1917 – ein Modell für heute? (Teil 2/2)

Hanns Graaf

Die Rolle der Bolschewiki in der Revolution

Der Beginn der Revolution im Februar 1917 war eine spontane Massenbewegung, die ihren Anfang in den Protesten von Arbeiterfrauen gegen die Hungersnot hatte. Ausgehend von den Großbetrieben v.a. in Petrograd (St. Petersburg) entstanden Massendemonstrationen der Arbeiterschaft, die bald zu Massenstreiks wurden. Von Beginn an entstanden auch Machtorgane der Klasse, die üblicherweise als „Sowjetsystem“ bezeichnet werden. Die Basis dieser Sowjets waren aber die betrieblichen Strukturen der Arbeiterinnen und Arbeiter, eine Organisations-Pyramide aus Betriebs- und Abteilungskomitees. Auf dieser proletarischen Basis beruhten die Sowjets, z.B. der Petrograder Sowjet. Erst nach der Konstituierung der betrieblichen Basis bildeten sich proletarische Selbstverwaltungsstrukturen auch in den Wohngebieten und Soldatenkomitees in der Armee und die „eigentlichen“ Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, Bauernsowjets sowie nationale Sowjetstrukturen (Allrussischer Sowjetkongress).

Die Sowjets, z.B. die entscheidenden in Petrograd und Moskau, waren keine rein proletarischen Organe, sondern sozial, politisch und strukturell heterogen. In beiden Städten war die Mehrzahl der Sowjetmitglieder sozial gesehen nicht-proletarisch. Neben den delegierten Arbeitern aus den Betrieben, gab es Soldatenvertreter, die mehrheitlich Bauern waren, und Delegierte der Parteien, meist Intellektuelle. Bis etwa Mitte 1917 stellten Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Anarchisten die Mehrheit der Sowjets der beiden Metropolen Russlands. V.a. die ersten beiden Parteien traten gegen den Sturz der bürgerlichen Kerenski-Regierung (die sie ja selbst mehrheitlich stellten) und gegen eine sozialistische Revolution auf. Nur die Bolschewiki (und tw. die Anarchisten und die linken Sozialrevolutionäre) waren konsequent revolutionär eingestellt; einmal, weil sie für die kompromisslose Umsetzung der Forderungen der Massen eintraten, v.a. für die Beendigung des Krieges und die Landreform, zum anderen, weil sie den Sturz Kerenskis und „Alle Macht den Sowjets“ forderten.

Insofern ist eine zentrale Lehre aus 1917, dass nur eine konsequent revolutionäre Politik, wie sie die Bolschewiki vertraten, zum Erfolg der Revolution, d.h. zur Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, führen kann. Nur macht diese Feststellung wenig Sinn, wenn sie nicht auch mit der Frage verbunden ist, unter welchen besonderen Bedingungen diese Politik praktiziert wurde und werden konnte.

Die Bolschewiki waren im Februar 1917 eine kleine Organisation, keine Massenpartei. Erst im Verlauf der Revolution und nur durch ihre konsequente revolutionäre Politik gewann sie die Mehrheit des Proletariats, Teile der Dorfarmut und die Mehrheit der Soldaten. Diese programmatische Klarheit erreichte Lenins Partei aber erst ab April 1917, nachdem seine „Aprilthesen“ nach anfänglicher Ablehnung und Skepsis (v.a. in der Parteiführung) zur Mehrheitsposition der Partei geworden waren. Die These vom monolithischen Charakter der bolschewistischen Partei ist weitgehend ein Mythos. Über nahezu alle Fragen (Position zum Krieg, zur Provisorischen Regierung, zur Fusion mit den Menschewiki, Brester Frieden, NÖP usw.) war sie 1917 und danach zerstritten; oft entschied Lenins Autorität letztlich über die „Linie“. Der Aufstieg der Bolschewiki erfolgte gleichzeitig mit dem Niedergang der anderen linken Parteien.

