von „willigen Vollstreckern“ erzeugt.

Es ist ein Skandal und zeigt, wessen Geistes Kind das politische Establishment der deutschen Demokratie auch heute noch ist, wenn ein offizielles Gedenken an diesen Tag abgelehnt wird, z.B. durch den Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble (CDU). Doch schon Jahre zuvor, z.B. im „Historiker-Streit“ der 1980er, wurden die Schuld Deutschlands am 2. Weltkrieg (in Europa) und dessen Aggression gegen die UdSSR mitunter als „Präventivschlag“ dargestellt oder die Fortführung des längst verlorenen Krieges damit begründet, dass die deutsche Bevölkerung vor dem „roten Terror“ geschützt werden sollte. Aber: was war mit den Leben der Millionen von ZwangsarbeiterInnen und KZ-Häftlingen?!

Allerdings war es falsch, wie damals etwa die Linken Rudolf Augstein oder Jürgen Habermas pauschal behaupteten, dass die in der Historiker-Debatte involvierten „rechten“ Historiker die Verbrechen des Faschismus nur relativiert oder gar verteidigt hätten. Diese Art „linker“ Kritik beruhte – wie so oft bei der Linken – nicht auf seriöser Analyse und einer proletarischen Klassenposition, sondern war eher moralisierend und kaum analytisch untermauert.

Dieser Beitrag widmet sich im ersten Teil der Frage des Klassencharakters der UdSSR und deren Innen- und Außenpolitik und legt dar, warum es sich beim Konflikt zwischen Nazideutschland und der UdSSR um einen Krieg zwischen – wenn auch strukturell verschiedenen – kapitalistischen Staaten handelte und nicht um einen Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Im zweiten Teil betrachten wir dann das militärische Kräfteverhältnis zwischen Deutschland und der Sowjetunion im Jahr 1941 und stellen die Frage, warum die UdSSR damals an den Rand einer Niederlage geriet.

Stalins Regime …

Bis Ende der 1920er Jahre und nach vielen grundsätzlichen politischen, ideologischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen hatten sich Stalin und die Bürokratie im Partei- und Staatsapparat sowie in den nur von der Parteispitze bzw. Stalin selbst abhängigen Sicherheitsorganen die gesamte Macht angeeignet. Die Arbeiterklasse war politisch entmündigt, ideologisch indoktriniert und durch den Terror, der sich in den 1930ern noch intensivierte, eingeschüchtert. Jede Opposition war zerschlagen, später sogar physisch vernichtet worden. Die Partei, der Staats- und Sicherheitsapparat und das Justizwesen wurden mehrmals gesäubert und personell wie ideell völlig verändert. Das Sowjetsystem existierte zwar formal noch, doch die administrativen Entscheidungen fielen nur noch im Staatsapparat, der von der Partei beherrscht wurde, bzw. direkt im Politbüro. Neben dieser politischen Entmachtung war das Proletariat aber längst auch sozial enteignet, alle wesentlichen Entscheidungen für Wirtschaft und Gesellschaft oblagen der „separaten“ Bürokratie und nicht den ProduzentInnen und KonsumentInnen und deren Organen.

Insofern war die UdSSR ab den 1930ern kein „degenerierter Arbeiterstaat“ mehr, als den ihn Trotzki weiterhin ansah, sondern ein staatskapitalistisches Gebilde, das auf der Ausbeutung von Lohnarbeit, der Entmündigung und Unterdrückung der Massen beruhte. Solange diese noch einen relevanten Einfluss auf den Staatsapparat und die Gesellschaft hatten, konnte von einem „degenerierten Arbeiterstaat“ gesprochen werden. Doch bis Ende der 1920er war dieser Einfluss eliminiert worden. Zugleich wies die sowjetische Gesellschaft aber auch deutliche Unterschiede zum westlichen „Privatkapitalismus“ auf. Der wesentliche Unterschied bestand darin, dass der Westen auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln beruhte, die UdSSR hingegen auf Staatseigentum. In beiden Formen war aber das Proletariat nur Objekt, nicht Subjekt der sozialen Entwicklung. Von der Marx´schen Prämisse, dass die Produktionsmittel dem genossenschaftlich „assoziierten“ Proletariat gehören sollten, konnte keine Rede sein.

