Hanns Graaf
Die Bundestagswahlen am 23. Februar 2025 sind Ausdruck der Krise. Schon der Umstand, dass die Ampel-Regierung kollabiert ist und die Neuwahlen vorgezogen werden mussten, ist ein Zeichen dafür. Die Ampel ist auf ganzer Linie gescheitert und hat die krisenhafte Entwicklung, die schon unter Merkel erfolgte, noch vertieft. Wichtige Strukturreformen, z.B. die Digitalisierung, wurden verschlafen. Der Bürokratismus nahm zu. Die wirtschaftlichen Grundlagen des Landes, eine effiziente Industrie und innovative Forschung und Wissenschaft, wurden unterhöhlt. Die Infrastruktur, die Bildung, die Sicherung kommunaler Aufgaben wurden vernachlässigt. Faktoren dabei waren u.a.: die unsinnigen Corona-Lockdowns, die absurde Klima- und Energiepolitik, die die Energiekosten explodieren ließ, die Kosten der Massenmigration und v.a. die Rüstung und der Ukrainekrieg.
Dahin dümpelnde industrielle Wachstumsraten, die Abwanderung von Unternehmen, Zurückhaltung von Investitionen und zunehmend auch Entlassungen – bei gleichzeitigem Mangel an qualifiziertem Personal – prägen das Bild. Die Merkel-Regierungen und die Ampel haben das Land ruiniert.
Wir erleben aber auch eine Krise des Parteiensystems. Die massenhafte Enttäuschung über die Ampelparteien geht einher mit dem Abwärtstrend der Linkspartei und dem Aufschwung der AfD. Besonders die reformistischen Parteien leiden an wohlverdienter Auszehrung. Der SPD laufen seit Jahrzehnten Mitglieder und Wähler davon. Arbeiter stellen nur noch eine Minderheit ihrer Mitglieder, das Gros stellen (Staats)beamte. Auch die LINKE hat fast ihre gesamte proletarische Basis verloren. Während man die SPD aufgrund ihrer Verbindungen zum Gewerkschaftsapparat und zur Sozialbürokratie noch (!) als bürgerliche Arbeiterpartei (bürgerliche Politik, „proletarisch“ v.a. durch ihre Verbindung zum Gewerkschaftsapparat) bezeichnen kann, ist die LINKE nur noch eine links-bürgerliche Partei. Das BSW hat überhaupt (noch) keine Verankerung im Proletariat. CDU/CSU werden die Wahlen wahrscheinlich gewinnen, obwohl auch sie nur etwa dieselben Werte haben wie früher und sich nicht etwa in einem Aufschwung befindet.
Die „Volksparteien“ CDU und SPD sind kaum noch in der Lage, wie früher eine stabile Regierung zu bilden. Daher ist eine erneute Dreier-Koalition aus CDU, SPD plus X wahrscheinlich. Da FDP, LINKE und BSW an der 5%-Hürde scheitern könnten, bleiben evtl. nur die Grünen als Dritter im Bunde übrig. Die Absage an die Grünen v.a. durch die CSU verweist schon jetzt auf den Sprengstoff dieser Kombination.
Wie auch immer das Ergebnis aussehen wird: Wir bewegen uns auf Weimarer Verhältnisse zu. Instabile Regierungen und ein bewegteres politisches Spektrum werden das Bild prägen. Das widerspiegelt die stärkere soziale und politische Polarisierung der Gesellschaft und die größeren Turbulenzen in der Welt.
Rechtstrend
Weltweit legen rechte Parteien zu. In Deutschland ist die AfD im Aufwind. Es greift jedoch viel zu kurz, die AfD nur als „rechts“ – ein durchaus verschwommener Begriff – zu bezeichnen. Dabei wird nämlich meist ausgeblendet, dass sie in bestimmten Fragen eine in Teilen durchaus korrekte Kritik an der Politik der regierenden „seriösen“ Parteien hat.
Es ist bezeichnend, dass es trotz des kompletten Desasters der Ampel nur relativ wenig Protest gegen sie gab. Warum? 1. weil es keine linke Opposition gab. Die Linkspartei verblieb in einer passiven Rolle aus Unterstützung der Ampel (Klima, Energie, Corona, Atomausstieg usw.) und halbherziger Kritik (Ukraine). Die Gewerkschaften begnügten sich mit vereinzelten Streiks für einen teilweisen Inflationsausgleich, organisierten aber keinen (politischen) Generalstreik. Die Ukraine-Politik und die Aufrüstung wurden vom DGB hingenommen oder gar unterstützt. 2. agierten die Medien fast ausnahmslos als Lautsprecher der Ampel und hatten mit ihrer Politik der Verblödung, der Staatstreue und Gleichschaltung fraglos Erfolg, um die Mehrheit an die Ampel zu binden.