Die Revolution von 1917 wurde von zwei Faktoren bestimmt: 1. von der Dynamik und den Strukturen der revolutionären Arbeiter und Soldaten und 2. von den Bolschewiki als Partei. Sowohl der Staatsapparat, die Organe der bürgerlichen Demokratie und die bürgerlichen Parteien (Kadetten) als auch die Gewerkschaften spielten nur eine untergeordnete Rolle oder zerfielen als Machtfaktor. Insofern waren es nicht nur die „Qualität“ der revolutionären Führung der Bewegung in Gestalt der Bolschewiki und die Kraft der Massen, welche die Revolution zum Sieg führten; es war genauso die Krise, die Schwäche und die Impotenz der Regierenden und der bürgerlichen Seite. Diese wiederum waren das Resultat der historischen Überlebtheit des Zarismus, der Schwäche der Bourgeoisie und der Unterentwickeltheit der bürgerlichen Verhältnisse.

Krieg und Militär

Zwei weitere wichtige, ja mitentscheidende Faktoren in der Revolution waren die Kriegssituation und das militärische Kräfteverhältnis.

1917 lehnten die Massen in Russland den Krieg mehrheitlich ab. Als nach der Februarrevolution das Land aufgeteilt wurde, wollten die Soldaten, die ja mehrheitlich Bauern waren, nach Hause, um bei der Landverteilung und der kommenden Ernte dabei zu sein. Sie desertierten massenhaft. Spätestens dann und nach der gescheiterten Kerenski-Offensive im Sommer 1917 war allen klar, dass Russland den Krieg nicht mehr weiterführen konnte und ein Sieg nicht in Sicht war. Anders als in den übrigen kriegführenden Ländern standen die Massen 1917 in dieser Frage mehrheitlich gegen ihre Regierung. Wäre dem nicht so gewesen, hätten die Bolschewiki fraglos nicht einen solchen Aufstieg erleben können.

Hinsichtlich der Kriegsfrage bestand in Russland 1917 also eine durchaus andere Situation, als es sonst in der Regel der Fall ist: statt hinter der Regierung standen die Massen gegen sie.

In Deutschland war die Situation 1918 während der Novemberrevolution anders als in Russland. 1. war Deutschland bereits als Kriegspartei ausgeschieden, als sich die Revolution ausbreitete. 2. gab es in Armee und Bevölkerung auch große Teile, welche die Niederlage nicht akzeptieren wollten. Allerdings wuchs in der Arbeiterklasse die Anti-Kriegsstimmung immer mehr an, was sich v.a. in der Zunahme von Streiks und den Aktivitäten der Revolutionären Obleute äußerte, die dabei eine zentrale Rolle spielten. Eine so starke Anti-Kriegshaltung in der Bevölkerung und massenhafte Desertionen wie in Russland gab es in Deutschland nicht – und schon gar nicht in jenen westlichen Ländern, die zu den Siegermächten zählten.

Diese Unterschiede schlugen sich auch in einem anderen Verhältnis der Armee zur Revolution nieder. In Russland war die Armee zur Verteidigung des Zarenregimes nicht mehr bereit und erwies sich auch bald für die Verteidigung der Provisorischen Regierung als größtenteils unbrauchbar. Ein Teil der Armee verhielt sich neutral, ein Teil bekannte sich offen zur Revolution. Insofern konnten die Bolschewiki diese Krise, diese Spaltung, diese Lähmung des Militärs (und darüber hinaus des gesamten Staatsapparats) ausnutzen. Das war ein entscheidender Unterschied zu 1905, als sich das Militär noch komplett gegen die Revolution gestellt hatte.

In Deutschland war es 1918/19 anders. Der bürgerliche Staatsapparat erwies sich insgesamt als zuverlässig. Die Zahl der Soldaten, die sich auf die Seite der Revolution stellte, war nicht besonders groß. Sicher spielte dabei einerseits auch eine Rolle, dass die proletarischen Soldaten der SPD vertrauten und deren konterrevolutionäres Ränkespiel nicht durchschauten. Andererseits fehlte eben eine revolutionäre Klassenführung bzw. diese war in Gestalt der revolutionären Obleute und der KPD zu schwach und politisch zu unreif. Im Vergleich zu Russland formierte sich die bewaffnete Konterrevolution in Deutschland schneller und handelte energischer als in Russland, wie das Vorgehen der reaktionär-faschistischen Freikorps zeigte.

Die Schwäche bzw. die Spaltung des Staatsapparats und des Militärs in Russland war ein entscheidender Faktor für den Sieg der Revolution. Zugleich zeigen aber andere Revolutionen und revolutionäre Situationen, dass eine Konstellation wie in Russland eher untypisch ist; anders gesagt sieht sich das Proletariat in aller Regel einem weit stärkeren und der Bourgeoisie treuen Militär- und Staatsapparat gegenüber.

