Die Wahl der Qual

Hanns Graaf

Die Bundestagswahlen am 23. Februar 2025 sind Ausdruck der Krise. Schon der Umstand, dass die Ampel-Regierung kollabiert ist und die Neuwahlen vorgezogen werden mussten, ist ein Zeichen dafür. Die Ampel ist auf ganzer Linie gescheitert und hat die krisenhafte Entwicklung, die schon unter Merkel erfolgte, noch vertieft. Wichtige Strukturreformen, z.B. die Digitalisierung, wurden verschlafen. Der Bürokratismus nahm zu. Die wirtschaftlichen Grundlagen des Landes, eine effiziente Industrie und innovative Forschung und Wissenschaft, wurden unterhöhlt. Die Infrastruktur, die Bildung, die Sicherung kommunaler Aufgaben wurden vernachlässigt. Faktoren dabei waren u.a.: die unsinnigen Corona-Lockdowns, die absurde Klima- und Energiepolitik, die die Energiekosten explodieren ließ, die Kosten der Massenmigration und v.a. die Rüstung und der Ukrainekrieg.

Dahin dümpelnde industrielle Wachstumsraten, die Abwanderung von Unternehmen, Zurückhaltung von Investitionen und zunehmend auch Entlassungen – bei gleichzeitigem Mangel an qualifiziertem Personal – prägen das Bild. Die Merkel-Regierungen und die Ampel haben das Land ruiniert.

Wir erleben aber auch eine Krise des Parteiensystems. Die massenhafte Enttäuschung über die Ampelparteien geht einher mit dem Abwärtstrend der Linkspartei und dem Aufschwung der AfD. Besonders die reformistischen Parteien leiden an wohlverdienter Auszehrung. Der SPD laufen seit Jahrzehnten Mitglieder und Wähler davon. Arbeiter stellen nur noch eine Minderheit ihrer Mitglieder, das Gros stellen (Staats)beamte. Auch die LINKE hat fast ihre gesamte proletarische Basis verloren. Während man die SPD aufgrund ihrer Verbindungen zum Gewerkschaftsapparat und zur Sozialbürokratie noch (!) als bürgerliche Arbeiterpartei (bürgerliche Politik, „proletarisch“ v.a. durch ihre Verbindung zum Gewerkschaftsapparat) bezeichnen kann, ist die LINKE nur noch eine links-bürgerliche Partei. Das BSW hat überhaupt (noch) keine Verankerung im Proletariat. CDU/CSU werden die Wahlen wahrscheinlich gewinnen, obwohl auch sie nur etwa dieselben Werte haben wie früher und sich nicht etwa in einem Aufschwung befindet.

Die „Volksparteien“ CDU und SPD sind kaum noch in der Lage, wie früher eine stabile Regierung zu bilden. Daher ist eine erneute Dreier-Koalition aus CDU, SPD plus X wahrscheinlich. Da FDP, LINKE und BSW an der 5%-Hürde scheitern könnten, bleiben evtl. nur die Grünen als Dritter im Bunde übrig. Die Absage an die Grünen v.a. durch die CSU verweist schon jetzt auf den Sprengstoff dieser Kombination.

Wie auch immer das Ergebnis aussehen wird: Wir bewegen uns auf Weimarer Verhältnisse zu. Instabile Regierungen und ein bewegteres politisches Spektrum werden das Bild prägen. Das widerspiegelt die stärkere soziale und politische Polarisierung der Gesellschaft und die größeren Turbulenzen in der Welt.

Rechtstrend

Weltweit legen rechte Parteien zu. In Deutschland ist die AfD im Aufwind. Es greift jedoch viel zu kurz, die AfD nur als „rechts“ – ein durchaus verschwommener Begriff – zu bezeichnen. Dabei wird nämlich meist ausgeblendet, dass sie in bestimmten Fragen eine in Teilen durchaus korrekte Kritik an der Politik der regierenden „seriösen“ Parteien hat.

Es ist bezeichnend, dass es trotz des kompletten Desasters der Ampel nur relativ wenig Protest gegen sie gab. Warum? 1. weil es keine linke Opposition gab. Die Linkspartei verblieb in einer passiven Rolle aus Unterstützung der Ampel (Klima, Energie, Corona, Atomausstieg usw.) und halbherziger Kritik (Ukraine). Die Gewerkschaften begnügten sich mit vereinzelten Streiks für einen teilweisen Inflationsausgleich, organisierten aber keinen (politischen) Generalstreik. Die Ukraine-Politik und die Aufrüstung wurden vom DGB hingenommen oder gar unterstützt. 2. agierten die Medien fast ausnahmslos als Lautsprecher der Ampel und hatten mit ihrer Politik der Verblödung, der Staatstreue und Gleichschaltung fraglos Erfolg, um die Mehrheit an die Ampel zu binden.

