Das „Erfurter Programm“ der SPD von 1891 (Teil 2/2)

Hanns Graaf

Die Partei

Die letzten drei Abschnitte des ersten Teils des Programms beziehen sich auf die Rolle der Partei. Dort heißt es: „Diesen Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewussten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen – das ist die Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei.“ Und weiter: „Die Interessen der Arbeiterklasse sind in allen Ländern mit kapitalistischer Produktionsweise die gleichen. Mit der Ausdehnung des Weltverkehrs und der Produktion für den Weltmarkt wird die Lage der Arbeiter eines jeden Landes immer abhängiger von der Lage der Arbeiter in den anderen Ländern. Die Befreiung der Arbeiterklasse ist also ein Werk, an dem die Arbeiter aller Kulturländer gleichmäßig beteiligt sind. In dieser Erkenntnis fühlt und erklärt die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sich eins mit den klassenbewussten Arbeitern aller übrigen Länder.“ Natürlich sind die aktuellen (!) Interessen der Arbeiter verschiedener Länder, z.B. (halb)kolonialer und imperialistischer nicht gleich, wie das Programm suggeriert.

Weiter geht es mit: „Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands kämpft also nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Von diesen Anschauungen ausgehend bekämpft sie in der heutigen Gesellschaft nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, eine Geschlecht oder eine Rasse.“ Hier fallen zwei Dinge auf: 1. ist nicht von der Aufhebung des Staates die Rede. Schon im „Gothaer Programm“ fehlte diese Aussage, genauso wie in der damaligen Kritik von Marx der Hinweis auf die Rätedemokratie als Alternative zum Staat alter Form. 2. ist es positiv bemerkenswert, dass schon damals „ jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, eine Geschlecht oder eine Rasse“, abgelehnt wird.

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Das „Erfurter Programm“ der SPD von 1891 (Teil 1/2)

Hanns Graaf

Der jahrzehntelange Niedergang der SPD wirft die Frage auf, ob ihre Probleme vielleicht schon im 19. Jahrhundert, als sie noch im Aufsteigen war, begonnen haben? Wir haben dazu bereits das Gründungsprogramm der Sozialdemokratie in Gotha von 1875 und die Replik von Marx darauf untersucht (https://aufruhrgebiet.de/2023/12/marx-und-gotha/). Hier nun betrachten wir das Nachfolgeprogramm von 1891. Aufgrund der Kürze dieses Programms gehen wir abschnittweise auf den Gesamttext ein.

Historische Einordnung

Das „Erfurter Programm“ wurde 1891 angenommen. Es entstand nach der Aufhebung des Bismarckschen „Sozialistengesetzes“ (1878-90), das die SPD tw. in die Illegalität zwang, jedoch scheiterte. Die SPD war danach stärker als zuvor. Auf diese neue, günstigere Situation musste das neue Programm eingehen. Die Vorsicht, die unter dem Sozialistengesetz durchaus nötig war, konnte und musste nun von einem klareren Profil abgelöst werden. Zudem hatten Marx und Engels am „Gothaer Programm“ massive Kritik geübt – obwohl Marx dabei wesentliche Mängel dieses Programms nicht erkannt bzw. nicht kritisiert hatte. Zudem war Marx´ Kritik von den Führern der SPD, v.a. von W. Liebknecht, der Partei vorenthalten worden. Aber auch Engels tat lange nichts dafür, dass der Marx-Text wenigstens im Nachhinein in der SPD verbreitet wurde.

Die wesentlichen Gründe für ein neues Programm hätten allerdings 1. der Übergang des Kapitalismus zum Imperialismus und 2. die gewachsene Größe und Stärke der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung und ihre größeren Möglichkeiten sein müssen. Um es vorwegzunehmen: diese beiden Aspekte spiegeln sich im Programm kaum wider.

Das Programm von Erfurt galt bis 1921, als die SPD das „Görlitzer Programm“ beschloss. D.h. 30 Jahre lang sah die SPD offenbar keinen Anlass, ihr Programm zu erneuern. Der Übergang zum Imperialismus, die Revisionismus-Debatte in der Sozialdemokratie ab 1899, die Revolutionen von 1905 und 1917 in Russland und 1918 in Deutschland, der wachsende Militarismus, die steigende Kriegsgefahr von 1914 – all das war offenbar kein Anlass, die eigene Programmatik zu erneuern. Warum das so war, wird aber sofort klar, wenn man sich das „Erfurter Programm“ anschaut.

Karl Kautsky schrieb zum „Erfurter Programm“ einen längeren Kommentar, der das Programm erläuterte und begründete. Auf diesen Text kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden.

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Genossenschaften: Die Stieftöchter der Linken (1/2)

Die SAV und die Genossenschaftsfrage (Teil 1 von 2)

Hanns Graaf

Die Linke befasst sich selten mit der Genossenschaftsfrage, um nicht zu sagen, sie ignoriert sie weitgehend. Insofern hebt sich davon ein Beitrag auf der Website der trotzkistischen Gruppe Sozialistische Alternative Voran (SAV) positiv ab. Die SAV arbeitet in der Linkspartei mit. Autor Claus Ludwig, Mitglied des SAV-Bundesvorstands und Linkspartei-Stadtrat in Köln, behandelt darin verschiedene Aspekte des Genossenschaftswesens. Wir gehen hier auf diesen Beitrag genauer ein, weil er grundsätzliche Positionen, die in der linken und marxistischen Szene weit verbreitet sind, darlegt und daran wesentliche sachliche und methodische Fehler sichtbar werden.

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