Modell oder Ausnahme?

Hinsichtlich des Agierens der Bolschewiki können wir die Russische Revolution durchaus als modellhaft für eine proletarische Revolution ansehen. Dasselbe betrifft das Agieren der Arbeitermassen, ihre kämpferische Dynamik, ihre Fähigkeit, sich zu organisieren und eigene Machtstrukturen (Betriebskomitees, Sowjets, Milizen) zu schaffen.

Doch hier hört der Modellcharakter auch schon auf: alle anderen Bedingungen und Faktoren der Russischen Revolution stellen eher Ausnahmen dar, die sich so in anderen, v.a. den hochentwickelten Ländern, kaum wiederholen können. Am ehesten ist eine Revolution wie die von 1917 heute noch in unterentwickelten Ländern vorstellbar.

In den imperialistischen Staaten war und ist es nahezu ausgeschlossen, dass eine gesellschaftliche Konstellation entsteht, die so günstig für die Revolution ist wie 1917 in Russland. Lenin hatte vollkommen recht, als er einmal bemerkte, dass es in Russland einfacher ist, die Revolution zu machen, dafür aber umso schwerer, den Sozialismus aufzubauen.

Insofern ist die Russische Revolution kein Modellfall für die Situation heute, mindestens in den hochentwickelten Ländern. Überall gibt es dort weit ausgeprägtere, stabilere bürgerliche Verhältnisse und dazugehörige Institutionen. Es existiert ein unerhört dichtes Geflecht bürgerlicher politischer und sozialer Strukturen. Die städtischen Mittelschichten, das politisch-staatlich-bürokratische System, die bürgerlichen Parteien sind wesentlich stabiler, schlagkräftiger und in der Gesellschaft verankerter, als das 1917 in Russland der Fall war. Insbesondere der Reformismus ist in den meisten Ländern ein weit stärkerer Faktor als 1917 in Russland. Zudem ist die Gefahr der Formierung offen faschistischer Kräfte v.a. in imperialistischen Ländern stärker ausgeprägt als 1917 in Russland, weil dort die städtischen Mittelschichten schwächer waren. Damit soll jedoch keinesfalls gesagt werden, dass deshalb Revolutionen in den hochentwickelten Zentren nicht mehr möglich wären – die Geschichte kennt genug Beispiele dafür, dass es sie trotzdem gab. Allerdings – und das ist die Herausforderung – blieb die Russische Revolution die einzig erfolgreiche.

So viel auch für Trotzkis Erklärung – das Fehlen einer revolutionären Führung – spricht, so viel spricht auch dagegen. Denn wir müssen uns über 100 Jahre nach 1917 schon fragen, warum es bis heute nicht gelungen ist, eine solche Klassenführung aufzubauen?! Sicher kann man allerhand widrige Umstände anführen, doch die gab es immer und wird es immer geben. Letztlich muss ja nicht nur die Partei zur Klasse drängen, sondern auch die Klasse zur Partei. Was hat diese Verbindung der Klasse mit ihrer politischen Vorhut bis jetzt immer wieder verhindert, so dass wir – wenn wir von der Gründung der IV. Internationale 1938, die zumindest ein Ansatz zur Lösung der Führungskrise war, ausgehen – seit rund einem dreiviertel Jahrhundert an dieser akuten Führungskrise leiden?!

Nach der Machtergreifung

War es den Bolschewiki möglich, die Revolution zum Sieg zu führen und im Bürgerkrieg zu verteidigen, so zeigten sich nach Ende des Bürgerkriegs fatale Schwächen dabei, die Gesellschaft Richtung Kommunismus zu entwickeln. Es war nicht nur eine Schwäche, die aus einer falschen bzw. fehlenden Konzeption entstand. Dahinter verbarg sich auch die Schwäche des russischen Proletariats – nicht nur hinsichtlich ihrer geringen Zahl in einem Meer von Bauern, sondern auch hinsichtlich ihrer geringen Bildung und sozialen Erfahrung, die daraus resultierten, dass die Klasse relativ „neu“ entstanden war und vor 1917 kaum Möglichkeiten hatte, an sozialen und politischen Prozessen mitzuwirken. Das spielte im Kampf um die Macht 1917 nur eine untergeordnete Rolle, hier kam es fast nur auf das politische Bewusstsein an. Ab 1921 aber waren auch andere Fähigkeiten gefragt: ökonomische, technische, wissenschaftliche, soziale, kulturelle usw. Das war jedoch nicht die Domäne der Partei als einer v.a. politischen Struktur.