Ein wichtiger Faktor war auch die Anti-Rechts-Kampagne, die von der Union, den Ampelparteien, der linken Szene usw. getragen wurde und sich v.a. gegen die AfD richtete. Das Desaster aus Inflation, Aufrüstung, Kriegspolitik und Demokratieabbau hat zwar die Ampel-Regierung zu verantworten, doch die Anti-Rechts-Kampagne lenkte davon ab, indem die absurde Gefahr des durch die AfD drohenden Faschismus oder eines „Putsches“ durch die Reichsbürger an die Wand gemalt wurden. Keine mediale Kampagne war blöd genug, um diese Gefahr zu „illustrieren“. Wir denken hier nur an den Hype um die „Remigration“ und das Treffen einiger Rechter in Potsdam, über das detailliert berichtet wurde, obwohl nicht ein journalistischer „Faktenchecker“ dabei war.
Es ist bezeichnend, dass auch das Gros der linken Szene auf dieses absurde Anti-Rechts-Theater reingefallen ist. Das ist aber nicht überraschend, weil sie schon seit Jahren auf „linke“ bürgerliche Trends abfährt (Klima, Energie, Anti-Kernkraft, Wokeness usw.). Am deutlichsten wird das in der Frage des Ukrainekriegs. Hier hat die AfD eine zwar bürgerliche, aber in bestimmten Fragen stringentere Position als die Ampelparteien und die Union, aber auch im Vergleich zur Linkspartei und zum BSW.
Die AfD wird als mehr oder weniger „faschistoid“ bezeichnet. Das ist falsch! Sie hat zwar einen rassistisch-völkischen Flügel und Verbindungen zur rechtsradikalen Szene, doch eine faschistische oder verfassungsfeindliche Partei ist sie nicht. Solche völlig übertriebenen Einschätzungen sind a) Resultat einer bewussten Kampagne von Politik und Medien und b) einer völlig oberflächlichen und ahistorischen Auffassung des Faschismus. Sie dienen nur der Ablenkung vom Klassenkampf und dem Machterhalt der bürgerlichen „Mainstream-Parteien“.
Die AfD ist eine konservative Partei, die aber eine andere Strategie verfolgt als die Ampel-Parteien und die Union. Während die AfD eher das Kleinbürgertum, also die auf dem nationalen Markt operierenden Milieus und Kapitale vertritt, dienen die anderen Parteien dem Groß- und Finanzkapital, den Export-orientierten Dax-Konzernen. Aus diesem Interessengegensatz resultiert auch die sehr unterschiedliche Politik zur EU, zum Euro, zu Europa und zur Ukraine.
Es ist absurd, die „normalen“ bürgerlichen Parteien zu wählen, um die AfD zu stoppen, wenn diese selbst immer mehr deren Politik umsetzen oder in bestimmten Fragen (Energiepolitik, Ukraine) noch deutlich reaktionärer agieren. Genauso absurd ist es, die Ampel und die Union durch eine reaktionäre, nationalistische und neoliberale AfD-Regierung zu ersetzen. Die Traufe ist so wenig eine Alternative zum Regen wie umgekehrt.
Warum wählen?
Manche Linke folgen bei Wahlen dem Motto „Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten“. Das stimmt insofern, als die Parteien gar nicht die Absicht haben, das kapitalistische System in Frage zu stellen, selbst wenn sie – wie die Linkspartei – den Kapitalismus manchmal in Sonntagsreden überwinden wollen. Sogar wenn sie diesen offen ablehnen – wie kleinere linke Organisationen wie DKP oder MLPD – verfügen sie weder über die soziale Kraft noch über ein Konzept, um das zu bewerkstelligen.
Immerhin ändern Wahlen aber etwas daran, wer regiert und welcher bürgerlichen Strategie man folgt. Das hat oft große Auswirkungen in ökonomischer, sozialer oder geopolitischer Hinsicht. Denken wir nur an solche Projekte wie die Agenda 2010 oder die Energiewende, die ohne eine SPD an der Regierung (Agenda) bzw. ohne den Einfluss der Grünen (Energiewende) sicher so nicht hätten umgesetzt werden können.