… und seine Außenpolitik

Nach außen agierte die UdSSR – entsprechend ihrer gewachsenen ökonomischen und militärischen Potenzen – zunehmend als imperialistische Macht. Diese Abwendung von der Politik der Bolschewiki Lenins war Ausdruck der national-bornierten Interessen der Moskauer Bürokratie und ihres Bestrebens, sich das Proletariat unterzuordnen und als selbstständigen Faktor auszuschalten. 1936 engagierte sich Stalin – allerdings verspätet und zögerlich – an der Seite der Spanischen Republik, die gegen Franco kämpfte. Doch die Sowjetunion, damals die größte Militärmacht der Welt, schickte Spanien nur eine sehr geringe Zahl von Panzern und Flugzeugen und einige Spezialisten. Dafür sicherte man sich – in Kooperation mit der spanischen KP – den Oberbefehl über die republikanischen Streitkräfte. Deren Führung erwies sich aber nicht nur wiederholt als unfähig, sie führte auch einen Unterdrückungsfeldzug gegen die Linken (Anarchisten, POUM u.a.) und deren anti-kapitalistischen Kurs (Enteignungen, Kollektivierungen). Dafür presste Stalin Spanien noch dessen umfangreiche Goldreserven ab.

Die Volksfrontpolitik, die ab 1934 auf Druck von Moskau von allen „kommunistischen“ Parteien umgesetzt wurde, zielte auf die Schaffung eines klassenübergreifenden Blocks, ja Regierungsbündnisses (!) mit den „antifaschistischen“, „demokratischen“ Teilen der Bourgeoisie. Damit diese überhaupt mitmachen, wurde ihnen zugesichert, auf die Enteignung des Privateigentums und die Errichtung der Arbeitermacht zu verzichten. Diese Strategie war jener der Bolschewiki von 1917 völlig entgegengesetzt. Damals wurde die bürgerliche Regierung Kerenskis gestürzt, in einer sehr ähnlichen revolutionären Situation in Spanien trat die KP hingegen in die bürgerliche Volksfrontregierung ein und verfolgte ein rein bürgerliches Programm.

Diese klar konterrevolutionäre Strategie Stalins setzte nicht auf die antikapitalistische Mobilisierung des Proletariats, sondern auf Bündnisse mit der Bourgeoisie. Natürlich sind bestimmte „Bündnisse“ bzw. Kompromisse oft notwendig, doch diese dürfen nie damit verbunden sein, revolutionäre Chancen zu vergeben – für zweifelhafte Zusicherungen seitens des Imperialismus und größere Einflusssphären. Genau das war aber der Inhalt der Stalinschen Volksfrontpolitik.

Das Jahr 1939

Im August 1939, als sich ein Krieg Deutschlands gegen Polen schon klar abzeichnete, schlossen Hitler und Stalin einen Geheim-Pakt und sogar einen offiziellen Freundschaftsvertrag (!) ab. Darin versicherte Stalin Hitler nicht nur, sich bei einem Überfall auf Polen „neutral“ zu verhalten, man vereinbarte auch, dass sich Stalin den östlichen Teil Polens einverleiben könne. Ohne Frage hätte Hitler ohne diese Zusicherung – und angesichts der Gefahr eines Mehrfrontenkrieges und seiner 1939 noch begrenzten ökonomischen und militärischen Kapazitäten – den Krieg nicht beginnen können oder hätte ihn schon damals verloren.