Auch Lenin beklagte immer wieder das niedrige Kulturniveau der Klasse, der Kader, der Gesellschaft insgesamt. Das Fatale war nun aber, dass Lenins Verständnis von Klassenbewusstsein als wesentlich (nur) politisches Bewusstsein dazu führte, dass er den Aufbau des Sozialismus v.a. als eine Dynamik unter der Führung, unter der Regie der Partei bzw. des Staats-Partei-Apparats verstand und die Bedeutung der Basisstrukturen und der Selbstorganisation der Massen unterschätzte oder gar verhinderte. Die Zerschlagung der Machno-Sowjet-Bewegung, der Massenstreiks der ArbeiterInnen 1920/21 in Moskau und Petrograd und der Opposition in Kronstadt sind Ausdruck davon. Ab 1921 hätten ganz bewusst Maßnahmen zur Reorganisation des darnieder liegenden Sowjetsystems und gegen die immer stärker aufkommende Bürokratie ergriffen werden müssen. Das jedoch geschah nicht oder in einer Weise, die oft genau das Gegenteil bewirkte. Anstatt die Arbeiterinnen und Arbeiter zu wirklichen Eigentümern der Produktionsmittel und zu Subjekten der sozialen Verhältnisse zu machen, wurde die gesamte Gesellschaft der Fuchtel einer – zudem sehr ineffektiven – zentralen Bürokratie unterworfen. Statt das „Absterben des Staates“, wie es Marx postuliert hatte, einzuleiten, geschah genau das Gegenteil dessen. Anstatt der Reorganisation und der Ausweitung der Rätedemokratie erfolgte der Ausbau des bürokratisch-zentralistisch-terroristischen Staatsapparats. So ist es kein Zufall, dass bei Lenin und den Bolschewiki das Genossenschaftswesen und die proletarische Selbstverwaltung keine Rolle gespielt haben. Das (ungewollte) Ergebnis dieser Entwicklung war schließlich der Stalinismus, der sich gerade auf die bürokratischen Strukturen des Partei-Staates stützte. Von Lenins „Staatskapitalismus unter Arbeitermacht“ blieb der Staatskapitalismus ohne Arbeitermacht übrig.

Im Vergleich mit heute können wir sagen, dass die Arbeiterklasse fast überall weit größer, gebildeter und sozial kompetenter ist als die russische vor 100 Jahren. Allerdings ist sie auch – unter dem Jahrzehnte langen Einfluss von Sozialdemokratie und Stalinismus – weit weniger antikapitalistisch-revolutionär eingestellt als etwa noch in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die Eroberung der Macht durch das russische Proletariat im Oktober 1917 war an drei Faktoren gebunden: 1. an die Existenz und die Wirkung der Bolschewiki als revolutionärer Vorhut der Klasse. Ohne ihr konsequent revolutionäres Programm, das den aktuellen Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung entsprach und auf die Eroberung der Staatsmacht gerichtet war, hätte das Proletariat nicht siegen können. Der 2. Faktor war das Proletariat selbst, das bereit und in der Lage war, Sowjets zu bilden, den Zaren und danach die bürgerliche Regierung unter Kerenski zu stürzen sowie ihren Staat im Bürgerkrieg zu verteidigen. Ein generelles Modell für eine proletarisch- sozialistische Revolution (insoweit es 1917 überhaupt schon um „Sozialismus“ ging) war Russland insofern, als die Existenz einer revolutionären Partei mit einer konkreten Politik unabdingbar notwendig ist, um die Revolution zum Sieg zu führen. Die Partei kann aber nur Erfolg haben, wenn sie mit einer aktiven, revolutionär gestimmten Arbeiterklasse verbunden ist.

Neben diesen beiden subjektiven Faktoren spielten aber auch besondere objektive Faktoren eine Rolle, die nur für das damalige Russland und dessen besondere historische Situation galten. Sowohl eine revolutionäre Partei wie die Bolschewiki als auch ein so revolutionär eingestelltes Proletariat „zu haben“, sind unter anderen Bedingungen, v.a. den Bedingungen der entwickelteren imperialistischen Länder des Westens nicht so wie im damaligen n Russland vorstellbar. Damit ist freilich nicht gemeint, dass es dort unmöglich wäre, diese subjektiven Faktoren der Revolution zu erschaffen. Es geht darum, dass sie dort anders entstehen können und bis zu einem gewissen Grad auch müssen. Insofern geht es eher darum, dass Ziel, die Schaffung einer revolutionären Partei und die Ausprägung eines revolutionären Bewusstseins der Klasse, zu verfolgen und nicht darum, den Weg dorthin und die angewandten Methoden von 1917 zu kopieren.