Ein wichtiger Faktor war auch die Anti-Rechts-Kampagne, die von der Union, den Ampelparteien, der linken Szene usw. getragen wurde und sich v.a. gegen die AfD richtete. Das Desaster aus Inflation, Aufrüstung, Kriegspolitik und Demokratieabbau hat zwar die Ampel-Regierung zu verantworten, doch die Anti-Rechts-Kampagne lenkte davon ab, indem die absurde Gefahr des durch die AfD drohenden Faschismus oder eines „Putsches“ durch die Reichsbürger an die Wand gemalt wurden. Keine mediale Kampagne war blöd genug, um diese Gefahr zu „illustrieren“. Wir denken hier nur an den Hype um die „Remigration“ und das Treffen einiger Rechter in Potsdam, über das detailliert berichtet wurde, obwohl nicht ein journalistischer „Faktenchecker“ dabei war.

Es ist bezeichnend, dass auch das Gros der linken Szene auf dieses absurde Anti-Rechts-Theater reingefallen ist. Das ist aber nicht überraschend, weil sie schon seit Jahren auf „linke“ bürgerliche Trends abfährt (Klima, Energie, Anti-Kernkraft, Wokeness usw.). Am deutlichsten wird das in der Frage des Ukrainekriegs. Hier hat die AfD eine zwar bürgerliche, aber in bestimmten Fragen stringentere Position als die Ampelparteien und die Union, aber auch im Vergleich zur Linkspartei und zum BSW.

Die AfD wird als mehr oder weniger „faschistoid“ bezeichnet. Das ist falsch! Sie hat zwar einen rassistisch-völkischen Flügel und Verbindungen zur rechtsradikalen Szene, doch eine faschistische oder verfassungsfeindliche Partei ist sie nicht. Solche völlig übertriebenen Einschätzungen sind a) Resultat einer bewussten Kampagne von Politik und Medien und b) einer völlig oberflächlichen und ahistorischen Auffassung des Faschismus. Sie dienen nur der Ablenkung vom Klassenkampf und dem Machterhalt der bürgerlichen „Mainstream-Parteien“.

Die AfD ist eine konservative Partei, die aber eine andere Strategie verfolgt als die Ampel-Parteien und die Union. Während die AfD eher das Kleinbürgertum, also die auf dem nationalen Markt operierenden Milieus und Kapitale vertritt, dienen die anderen Parteien dem Groß- und Finanzkapital, den Export-orientierten Dax-Konzernen. Aus diesem Interessengegensatz resultiert auch die sehr unterschiedliche Politik zur EU, zum Euro, zu Europa und zur Ukraine.

Es ist absurd, die „normalen“ bürgerlichen Parteien zu wählen, um die AfD zu stoppen, wenn diese selbst immer mehr deren Politik umsetzen oder in bestimmten Fragen (Energiepolitik, Ukraine) noch deutlich reaktionärer agieren. Genauso absurd ist es, die Ampel und die Union durch eine reaktionäre, nationalistische und neoliberale AfD-Regierung zu ersetzen. Die Traufe ist so wenig eine Alternative zum Regen wie umgekehrt.

Warum wählen?

Manche Linke folgen bei Wahlen dem Motto „Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten“. Das stimmt insofern, als die Parteien gar nicht die Absicht haben, das kapitalistische System in Frage zu stellen, selbst wenn sie – wie die Linkspartei – den Kapitalismus manchmal in Sonntagsreden überwinden wollen. Sogar wenn sie diesen offen ablehnen – wie kleinere linke Organisationen wie DKP oder MLPD – verfügen sie weder über die soziale Kraft noch über ein Konzept, um das zu bewerkstelligen.

Immerhin ändern Wahlen aber etwas daran, wer regiert und welcher bürgerlichen Strategie man folgt. Das hat oft große Auswirkungen in ökonomischer, sozialer oder geopolitischer Hinsicht. Denken wir nur an solche Projekte wie die Agenda 2010 oder die Energiewende, die ohne eine SPD an der Regierung (Agenda) bzw. ohne den Einfluss der Grünen (Energiewende) sicher so nicht hätten umgesetzt werden können.