Die Besetzung Ostpolens durch die Rote Armee wurde von Trotzki als fortschrittlich eingeschätzt, obwohl er die bürokratische Form dieses „sozialen Umsturzes“ – der in Wahrheit das Überstülpen des Staatskapitalismus war – kritisierte. Tatsächlich handelte es nur um eine mit Terror gegen die Zivilbevölkerung verbundene Eroberung. Ob diese Region früher einmal zu Polen oder zu Russland gehört hat, ist dabei zweitrangig. Man könnte die Annexion Ostpolens durch die UdSSR noch als Maßnahme ansehen, um diesen Teil Polens vor dem Zugriff des deutschen Faschismus zu bewahren. Doch selbst dann hätte den Polen das Selbstbestimmungsrecht – bezüglich der sozial-ökonomischen Ordnung wie bezüglich ihrer Staatlichkeit (Teil der UdSSR oder Selbstständigkeit) gewährt werden müssen. Das war jedoch nicht der Fall. Auch der Vergleich mit dem Krieg zwischen Polen und Sowjetrussland 1920 hinkt, denn damals hatte Polen angegriffen und die Rote Armee führte einen Gegenangriff, außerdem war Sowjetrussland damals noch ein Arbeiterstaat.

Dass es Stalin nicht darum ging, in Ostpolen den Sozialismus einzuführen, zeigt sich schon daran, dass 1938, als es einen Aufschwung der antifaschistischen Bewegung in Polen gab, alle kommunistischen Organisationen Polens auf Geheiß Stalins und der Komintern aufgelöst und viele ihrer FührerInnen und Kader in der UdSSR liquidiert wurden. Auch das Bekämpfen und Ausrotten von Teilen der polnischen Intelligenz durch den Geheimdienst NKWD (Katyn!) war sicher kein Beitrag zur sozialistischen Entwicklung Polens. Bis Juni 1941, in nur anderthalb Jahren, wurden aus den von der UdSSR besetzten polnischen Gebieten über eine Million Menschen nach Osten deportiert, wo viele umkamen.

Imperialismus

Nach dem Anschluss Ostpolens führte Stalin seine aggressive Außenpolitik weiter. Sein Pakt mit Hitler gab ihm auch freie Hand im Baltikum. Ab Oktober 1939 und in der Folgezeit wurden Estland, Litauen und Lettland von Stalin permanent erpresst, sie mussten u.a: Truppenstationierungen zustimmen. Letztlich wurden alle drei Staaten in die UdSSR eingegliedert. Obwohl es dort durchaus in der Linken und der Arbeiterklasse eine begrenzte Zustimmung für die Politik des Kremls gab, war eine klare Mehrheit der Bevölkerung gegen die erzwungene „Eingemeindung“. Schon bald zeigte sich, dass diese Ablehnung reale Gründe hatte: in wenigen Monaten wurden Hunderttausende verhaftet, evakuiert oder getötet.

Ende November 1939 überfiel die Rote Armee dann ohne Anlass Finnland mit dem Ziel, es komplett zu besetzen und der UdSSR anzugliedern. Der „Winterkrieg“ endete am 13. März 1940, doch Moskau erreichte seine Ziele nicht. Zur Erinnerung: 1918 wurde Finnland, das bis dahin zu Russland gehört hatte, die Eigenstaatlichkeit zuerkannt. Unter Lenin wurde das Selbstbestimmungsrecht der Nationen noch ernst genommen und meist verwirklicht – auch unter den sehr komplizierten Bedingungen des Bürgerkriegs. Stalin, der ehemalige Volkskommissar für Nationalitätenfragen, verwarf diese bolschewistischen Prinzipien und ersetzte sie durch eine krude nationalistisch-imperiale Raubpolitik.

Der heroische Widerstand der Finnen stoppte die Rote Armee und brachte ihr große Verluste bei. Hinter vorgehaltener Hand sagten die Russen, man habe genug Raum erobert, um die Gefallenen zu beerdigen. Die finnische Schlappe Stalins nährte auch die Ansicht Hitlers, dass die Kampfkraft der Roten Armee nur gering sei.