Es ist nicht egal, wer regiert. Die SPD hatte 1998 eine sozialere Politik versprochen – sie wurde in der zweiten Legislaturperiode abgewählt, weil sie ihre Versprechen gebrochen hatte. Es entstanden die Montagsdemonstrationen und die WASG. Dass aus dieser Krise des Reformismus und den oppositionellen Ansätzen nicht mehr anti-kapitalistisches Kapital geschlagen wurde, lag v.a. an der Schwäche und Unfähigkeit der radikalen Linken. Schröders Politik hatte gerade das traditionelle SPD-Klientel getroffen. Eine Folge war, dass sich Millionen Mitglieder und Wähler enttäuscht von der SPD abwendeten. Dasselbe Problem hatten die Grünen als Koalitionspartner der SPD nicht, weil sie sich nicht wie die SPD auf die Lohnabhängigen und die Gewerkschaften stützen, sondern v.a. auf die lohnabhängige Mittelschicht.
Die Position „Wahlen ändern nichts“ und die Schlussfolgerung der Wahlenthaltung greifen also zu kurz. Wahlen sorgen für mehr politisches Interesse. Zweifellos ist eine solche Politisierung, d.h. das Nachdenken über das „Gemeinwesen“ und seine weitere Entwicklung, gut. Viel schlimmer wäre ja ein völliges Desinteresse. Der Wahlkampf bietet zudem antikapitalistischen Kräften bessere Propaganda-Möglichkeiten.
All das zeigt: Wahlen und ihre Ergebnisse können auch für den Klassenkampf und den Aufbau klassenkämpferischer und revolutionärer Strukturen genutzt werden. Ignoranz oder Abstinenz sind die falschen Rezepte.
Wen wählen?
Es war früher ein Selbstverständlichkeit für die Arbeiterbewegung, keine bürgerliche Partei zu wählen und sich nicht an bürgerlichen Regierungen zu beteiligen. Mit der Durchsetzung des Reformismus in der Arbeiterbewegung wurden diese Positionen über Bord geworfen. Das Ergebnis dieser Strategieänderung war aber nicht etwa ein parlamentarisch-evolutionärer Weg zum Sozialismus, ja noch nicht einmal ein reformierter Kapitalismus. Das Ergebnis waren zwei Weltkriege, die nicht verhindert wurden, der Holocaust u.a. Verbrechen – und reihenweise vergebene revolutionäre Möglichkeiten. Die Politik des Reformismus hat v.a. auch die Arbeiterbewegung ruiniert und ins System eingebunden. Doch diese Siege des sozialdemokratischen Reformismus (und des Stalinismus) waren Pyrrhussiege. Das Mitregieren von SPD und Linkspartei hat ihnen selbst massiv geschadet: sie haben ihre Verankerung in der Arbeiterklasse, ihre proletarischen Mitglieder und Wähler weitgehend verloren. Trotzdem folgt auch das BSW wieder dieser desaströsen Methode – und wird deshalb auch dasselbe Fiasko erleben wie seine Vorgänger.
Es dürfte klar sein, dass die rein bürgerlichen Parteien – CDU/CSU, FDP, Grüne – nicht gewählt werden können. Sie stehen (bei marginalen positionellen Unterschieden) für Aufrüstung, Sozialabbau, Kriegspolitik und Unterordnung unter die US- und NATO-Hegemonie. Waren die Grünen früher punktuell (!) noch für fortschrittliche Anliegen, u.a. für Umweltschutz, unterwegs, sind sie inzwischen eine offen reaktionäre Kraft, die v.a. dafür gesorgt hat, dass pazifistische und linkere Milieus für den aggressiven NATO-Kurs gewonnen wurden, anstatt noch wie früher dagegen aufzutreten. Leute wie Habeck oder Baerbock zu unterstützen heißt, besondere Versager und weltfremde Selbstdarsteller zu unterstützen, deren Unwissenheit und ideologische Verbohrtheit nahezu grenzenlos und sehr gefährlich sind.
Der Reformismus
Etwas anders liegt die Frage bei der SPD und der LINKEN. Sie standen bisher für eine, wenn auch sehr begrenzte, reformistische Politik und galten (wenn auch zu unrecht) als Interessenvertreter der Lohnabhängigen. Ihre wahre Funktion für das Kapital ist, die Arbeiterklasse (anders als etwa die FDP oder die Grünen) v.a. über die Gewerkschaftsapparate zu dominieren, zu zähmen und ins System einzubinden. Diese Fähigkeit büßen sie aber immer mehr ein, weil die Lohnabhängigen zunehmend erkennen, dass die rein parlamentarisch-kompromißlerische Politik nicht in der Lage ist, etwas für sie zu erreichen – im Gegenteil: SPD und LINKE werden zunehmend als Teil des Establishments wahrgenommen.