Es ist nicht egal, wer regiert. Die SPD hatte 1998 eine sozialere Politik versprochen – sie wurde in der zweiten Legislaturperiode abgewählt, weil sie ihre Versprechen gebrochen hatte. Es entstanden die Montagsdemonstrationen und die WASG. Dass aus dieser Krise des Reformismus und den oppositionellen Ansätzen nicht mehr anti-kapitalistisches Kapital geschlagen wurde, lag v.a. an der Schwäche und Unfähigkeit der radikalen Linken. Schröders Politik hatte gerade das traditionelle SPD-Klientel getroffen. Eine Folge war, dass sich Millionen Mitglieder und Wähler enttäuscht von der SPD abwendeten. Dasselbe Problem hatten die Grünen als Koalitionspartner der SPD nicht, weil sie sich nicht wie die SPD auf die Lohnabhängigen und die Gewerkschaften stützen, sondern v.a. auf die lohnabhängige Mittelschicht.

Die Position „Wahlen ändern nichts“ und die Schlussfolgerung der Wahlenthaltung greifen also zu kurz. Wahlen sorgen für mehr politisches Interesse. Zweifellos ist eine solche Politisierung, d.h. das Nachdenken über das „Gemeinwesen“ und seine weitere Entwicklung, gut. Viel schlimmer wäre ja ein völliges Desinteresse. Der Wahlkampf bietet zudem antikapitalistischen Kräften bessere Propaganda-Möglichkeiten.

All das zeigt: Wahlen und ihre Ergebnisse können auch für den Klassenkampf und den Aufbau klassenkämpferischer und revolutionärer Strukturen genutzt werden. Ignoranz oder Abstinenz sind die falschen Rezepte.
Wen wählen?

Es war früher ein Selbstverständlichkeit für die Arbeiterbewegung, keine bürgerliche Partei zu wählen und sich nicht an bürgerlichen Regierungen zu beteiligen. Mit der Durchsetzung des Reformismus in der Arbeiterbewegung wurden diese Positionen über Bord geworfen. Das Ergebnis dieser Strategieänderung war aber nicht etwa ein parlamentarisch-evolutionärer Weg zum Sozialismus, ja noch nicht einmal ein reformierter Kapitalismus. Das Ergebnis waren zwei Weltkriege, die nicht verhindert wurden, der Holocaust u.a. Verbrechen – und reihenweise vergebene revolutionäre Möglichkeiten. Die Politik des Reformismus hat v.a. auch die Arbeiterbewegung ruiniert und ins System eingebunden. Doch diese Siege des sozialdemokratischen Reformismus (und des Stalinismus) waren Pyrrhussiege. Das Mitregieren von SPD und Linkspartei hat ihnen selbst massiv geschadet: sie haben ihre Verankerung in der Arbeiterklasse, ihre proletarischen Mitglieder und Wähler weitgehend verloren. Trotzdem folgt auch das BSW wieder dieser desaströsen Methode – und wird deshalb auch dasselbe Fiasko erleben wie seine Vorgänger.
Es dürfte klar sein, dass die rein bürgerlichen Parteien – CDU/CSU, FDP, Grüne – nicht gewählt werden können. Sie stehen (bei marginalen positionellen Unterschieden) für Aufrüstung, Sozialabbau, Kriegspolitik und Unterordnung unter die US- und NATO-Hegemonie. Waren die Grünen früher punktuell (!) noch für fortschrittliche Anliegen, u.a. für Umweltschutz, unterwegs, sind sie inzwischen eine offen reaktionäre Kraft, die v.a. dafür gesorgt hat, dass pazifistische und linkere Milieus für den aggressiven NATO-Kurs gewonnen wurden, anstatt noch wie früher dagegen aufzutreten. Leute wie Habeck oder Baerbock zu unterstützen heißt, besondere Versager und weltfremde Selbstdarsteller zu unterstützen, deren Unwissenheit und ideologische Verbohrtheit nahezu grenzenlos und sehr gefährlich sind.

Der Reformismus

Etwas anders liegt die Frage bei der SPD und der LINKEN. Sie standen bisher für eine, wenn auch sehr begrenzte, reformistische Politik und galten (wenn auch zu unrecht) als Interessenvertreter der Lohnabhängigen. Ihre wahre Funktion für das Kapital ist, die Arbeiterklasse (anders als etwa die FDP oder die Grünen) v.a. über die Gewerkschaftsapparate zu dominieren, zu zähmen und ins System einzubinden. Diese Fähigkeit büßen sie aber immer mehr ein, weil die Lohnabhängigen zunehmend erkennen, dass die rein parlamentarisch-kompromißlerische Politik nicht in der Lage ist, etwas für sie zu erreichen – im Gegenteil: SPD und LINKE werden zunehmend als Teil des Establishments wahrgenommen.