Das Debakel in Finnland war tatsächlich auch Ergebnis der Schwächung und Desorientierung der Roten Armee durch den Stalin-Terror, der ab 1937 unerhörte Dimension angenommen hatte. Der größte Teil aller Kommandeure, darunter die Mehrzahl erfahrene und erfolgreiche Militärführer aus dem Bürgerkrieg, wurde eliminiert und durch militärisch ungebildete, aber gehorsame Offiziere ersetzt. Die Militärdoktrin, die unter Tuchatschewski u.a. Militärs die fortschrittlichste der 1920/30er Jahre war, wurde durch sich kurzfristig ändernde Konzepte ersetzt. Anstatt einer bewussten und zugleich schöpferischen militärischen Disziplin beherrschten nun Angst und Kadavergehorsam die Kommandeure, was sich im Krieg gegen Deutschland noch fatal auswirken sollte.

Stalin setzte nicht wie die Bolschewiki auf die internationale Ausweitung der proletarischen Revolution, sondern auf die Macht seiner Panzer und auf die Schergen des Geheimdienstes NKWD. In den eroberten Gebieten erfolgte keine soziale Umwälzung wie 1917 in Sowjetrussland mit der Enteignung der Bourgeoisie und der Errichtung eines Arbeiter-Räte-Systems (Sowjetsystem); stattdessen wurde zwar das Kapital bürokratisch von oben enteignet, aber nicht das Proletariat erlangte den Zugriff auf die Produktionsmittel, sondern der bürokratische Staat, auf den die Massen mangels Rätestrukturen keinen Einfluss hatten. In der UdSSR hingegen musste die Arbeiterklasse erst wieder enteignet und von der Macht vertrieben werden, damit die Bürokratie ihre Herrschaft etablieren konnte. In den ab 1945 entstehenden Ostblockstaaten war das nicht nötig, weil hier die Moskauer Bürokratie und ihre nationalen KP-Satrapen von Beginn an die Macht inne hatten.

Charakter des Krieges

Angesichts dieser Fakten ist die Ansicht, es hätte sich beim Krieg zwischen Deutschland und der UdSSR um einen Krieg gegen den „Sozialismus“ gehandelt, falsch. Anders als im Bürgerkrieg von 1918-21, als die Rote Armee tatsächlich den jungen Arbeiterstaat gegen die innere und äußere Konterrevolution verteidigt hatte, schützte sie nun ein undemokratisches, ja terroristisches staatskapitalistisches Regime. Dieses repräsentierte längst nicht mehr die „Heimat des Kommunismus“, sondern war für die Arbeiterbewegung und den Kommunismus ein tödlicherer Feind als selbst der Hitler-Faschismus. Nicht nur die Zahl der Opfer der stalinschen Säuberungen und seiner konfusen, größenwahnsinnigen und desaströsen Wirtschaftspolitik – allein die Zwangskollektivierung forderte 5-10 Mill. Hungertote – war riesig; noch dramatischer war die Deformation, ja Zerstörung der kommunistischen Weltbewegung und des Ansehens des Sozialismus als humanistischer Alternative zum Kapitalismus weltweit.

Während unter Lenin der 1. Weltkrieg Anlass war, den Sturz des Kapitalismus auf die Tagesordnung zu setzen und die Kommunistische Internationale (Komintern) zu gründen, verfolgte Stalin vor und im 2. Weltkrieg die Strategie eines strategischen „Volksfrontbündnisses“ mir dem „demokratischen“ Kapitalismus und boykottierte dafür alle revolutionären Anstrengungen des Proletariats: in den 1920ern in China, ab 1936 in Spanien, ab 1944/45 in Frankreich und Italien, 1946 in Griechenland. 1943, als die Niederlage Deutschlands schon feststand, löste Stalin auch die Komintern, den früheren „Generalstab der Weltrevolution“ auf.