War es früher – angesichts des Fehlens einer relevanten klassenkämpferischen Kraft – oft noch sinnvoll, SPD und/oder die Linkspartei kritisch (!) bei Wahlen zu unterstützen, Forderungen an sie zu stellen und Widerstand aufzubauen, so macht diese Wahltaktik aktuell keinen Sinn. SPD und LINKE mobilisieren nicht, v.a. die LINKE hat auch keine relevanten Verbindungen mehr zur Arbeiterklasse. Nicht nur die SPD als einer der Hauptakteure der komplett reaktionären und irrationalen Politik der letzten Jahre ist nicht wählbar, auch die LINKE nicht. Sie trägt reaktionäre, massenfeindliche und ruinöse Projekte (Klima, Energie usw.) mit, ihr Wille und ihre Fähigkeit, zu mobilisieren, geht gegen Null. Wie die Praxis der LINKEN in den Landesregierungen immer wieder zeigt, zerschellen ihre – ohnehin bescheidenen – „alternativen“ Ambitionen regelmäßig an den realen Strukturen und Machtverhältnissen. Mitunter agiert die LINKE dabei lokal sogar selbst als Vorreiter neoliberaler Projekte wie der Wohnraumprivatisierung in Berlin, wo sie auch an der Demobilisierung und parlamentarischen „Entsorgung“ der Bewegung „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ mitwirkte.
Es gibt momentan keine relevante Hinwendung von Teilen der Arbeiterklasse bzw. der Unterdrückten zur SPD oder zur LINKEN, was eine kritische Wahlunterstützung begründen könnte; im Gegenteil: die Lohnabhängigen wenden sich immer mehr von ihnen ab. Angesichts der Direktkandidatur des ehemaligen Thüringer Ministerpräsidenten der Linkspartei, Ramelow, der ein offener Unterstützer der Ukraine-Politik der Ampel war, ist das auch kein Wunder.
Einige Hoffnungen richten sich an das BSW, v.a. in der Friedensfrage. Die letzten Monate haben aber gezeigt, dass es auch ihr nicht darum geht, zu mobilisieren, Strukturen aufzubauen oder gar die Dominanz des Reformismus zu attackieren. Wie SPD und Linkspartei setzt sie nur auf Wahlen und Mitregieren. Eine aktive, praktische Friedenspolitik opfert sie einigen allgemeinen Phrasen in den Präambeln der Regierungserklärungen in Thüringen und Brandenburg, die politisch irrelevant sind. Von irgendeinem Bezug zur Arbeiterklasse oder von Antikapitalismus gibt es keine Spur beim BSW. Das BSW ist keine Alternative, sondern eine Sackgasse!
Neben der LINKEN und dem BSW gibt es eine Reihe von Kleinparteien, die sich links oder alternativ geben: DKP, MLPD, DIE PARTEI, DIE BASIS oder VOLT. Auch eine Stimme für diese Formationen macht aus mehreren Gründen keinen Sinn: 1. sind sie viel zu klein und meist ohne Bezug oder Einfluss auf die Arbeiterklasse oder auch nur auf relevante Teile davon. Insofern mangelt es ihnen an der sozialen Kraft, ihre Anliegen umzusetzen. 2. haben aber alle diese Formationen auch keine Programmatik, die dafür geeignet wäre, den Klassenkampf oder überhaupt „Opposition“ aufzubauen.
Alternative
Das einzig angemessene und sinnvolle Verhalten ist (diesmal) ungültig zu wählen. Der Wahlzettel kann dazu mit einem antikapitalistischen Slogan „verziert“ werden. Das allein wäre freilich zu wenig. Ganz unabhängig von der Wahl geht es nämlich darum, die organisatorische und politische Schwäche und die Zersplitterung der antikapitalistischen Kräfte zu überwinden. Es muss ein Prozess der Neuformierung, der politisch-programmatischen Erneuerung und der engeren Kooperation der antikapitalistischen Linken initiiert werden – mit dem Ziel, eine starke antikapitalistisch-revolutionäre Partei aufzubauen, die auch wählbar ist, aber v.a. im Klassenkampf dem Kapital das Fürchten lehren kann. Jede linke Organisation muss daran gemessen werden, was sie dazu leistet!
Ungültig wählen! Widerstand stärken! Neue antikapitalistische Partei aufbauen!