War es früher – angesichts des Fehlens einer relevanten klassenkämpferischen Kraft – oft noch sinnvoll, SPD und/oder die Linkspartei kritisch (!) bei Wahlen zu unterstützen, Forderungen an sie zu stellen und Widerstand aufzubauen, so macht diese Wahltaktik aktuell keinen Sinn. SPD und LINKE mobilisieren nicht, v.a. die LINKE hat auch keine relevanten Verbindungen mehr zur Arbeiterklasse. Nicht nur die SPD als einer der Hauptakteure der komplett reaktionären und irrationalen Politik der letzten Jahre ist nicht wählbar, auch die LINKE nicht. Sie trägt reaktionäre, massenfeindliche und ruinöse Projekte (Klima, Energie usw.) mit, ihr Wille und ihre Fähigkeit, zu mobilisieren, geht gegen Null. Wie die Praxis der LINKEN in den Landesregierungen immer wieder zeigt, zerschellen ihre – ohnehin bescheidenen – „alternativen“ Ambitionen regelmäßig an den realen Strukturen und Machtverhältnissen. Mitunter agiert die LINKE dabei lokal sogar selbst als Vorreiter neoliberaler Projekte wie der Wohnraumprivatisierung in Berlin, wo sie auch an der Demobilisierung und parlamentarischen „Entsorgung“ der Bewegung „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ mitwirkte.

Es gibt momentan keine relevante Hinwendung von Teilen der Arbeiterklasse bzw. der Unterdrückten zur SPD oder zur LINKEN, was eine kritische Wahlunterstützung begründen könnte; im Gegenteil: die Lohnabhängigen wenden sich immer mehr von ihnen ab. Angesichts der Direktkandidatur des ehemaligen Thüringer Ministerpräsidenten der Linkspartei, Ramelow, der ein offener Unterstützer der Ukraine-Politik der Ampel war, ist das auch kein Wunder.

Einige Hoffnungen richten sich an das BSW, v.a. in der Friedensfrage. Die letzten Monate haben aber gezeigt, dass es auch ihr nicht darum geht, zu mobilisieren, Strukturen aufzubauen oder gar die Dominanz des Reformismus zu attackieren. Wie SPD und Linkspartei setzt sie nur auf Wahlen und Mitregieren. Eine aktive, praktische Friedenspolitik opfert sie einigen allgemeinen Phrasen in den Präambeln der Regierungserklärungen in Thüringen und Brandenburg, die politisch irrelevant sind. Von irgendeinem Bezug zur Arbeiterklasse oder von Antikapitalismus gibt es keine Spur beim BSW. Das BSW ist keine Alternative, sondern eine Sackgasse!
Neben der LINKEN und dem BSW gibt es eine Reihe von Kleinparteien, die sich links oder alternativ geben: DKP, MLPD, DIE PARTEI, DIE BASIS oder VOLT. Auch eine Stimme für diese Formationen macht aus mehreren Gründen keinen Sinn: 1. sind sie viel zu klein und meist ohne Bezug oder Einfluss auf die Arbeiterklasse oder auch nur auf relevante Teile davon. Insofern mangelt es ihnen an der sozialen Kraft, ihre Anliegen umzusetzen. 2. haben aber alle diese Formationen auch keine Programmatik, die dafür geeignet wäre, den Klassenkampf oder überhaupt „Opposition“ aufzubauen.

Alternative

Das einzig angemessene und sinnvolle Verhalten ist (diesmal) ungültig zu wählen. Der Wahlzettel kann dazu mit einem antikapitalistischen Slogan „verziert“ werden. Das allein wäre freilich zu wenig. Ganz unabhängig von der Wahl geht es nämlich darum, die organisatorische und politische Schwäche und die Zersplitterung der antikapitalistischen Kräfte zu überwinden. Es muss ein Prozess der Neuformierung, der politisch-programmatischen Erneuerung und der engeren Kooperation der antikapitalistischen Linken initiiert werden – mit dem Ziel, eine starke antikapitalistisch-revolutionäre Partei aufzubauen, die auch wählbar ist, aber v.a. im Klassenkampf dem Kapital das Fürchten lehren kann. Jede linke Organisation muss daran gemessen werden, was sie dazu leistet!

Ungültig wählen! Widerstand stärken! Neue antikapitalistische Partei aufbauen!