Als die Wehrmacht 1941 in die Sowjetunion einfiel, wurden die Deutschen in den von Stalin okkupierten baltischen Republiken und in der Ukraine oft als Befreier begrüßt. Das allein zeigt schon, was die Bevölkerung dort von Stalins „Sozialismus“ hielt. Erst die Raub- und Terrorherrschaft der deutschen Besatzer führte dazu, dass sich die Einstellung der Bevölkerung änderte und in Hass und Widerstand gegen die Deutschen umschlug. Hätte Hitler den eroberten Gebieten wenigstens zeitweilig eine Art Teilsouveränität gewährt und auf den Terror gegen Juden und Funktionäre, auf die massenhaften Zwangsdeportationen und das absichtliche Verhungern lassen vom hunderttausenden Kriegsgefangenen „verzichtet“, wäre es zweifellos zu einer massiven „einheimischen“ Bewegung (auch militärisch) gegen das Stalin-Regime gekommen. Diese Einschätzung vertrat vor dem 22. Juni 1941 z.B. auch die deutsche militärische Abwehr unter Admiral Canaris (der später zum Hitlergegner wurde und im KZ umkam). Canaris und einige ganz wenige andere NS-Funktionäre lehnten einen Krieg gegen die UdSSR als nicht gewinnbar ab. Letztlich obsiegte aber der Irrationalismus Hitlers. Dieser war ein wichtiger Faktor dafür, dass sich Stalin halten und den Krieg gewinnen konnte. Der andere war der Wille zur Selbstverteidigung der Völker der UdSSR, die vom deutschen Faschismus nur noch mehr Ausbeutung und Unterdrückung zu erwarten hatten. Es war kein Zufall, dass Stalins Propaganda nicht die Verteidigung des Sozialismus und die Weltrevolution betonte, sondern auf die nationalen Gefühle setzte.

Beispiel Ukraine

Auch Trotzki erkannte die Sprengkraft der nationalen und sozialen Unterdrückung durch Stalin und legte das u.a. 1939 in einem Artikel zur Ukraine dar: „Die Bürokratie unterdrückte und plünderte das Volk auch in Großrussland aus. Aber in der Ukraine komplizierte sich die Angelegenheit durch die Zerstörung nationaler Hoffnungen. Nirgendwo haben Unterdrückung, Säuberungen, Repressalien und überhaupt alle Formen des bürokratischen Rowdytums derart mörderische Ausmaße angenommen wie im Kampf gegen das machtvolle, tief verwurzelte Streben der ukrainischen Massen nach mehr Freiheit und Unabhängigkeit.“

Trotzki konstatiert: „Die Arbeiter- und Bauernmassen in der Westukraine, der Bukowina und der Karpato-Ukraine sind desorientiert: Wohin soll man sich wenden? Was soll man fordern? In dieser Situation gerät die Führung natürlich in die Hände der reaktionärsten ukrainischen Cliquen, deren »Nationalismus« sich darin ausdrückt, das ukrainische Volk mit dem Versprechen einer fiktiven Unabhängigkeit an den einen oder anderen Imperialismus zu verkaufen.“ (vgl. die aktuelle Politik der Herrschenden in der Ukraine).

Trotzki plädiert dafür, dass – solange es keinen Sturz der Bürokratie gab – eine Lostrennung der Ukraine von der UdSSR besser wäre als deren weitere Unterdrückung, die v.a. bürgerlich-antisozialistische Ressentiments schüren musste, was ja auch der Fall war: „Das Programm für die Unabhängigkeit der Ukraine ist in der Epoche des Imperialismus unmittelbar und unlösbar mit dem Programm der proletarischen Revolution verbunden“. Trotzki trat also nicht nur für eine unabhängige Ukraine ein, sonder immer für eine Sowjet-Ukraine, d.h. für eine auf nicht-kapitalistischen Verhältnissen beruhende.

Tatsächlich kämpften noch bis Anfang der 1950er Jahre bürgerlich-nationalistische militärische Verbände in der Ukraine gegen das Regime (wie auch in geringerem Umfang in den baltischen Republiken).

