Kim Kumar
„Imperialismus“ ist nicht nur ein Begriff, mit dem die sozio-ökonomische Struktur einzelner kapitalistischer Länder bestimmt werden kann. Weil das nationale Kapital so groß geworden ist, dass es sich nicht mehr nur im nationalen Rahmen verwerten, geschweige denn ausdehnen kann, drängt es bis in den letzten Winkel des Erdballs. Imperialismus bezeichnet ein komplexes globales System und eine ganze Epoche des Kapitalismus. Er ist also letztlich nicht nur als einzelne nationale Agenturen in ihren jeweiligen historischen Formen und als Gesamtprozess zu begreifen. Imperialismus ist eine Totalität, eine ökonomische Struktur und eine Herrschaftsweise, der alles unterordnet wird.
Eine andere Methode der Betrachtung erlaubt gar nicht zu verstehen, was global passiert. Imperialismus ist die reelle Subsumtion des Weltmarktes und der jeweiligen politischen Herrschaftsformen unter die Dominanz der Großmächte. Das Kapital ist global und kennt keine Grenzen, überwindet alle Beschränkungen, ist eine beständige Vernichtungsmaschine, erbebt sich aber immer wieder auch wie Phönix aus der Asche der von ihm angerichteten Zerstörungen. Das Kapital ist per se äußerst dynamisch (was nicht ausschließt, dass es auch viele den Fortschritt hemmende Elemente enthält). Das Kapital ist „schöpferische Selbstzerstörung“. Findet es eine Schranke, so ist das Gewinnspiel verloren. Die eine Schranke ist das Kapital selbst, die andere ist die Konstituierung des Proletariats zum revolutionären Subjekt.
Die Rolle Russlands
Der Ukraine-Konflikt hat auch die Frage nach dem Klassencharakter der Russischen Föderation in den Fokus gerückt – oder besser: hätte rücken sollen, denn die linke Szene widmet sich dieser Frage fast nicht. Während die Einen Russland als Aggressor verdammen, sehen Andere es als Hort des Kampfes gegen den NATO-Imperialismus an, wenn nicht sogar als sozialistisch. Für Marxisten kann es keinen Zweifel daran geben, dass Russland kapitalistisch ist, allein schon deshalb, weil das Privateigentum die Wirtschaft dominiert und vom Staat gefördert und geschützt wird. Eine diffizile Frage ist hingegen, ob Russland eine imperialistische Macht ist.
Der Charakter bzw. der Stellenwert eines Nationalstaates misst sich auch an der Bedeutung, die er hinsichtlich des Industrie- und Finanzkapitals, also für die Gesamtheit der Verwertungskette des imperialistischen Systems hat. Russland hat für den Weltmarkt nur eine untergeordnete Bedeutung. Seine Industrie ist nach dem Kollaps der UdSSR und den desaströsen „Reformen“ der Jelzin-Periode in vielen Bereichen technologisch weniger entwickelt als der Westen. Ausnahmen sind v.a. der Rüstungssektor oder die Kerntechnik. Von deutlich größerer Bedeutung ist Russland hingegen als Rohstofflieferant, v.a. von Öl und Gas, aber auch von anderen Rohstoffen. Inzwischen ist Russland auch als Agrarexporteur (das es schon in der Zarenzeit war) wieder von Bedeutung. Russland verfügt, außer im Energiesektor, über keine global bedeutenden Konzerne oder Großbanken – im Unterschied zu China, wo die KP deren Aufbau bewusst gefördert hat. Russland verfügt – wie auch China – immer noch über einen bedeutenden Staatseinfluss und Staatssektor. Die Bedeutung des Kapitalexports – ein wichtiges Merkmal einer imperialistischen Macht – ist für Russland niedrig (anders als in China).
Rein ökonomisch betrachtet ist Russland also keine imperialistische Macht. Im Weltwirtschaftssystem spielt es keine maßgebliche Rolle. Strukturell gehört es nicht zu einem der führenden Zentren.
Doch der Imperialismus ist nicht nur eine ökonomische Struktur, sondern – dem Zwang der globalen Verwertungsdynamik folgend – auch ein Macht- und Herrschaftssystem: nach Innen und nach Außen.