Ist der Kapitalismus reformierbar? (Teil 2/2)

Hanns Graaf

Der Arbeiterbewegung gelang es im 19. und im 20. Jahrhundert, erhebliche soziale und politische Erfolge zu erreichen – auch in Verbindung mit Aufschwungphasen des Kapitalismus. Als der Lange Nachkriegsboom in den 1970ern zu Ende war, schloss sich diesem eine „Plateauphase“ an: die erreichten Verbesserungen (v.a. in den imperialistischen Zentren) wurden „verwaltet“, aber nicht weiter ausgebaut. Schon in den 1970ern und umso mehr mit dem Beginn des Spätimperialismus in den 1990ern geriet der Kapitalismus zunehmend in Turbulenzen und die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse wurden unter Beschuss genommen. Die neoliberalen Struktur“reformen“, technologische Sprünge, v.a. aber die Erschließung neuer Märkte und Profitquellen (China, Ostblock) führten dazu, dass der Kapitalismus kurzzeitig einen neuen Impuls bekam. Die Weltfinanzkrise von 2008 zeigte aber, dass dieser „Zwischenboom“ die grundsätzlichen Verwertungsprobleme des Kapitals (Warenüberproduktion, Überschuss an C-Kapital und Geldkapital) nicht lösen konnte und gewaltige Krisenpotentiale (Finanzmarkt) aufgehäuft hatte.

Bezüglich des politischen Reformismus bedeuteten diese Entwicklungen:

  • reformerische Errungenschaften wurde minimiert (Reallohnverluste, geringere soziale Leistungen), die lohnabhängige Unterschicht wuchs und verelendete stärker, der soziale Spielraum des Reformismus wurde enger;
  • rechtere Strömungen im Reformismus (3.Weg) nahmen zu, tw. war die Sozialdemokratie Vorreiter neoliberaler Angriffe (in Deutschland Schröder mit den Agenda-Reformen);
  • die Unterstützung des Reformismus (Mitglieder, Wähler) nahm ab und neue reformistische Formationen entstanden (Syriza, Podemos, WASG, Aufstehen, BSW u.a.).
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Ist der Kapitalismus reformierbar? (Teil 1/2)

Hanns Graaf

Diese Frage ist – wie die meisten Fragen – nicht einfach mit Ja oder Nein zu beantworten. Der Marxismus leitet seine Positionen gemäß der materialistischen Methode aus dem Verlauf der Geschichte ab, aus deren Dynamik, deren Triebkräften und Widersprüchen. Letztlich ermöglicht nur die reale Geschichte – nicht Theorien oder die Betrachtung kurzfristiger Tendenzen – eine Antwort darauf, ob der Kapitalismus reformierbar ist. Ein erstes Problem ist schon der Umstand, dass der Kapitalismus (wie jede Gesellschaftsformation) verschiedene Phasen aufweist, die – bei allen Gemeinsamkeiten – von unterschiedlichen Tendenzen und Faktoren geprägt sind. So unterscheidet sich der Kapitalismus zur Zeit von Marx deutlich von dem des 21. Jahrhunderts, obwohl sich dessen Grundlagen – Privateigentum, Ausbeutung von Lohnarbeit, Konkurrenz usw. – sich nicht wesentlich geändert haben.

Was heißt „reformierbar“?

Die Produktionsweise des Kapitalismus existiert in Ansätzen schon mehrere Jahrhunderte. Der industrielle Kapitalismus hat sich als Weltsystem ab Mitte des 19. Jahrhunderts herausgebildet. Der vollentwickelte Kapitalismus mit einem dominierenden Finanzkapital, Großkonzernen usw. existiert seit den 1890ern und wird oft als Imperialismus bezeichnet. Nach unserer Analyse trat der Imperialismus in den 1990ern in eine neue Periode, den Spätimperialismus, ein.

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Strategische Fragen

Hannah Behrendt

In diesem Beitrag setzen wir uns mit dem strategischen Denken Putins auseinander. Dabei nehmen wir Bezug auf einen Artikel des US-Militäranalysten und Friedensaktivisten Paul Craig Roberts.

Putin ist sicher aktuell eine der Personen, die am stärksten polarisiert. Die Einen sehen ihn als Inkarnation des Bösen schlechthin, Andere halten ihn für einen Antiimperialisten, der sich der Aggression der NATO entgegenstellt.