Strategie: Stalin vs. Lenin

Im 1. Weltkrieg trat Lenin für die Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen revolutionären Bürgerkrieg zum Sturz der eigenen Bourgeoisie ein – im Gegensatz zur Unterstützung der Sozialdemokratie für ihre eigene Bourgeoisie. Im 2. Weltkrieg plädierte dann Trotzki (der schon 1915 mit Lenin u.a. internationalistischen Linken gegen den Krieg gekämpft hatte) für diese Position. Allerdings macht er den Fehler, die UdSSR auch noch ab den 1930ern als „degenerierten Arbeiterstaat“ zu betrachten, der in jedem Fall als „fortschrittlichere Gesellschaft“ militärisch verteidigt werden müsse. Diese Position koppelte er aber mit der Forderung des Sturzes der Stalin-Bürokratie durch eine Revolution, die er aber nur als politische, nicht als soziale verstand, weil er das Staatseigentum mit der wirklichen Verfügung der Arbeiterklasse über die Produktionsmittel „verwechselte“. So war die Position Trotzkis und der TrotzkistInnen innerlich widersprüchlich.

So richtig es war, sich gegen den Faschismus als die damals aktuell größte Gefahr auch militärisch zu verteidigen, so falsch war es, sich dabei den „antifaschistischen“ bürgerlichen Kräften unterzuordnen und auf antikapitalistisch-revolutionäre Ziele zu verzichten. Gerade das aber wurde den zum großen Teil kommunistisch geführten Partisanenbewegungen z.B. in Frankreich, Italien oder Griechenland von Moskau aufgedrängt. Trotzdem hielten viele KommunistInnen entgegen dieser Orientierung an ihren sozialistischen Zielen fest. Sie kämpften – wie z.B. 1946 in Griechenland – und wurden von Stalin im Stich gelassen. In Italien und Frankreich traten die KPen in die bürgerliche Regierung ein und halfen mit, den Kapitalismus wieder zu stabilisieren. Als dieser gesichert war, hatte der „kommunistische“ Mohr seine Schuldigkeit getan und wurde abserviert.

Als der Faschismus 1944/45 geschlagen war, entstand die bi-polare Nachkriegsordnung: im Westen stabilisierte sich der Privatkapitalismus, meist in bürgerlich-demokratischer Form, im Osten herrschte der fast aller demokratischen Rechte entledigte Staatskapitalismus. Diese Weltordnung aus zwei konterrevolutionären Blöcken kollabierte dann 1989/90 durch den Zusammenbruch des Stalinismus, dem fast überall wieder der Einzug des „normalen“ Privatkapitalismus folgte. Dabei erwies sich meist ein Flügel oder sogar das Gros der Bürokratie als treibende Kraft und Nutznießer dieses Restaurationsprozesses.

Die Niederlage des Faschismus beendete den globalen Massenmord und war eine Erlösung für die Menschheit. Doch die Sieger repräsentierten selbst nur verschiedene Varianten des Kapitalismus, der auf Ausbeutung und Unterdrückung beruht, immer neue Kriege und Krisen erzeugt und oft diktatorische, halb-faschistische Regime hervorbringt. Das Jahr 1945 ging nicht mit einer neuen revolutionären Welle einher, sondern mit einer konterrevolutionären Stabilisierung. Deren Hauptakteure in der Arbeiterbewegung waren die Sozialdemokratie und der Stalinismus. Ihre durchaus ähnlichen Strategien – die Unterordnung unter die Herrschenden und die Ablehnung der rätedemokratischen Selbstorganisation des Proletariats – desorientierten die Arbeiterklasse und ihre politische Vorhut. Der Preis, den Sozialdemokratie und Stalinismus selbst dafür bezahlen mussten, ist ihr eigener Niedergang. Es ist hohe Zeit, eine neue revolutionäre Bewegung aufzubauen!

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