Geschichte
Die Besonderheit Russlands kann nur verstanden werden, wenn man seine Geschichte betrachtet. Durch das Erbe der Rückständigkeit des Zarismus war die UdSSR gezwungen, eine nachholende Akkumulation und einen Modernisierungsprozess durchzuführen. Unter Stalin erfolgte das mit Methoden der ursprünglichen Akkumulation unter Leitung der Staats- und Parteibürokratie – nicht etwa unter der Regie der Arbeiterklasse und mittels eines Rätesystems. Aufgrund ihrer Rückständigkeit war die UdSSR lange nicht in der Lage, einen technologischen Entwicklungsstand zu erreichen, um gegenüber dem Imperialismus eigenständig auftreten zu können. Unter Stalin wurde die UdSSR zwar industrialisiert, doch zugleich wurde damit die Ausweitung pro-sozialistischer Elemente behindert und stattdessen ein staatskapitalistisch modifiziertes Lohnarbeitssystem installiert. Gelang es anfangs noch, den Rückstand zum Westen zu vermindern, kam das bürokratische System ab den 1970ern zunehmend an seine Grenzen, um schließlich zu stagnieren. Zunehmend musste die UdSSR deshalb auch zu ruinösen Bedingungen mit dem westlichen Imperialismus konkurrieren, aber auch kooperieren. Zwar war die UdSSR im Ostblock in jeder Hinsicht dominant, auf dem (westlichen) Weltmarkt spielte sie jedoch keine Rolle.
Die UdSSR verblieb – jenseits irgendeines „Sozialismus“ – in einer Phase der nachholenden Akkumulation in Form des Staatskapitalismus. Ein gleiches Niveau der Produktivkraftentwicklung im Westen erreichte der Ostblock nur in einzelnen Feldern und nur für kurze Phasen. Nach der Implosion des Systems ab der Ära Gorbatschow 1985, mit den ruinösen Reformen unter Jelzin und dem Zerfall der UdSSR blieb ein deutlich geschwächtes und verkleinertes Russland zurück. Den Ostblock, den RGW und den Warschauer Pakt gab es nicht mehr, während sich die NATO immer weiter nach Osten ausgedehnte und 2014 daran ging, mit der Ukraine einen direkten Brückenkopf unmittelbar vor den Türen Moskau zu errichten.
Russland ist derzeit nicht in der Lage, als eigenständiger und starker Akteur in der globalen imperialistischen Ordnung aufzutreten und spielt eine eher untergeordnete Rolle. Es ist fraglich, ob es aus sich selbst heraus den notwendigen technologischen Modernisierungsprozess einleiten kann, um eine Verwertungskette zu etablieren, die das Potential hat, um globale Märkte zu konkurrieren. Das erklärt u.a. die defensive Haltung Russlands gegenüber dem Westen seit den 1990ern. Die Angebote Putins, sich als gleichberechtigter Partner in das imperiale System einzugliedern, wurden vom Westen ab 2014 zurückgewiesen, weil die Aussicht, diesen geostrategischen und militärischen Koloss zu zerschlagen und aufzuteilen, für ihn lukrativer als eine Kooperation wirkte. Angesichts dieser Politik des Westens und der für Moskau bedrohlichen Ausweitung der NATO nach Osten erweist sich die westliche Formel vom Aggressor Russland als bloße Propaganda. Russlands „militärische Sonderoperation“ ab 2022 war wesentlich eine Reaktion auf den aggressiven Kurs des Westens. Eigentlich hätte Putin schon 2014 handeln müssen, als Kiew die russische Minderheit im Donbass terrorisierte, hat das aber im Vertrauen auf eine Verhandlungslösung mit dem Westen unterlassen. Die – aus Sicht Moskaus – Notwendigkeit eines militärischen Vorgehens bedeutet freilich nicht, die Art der Kriegführung Putins zu unterstützen. Für Revolutionäre ist der Sturz aller am Krieg beteiligten imperialistischen Mächte und des faschistischen Kiewer Regimes das (wenn auch gegenwärtig wenig realistische) Mittel, um den Krieg zu beenden.