Roberts betont zu Beginn seines Artikels: „Ich war immer ein Verteidiger Putins, weil ich der Meinung war, dass die Aggression von Washington in Richtung Russland geht und nicht umgekehrt, und dass Washington und nicht Putin für den Konflikt in der Ukraine verantwortlich ist. Dennoch hatte ich anfangs Zweifel an Putins strategischer Vision. Er sprach, als ob er eine Vision hätte, aber er handelte, als ob er keine hätte.“

Roberts bringt eine Reihe von Beispielen, die zeigen sollen, dass es Putin an strategischem Denken mangelt und Russland deshalb dem Westen nicht effektiv entgegentreten könne.

Roberts führt dazu an: „Als die von den Amerikanern ausgebildete georgische Armee in Südossetien einmarschierte und die Bevölkerung und die russischen Friedenstruppen tötete, befand sich Putin bei den Olympischen Spielen in Peking, offenbar völlig ahnungslos und völlig unvorbereitet. Wie konnte Putin nicht wissen, dass die USA und, wie manche behaupten, auch Israel eine georgische Armee ausbildeten?“

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Der kanadische Abfallverbrenner

Dr. Ing. Klaus-Dieter Humpich

Vorwort: Wir übernehmen dankend diesen Beitrag von Dr. Ing. Klaus-Dieter Humpich, einem Spezialisten für Kerntechnik, weil darin sehr gut gezeigt wird, welche technischen Entwicklungen im Bereich der Kerntechnik stattgefunden haben. Der Beitrag entlarvt auch die These vom „ungelösten Problem der Endlagerung“ als unwissenschaftlich. Wir verweisen gern auch auf weitere Artikel zum Thema Kerntechnik auf Dr. Humpichs Seite www.nukeklaus.net. Die Redaktion.

Kanada ist auf dem Weg, nicht nur sein Energieproblem dauerhaft zu lösen, sondern gleichzeitig auch sein „Atommüllproblem“. Kanada hat durchaus große Öl- und Gasvorkommen, ist aber so groß und landschaftlich unwirklich, dass es sich wirtschaftlich eher lohnt, die Förderung zu exportieren und gleichzeitig Öl und Gas für die Ostküste zu importieren. Es war deshalb folgerichtig, seit den 1950er Jahren die Kernenergie zur Stromerzeugung konsequent auszubauen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Für Sonnenenergie liegt Kanada zu weit nördlich (Dunkelheit im Winter) und auch die Windenergie ist nur in einem sehr engen Gebiet nutzbar. Andererseits verfügt Kanada über große und kostengünstige Uranvorkommen.

Da Kanada nie an Kernwaffen interessiert war, konzentrierte man sich auf Schwerwasserreaktoren, die mit Natururan zu betreiben sind. Durch den vollkommenen Verzicht auf eine (aufwendige) Anreicherung, war man politisch glaubwürdig. Man ließ auch die Finger vom anderen Ende (anders als z. B. Indien) und verzichtete auf die Produktion von waffengrädigem Plutonium und vor allem auf die dazu notwendigen chemischen Verfahren zur Gewinnung. Als Konsequenz sammelte sich im Laufe der Jahrzehnte eine beträchtliche Menge abgebrannter Brennelemente an. Diese nach deutschem Gusto „endzulagern“ wäre nicht nur eine gigantische Verschwendung von Rohstoffen, sondern auch eine unnötige Konservierung der Gefahren durch radioaktive Strahlung.

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Ein Aktionsprogramm für Palästina

Redaktion Aufruhrgebiet

Für eine sozialistische Perspektive in Nahost!

Der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat etwa 1.100 Opfer gefordert, ca. 200 Menschen wurden als Geiseln verschleppt. Der Überfall der Hamas traf neben militärischen auch zivile Ziele. Er ist daher reaktionär und Menschen verachtend, er dient nicht dem gerechten Kampf der Palästinenser, sondern schadet ihm. Doch die Attacke der Hamas war nur der Anlass, nicht aber die Ursache für den massiven Militärschlag Israels auf Gaza, der bisher schon über 40.000 Tote und ca. 100.000 Verletzte gefordert und Gaza zu großen Teilen zerstört hat. Worum es Israel geht und immer schon ging, sprach der israelische Likud-Politiker Moshe Feiglin in einem Interview mit Al Jazeera am 26.10.23 offen aus: „Es gibt nur eine Lösung: Gaza vollständig zerstören, bevor man dort einmarschiert. Und wenn ich von Zerstörung spreche, meine ich Zerstörung wie in Dres-den und Hiroshima, ohne Atomwaffe.“

Von 12 Mill. Palästinensern lebt heute nur knapp die Hälfte in ihrer historischen Heimat: in Israel, im Westjordanland und in Gaza. 6-7 Mill. sind Flüchtlinge, die im Exil oder in Lagern leben. Doch trotz Vertreibung, Unterdrückung und Not kämpfen sie weiter gegen den Terrorstaat Israel, seine Armee (IDF) und seine Geheimdienste, die vom westlichen Imperialismus, v.a. von den USA, unterstützt werden. Die zionistischen Siedler in der Westbank vertreiben und terrorisieren die dort lebenden Palästinenser.

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Vom Tiger zum Bettvorleger

Hannah Behrendt

Als das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) vor einem Jahr gegründet wurde, war das für Viele mit großen Hoffnungen verbunden. Es gab mit Sahra Wagenknecht nicht nur eine kräftige Stimme gegen die Kriegspolitik der Ampel, es gab endlich auch eine Partei, die für eine grundsätzlich andere Politik eintreten wollte.

Was ist diese versprochene „andere Politik“? Eine konsequente Friedenspolitik, eine vernünftigere Energie- und Wirtschaftspolitik sowie anti-neoliberale Positionen. Als Partei, die großenteils aus der LINKEN kommt, gehören dazu aber auch andere Positionen zu Migration, Corona, Gendern usw., als sie von der LINKEN und den „grünen“ Woken vertreten werden.

Alternative?

In den Beiträgen von Aufruhrgebiet wurde immer betont, dass das BSW zwar punktuell bessere Positionen vertritt als die LINKE u.a. Parteien, das es zugleich aber auch strategisch gesehen die reformistische Politik der Linkspartei oder der SPD weiterführt.

Woran zeigt sich der Reformismus des BSW? 1. daran, dass es keinen Bezug zur Arbeiterklasse bzw. zur Arbeiterbewegung gibt. Von Klassenkampf ist überhaupt nie die Rede. Damit verbunden ist das Manko, dass nie etwas dazu gesagt wird, WIE man seine Ziele erreichen will: Mit welchen Taktiken? Mit welchen Bündnispartnern? Das Programm des BSW ist ein reiner Wunschkatalog, kein Anleitung zum Handeln, sprich: für den Klassenkampf. 2. ist die einzige Orientierung (und auch die einzige Form von Praxis) darauf gerichtet, sich an Wahlen zu beteiligen (was an sich nicht falsch ist) und in eine bürgerliche Regierung einzutreten (was allerdings falsch ist). 3. wird die zentrale Frage – die Eigentumsfrage – ausgeblendet und die Systemfrage nicht gestellt. Es gibt nicht den geringsten Anschein von Antikapitalismus in der BSW-Politik.

Die Politik des BSW zielt ausnahmslos auf einen etwas verbesserten Kapitalismus, den man nur dadurch zu erreichen hofft, indem man System-immanente Mechanismen, den Parlamentarismus, nutzt.

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Der Oslo-Prozess

Hanns Graaf

Die aktuelle Zuspitzung des Nahostkonfliktes wirf auch ein grelles Licht auf die Ergebnisse früherer „Friedenslösungen“: Sie sind komplett gescheitert. Die umfangreichste „Friedensbemühung“ waren die Verhandlungen des Oslo-Prozesses.

Als 1993 die Verhandlungen zwischen Israel und der PLO unter der Regie der USA begannen, knüpften viele Menschen daran die Hoffnung, dass der furchtbare Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern nach vielen Jahrzehnten endlich zu Ende gehen würde. Diese Erwartungen waren von Politik und Medien massiv geschürt worden. Doch der einzige Effekt von Oslo bestand darin, für eine gewisse Zeit die Illusionen in die Vermittlerrolle des Imperialismus zu stärken und den Glauben an dessen Friedensabsichten zu schüren.

Worum es Israel geht und immer schon ging, sprach der israelische Likud-Politiker Moshe Feiglin in einem Interview mit Al Jazeera am 26.10.23 offen aus: „Es gibt nur eine Lösung: Gaza vollständig zerstören, bevor man dort einmarschiert. Und wenn ich von Zerstörung spreche, meine ich Zerstörung wie in Dresden und Hiroshima, ohne Atomwaffe.“

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Friedenspolitik! Aber wie?

Vorwort: Der nachfolgende Offene Brief von Hanns Graaf ist eine Replik auf Patrik Baabs „Offenen Brief an Dr. Sarah Wagenknecht und Katja Wolf“. Wir hoffen, damit eine Diskussion in der linken Szene um die Fragen des Friedens und die Politik des BSW anzuregen. Die Redaktion

Lieber Patrik Baab,

ich kenne Ihre Position zum Ukrainekrieg von mehreren Veranstaltungen und möchte hier noch einmal meine Zustimmung zu Ihren Positionen und meine Anerkennung für Ihr Engagement ausdrücken.