Die militärischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, denen sich Russland derzeit gegenüber sieht, könnten künftig zu einer stärkeren innenpolitischen Fragilität des Moskauer Regimes führen – v.a. wenn der Krieg noch länger dauern sollte und die Verluste zunehmen. Zudem könnte es auch zu einer Fragmentierung in der russischen Bourgeoisie und im Staatsapparat kommen zwischen einer nationalen und einer prowestlichen Fraktion. Der nationale „Schulterschluss“ wäre wahrscheinlich nur durch ein „Bündnis“ des Regimes mit der bürokratisch dominierten Arbeiterbewegung möglich.
Russischer Imperialismus
Es ist klar, dass Russland bestimmte tradierte Merkmale einer imperialistischen Macht nicht erfüllt. Es gibt keine durchgehend technisch hochentwickelt Industrie, keine international agierenden Konzerne auf industriell-technologischer Basis, der Kapitalexport ist dem Warenexport, v.a. in Form von Rohstoffen, untergeordnet. Andererseits ist Russland immer noch eine führende Atommacht und die dominante Macht in der Region aus ehemaligen Sowjetrepubliken oder alten „Bruderstaaten“. Russland spielt als Partner Chinas und Teil der BRICS eine bedeutende Rolle. Chinas Strategie der „Seidenstraße“ hängt stark davon ab, wie die Verhältnisse an der Südflanke Russlands aussehen. Insofern ist die Rolle Russlands im Weltgeschehen insgesamt die einer imperialistischen Großmacht und weit größer, als es ihrer Wirtschaftskraft entspricht.
Sollte Russland wie schon nach 1990 weiter an Größe verlieren, besteht die Gefahr, dass die russische „Konkursmasse“ als riesengroße Halbkolonie dem Westen (oder auch China) wie eine reife Frucht zufällt. Daher muss Putin dieser drohenden Entwicklung entgegenwirken. Diese „Sehnsucht“ nach einer Rekonstruktion der alten Sowjetunion ist keine Nostalgie, sondern eine reale Herausforderung – umso mehr, als Putins Idee der Kooperation mit dem Westen auf Basis von billigem russischen Öl und Gas vom Westen auf Druck der USA aufgekündigt wurde. Diese westliche Strategie schlug jedoch auf ihn selbst wie ein Bumerang zurück: die EU geriet in die Energiekrise und Russland näherte sich noch stärker China an.
Bedrohung?
Die gegenwärtige antirussische Kampagne des Westens mit der Behauptung, Russland könnte demnächst die EU bzw. die NATO angreifen, ist angesichts der Fakten ein kaum zu toppender demagogischer Unsinn. Russland hat schon jetzt größte Mühe, sich selbst gegen die Ukraine militärisch durchzusetzen. Die militärischen, wirtschaftlichen, technologischen und personellen Ressourcen der EU und der NATO sind – sogar ohne die USA – denen Russlands deutlich überlegen. Während sich die NATO vergrößert hat, ist der Ostblock zerfallen und Russland ist deutlich kleiner als die frühere UdSSR. Unter diesen Vorzeichen wäre es Selbstmord, wenn Russland den Westen angreifen würde.
Die anti-russische Kampagne verfolgt freilich mehrere reaktionäre Zwecke:
- sie dient dem Aufbau eines Feindbildes, um die Bevölkerungen des Westens von der zunehmenden Krise des Systems abzulenken;
- sie dient der Ankurbelung der dahin dümpelnden Wirtschaft, v.a in Deutschland, durch Aufrüstung;
- sie dient der Militarisierung und dem Abbau von Demokratie zugunsten einer Art permanenten „Kriegsrechts“;
- sie dient der Sicherung der bröckelnden Vorherrschaft der USA über die Welt und Europa, u.a. indem eine Achse Europa-Russland verhindert wird.
All das widerspiegelt zugleich die – durchaus richtige – Einsicht der Herrschenden, dass die Polarisierung der Welt in einen „Westblock“ um die USA und einen „Ostblock“ um China, Russland und die BRICS sich vertieft und Wirtschaftskriege und regionale Konflikte zunehmen und sogar ein neuer Weltkrieg möglich scheint. Die Konflikte innerhalb beider Lager – Trumps Zollpolitik oder die Probleme bei der Formierung der BRICS – machen es jedoch schwer, die globalen Entwicklungen genauer voraus zu sagen.