Sie haben völlig recht, wenn Sie schreiben: „Nach den Wahlen am 23. Februar 2025 wird sich für die Menschen in Deutschland das atomare Vernichtungsrisiko dramatisch erhöhen.“ Inzwischen haben die Union, die FDP und die Grünen klar gemacht, dass sie für den Einsatz der Taurus-Marschflugkörper sind. Damit erhöhen sie das Risiko der Ausweitung dieses Krieges bis hin zum nuklearen Inferno und machen Deutschland endgültig zur direkten Kriegspartei.

Bisher sind nur das BSW und die AfD (die aber die NATO-Mitgliedschaft und die Aufrüstung unterstützt) offen gegen den Kriegskurs der Regierung aufgetreten. Das ist ein Verdienst von Frau Wagenknecht. Es ist daher nachvollziehbar, dass Sie, sehr geehrter Herr Baab, sich wie auch viele andere um das weitere Agieren des BSW Gedanken machen. In Ihrem Offenen Brief an die BSW-Vertreter Wagenknecht und Wolf schreiben Sie: „Deshalb schlage ich mit Blick auf eine Regierungsbildung in Thüringen vor, dass Sie, Frau Wolf, der Landesverband des Bündnisses Sahra Wagenknecht mit Ihrer Unterstützung, Frau Dr. Wagenknecht, dringend nachverhandeln. Möglichen Koalitionspartnern muss ein klares und unzweideutiges NEIN zu Taurus-Lieferungen an die Ukraine abverlangt werden.

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Ist die Arbeiterklasse revolutionär? (Teil 2 von 2)

Hanns Graaf

Viele Linke halten die Arbeiterklasse für verbürgerlicht und daher Konzepte, die auf eine proletarische Revolution orientieren, für überholt. Die „Verbürgerlichung“ des Proletariats v.a. in den imperialistischen Ländern (soweit man deren Existenz als Klasse überhaupt noch zugesteht) wird aus zwei Merkmalen gefolgert: 1. aus der gegenüber früher weit besseren sozialen Lage und 2. aus dem fehlenden Selbstverständnis des Proletariats als einer revolutionären Klasse. Diese beiden Kriterien verweisen schon darauf, dass man sich von der Marxschen Bestimmung der Klasse weit entfernt hat. Marx betont nämlich die objektive Stellung der Klasse innerhalb einer historisch bestimmten Produktionsweise und nicht subjektive Merkmale wie aktuelles Bewusstsein oder Lohnhöhe. Für Marx ist entscheidend, dass das Proletariat keine Produktionsmittel besitzt, (fast) keine Verfügung darüber hat und daher eine sozial untergeordnete Stellung einnimmt, dass es ausgebeutet und unterdrückt wird. Dies allgemeinen Merkmale treffen natürlich immer noch zu.

Trotzdem müssen wir uns die Frage stellen, ob und wie der Prozess der Revolutionierung der Arbeiterklasse durch die v.a. ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgten Veränderungen der Lebenslage der Lohnabhängigen beeinflusst wird. In einigen imperialistischen Ländern stellt die Arbeiteraristokratie – die Schicht der besser bezahlten und ausgebildeten Stammbelegschaften in der Industrie (und im Staatsapparat) – einen großen Teil oder sogar das Gros der Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie stellen auch den Kern der Gewerkschaften und diverser „Mitbestimmungsgremien“ sowie oft einen großen Teil der Wählerschaft der reformistischen Parteien. Ihre Lebenslage ähnelt stark jener des Kleinbürgertums, oft ist sie sogar materiell besser. Diese Schicht hat oft wenig Interesse daran, den Kapitalismus zu überwinden. Sie ist aber andererseits oft stärker gewerkschaftlich organisiert und daher objektiv kampfkräftiger als die sozial schlechter gestellten, aber marginalisierten unteren Schichten des Proletariats. Große Streiks werden meist von den aristokratischen Schichten getragen. Sie interessiert meist nicht, dass sie „eine Welt zu gewinnen haben“, wie das „Kommunistische Manifest“ verkündet, aber sie haben sozial durchaus etwas an Lebensstandard zu verlieren. Wir sehen daran – wie schon immer in der Geschichte des Kapitalismus -, dass nicht unbedingt die Schichten, denen es am schlechtesten geht, am kämpferischsten auftreten, sondern oft die „gehobenen“ Schichten.

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