Der 3. Faktor, der den Sieg der Russischen Revolution ermöglichte, waren die besonderen objektiven Umstände im Russland von 1917. Wir haben oben skizziert, dass diese in mehrfacher Hinsicht stark von denen unterschieden waren, die „normalerweise“ in imperialistischen Ländern existieren. Dazu zählen u.a. eine wesentlich stärkere und damit entschlossenere und „clevere“ Bourgeoisie, ein für die Zwecke der Bourgeoisie funktionaler Staatsapparat und eine breite städtische Mittelschicht. Ein entscheidender Faktor ist der wesentlich stärker ideologisch und strukturell in der Klasse wirkende Reformismus. Diese Umstände bedeuten, dass es in den entwickelteren Ländern – obwohl es dort eine größere und kulturell reifere Arbeiterklasse gibt als 1917 in Russland – für die revolutionäre Vorhut weitaus schwieriger ist, sich durchzusetzen. Die Möglichkeit, dass wie 1917 die Dominanz der Partei auf der politisch-administrativen Ebene ausreicht, um die Macht zu erobern, ist damit viel geringer. Daraus folgt, dass es notwendig ist, auch auf anderen Gebieten, der Dominanz der Bourgeoisie etwas entgegen zu setzen. Nur so kann ein Potential aufgebaut werden, das stark genug ist, die Gesamtheit der bürgerlichen Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen zu überwinden.

Obwohl der Aufbau einer revolutionären Partei von zentraler Bedeutung ist und diese auch in den (reformistischen) Gewerkschaften als oppositionelle Kraft verankert sein muss, gibt es doch noch andere Bereiche, wo der Revolution „vorgearbeitet“ werden muss. Dazu zählen etwa der Bereich der Ökonomie, die Kultur, die Wissenschaft, die Medien oder die Bildung. Letztere Bereiche waren um 1900 noch weitaus weniger bedeutend in der Gesellschaft und in den bürgerlichen Herrschaftsstrukturen – umso mehr in Russland, wo es demokratische Strukturen und Spielräume fast nicht gab. Insofern spielte deren Nutzung durch die revolutionäre Partei auch kaum eine Rolle. Auch die Bündnispolitik war nur hinsichtlich der armen Bauernschaft relevant, weniger hinsichtlich der städtischen Mittelschichten. Heute sieht das ganz anders aus. Wenn es der Arbeiterklasse heute nicht gelingt, relevante Teile der städtischen Mittelschichten zu gewinnen, hat sie kaum eine Chance sich durchzusetzen. Wenn es der Arbeiterklasse nicht bereits vor der Revolution gelingt, in allen Bereichen der Gesellschaft einen proletarischen Gegenpol zu etablieren, wird es nicht gelingen, ein revolutionäres Potential aufzubauen, das groß genug ist und auf das man in der Stunde der Entscheidung zurückgreifen kann.

Proletarische Selbstverwaltung

Eine besondere Rolle spielt dabei der Aufbau genossenschaftlicher und selbstverwalteter, tendenziell räteartiger Strukturen durch die Arbeiterklasse. Nur in diesen Strukturen – nicht oder kaum in der Partei oder den Gewerkschaften als wesentlich politischen (!) Strukturen – ist es dem Proletariat möglich, zu lernen, wie man Wirtschaft und Gesellschaft verwaltet. Nur dort kann die Klasse erleben, was es heißt, ohne Staat und Kapital zu agieren und über seine Verhältnisse einigermaßen selbst zu bestimmen. Natürlich ist das nur in Ansätzen möglich, natürlich bewegt sich all das in einem insgesamt kapitalistischen Rahmen und natürlich kann der Kapitalismus nicht ohne Revolution nur durch die quantitative Anhäufung von Selbstverwaltung und Genossenschaften überwunden werden. So wenig der Mensch nur ein politisches Wesen ist, so wenig kann Antikapitalismus nur darin bestehen, eine andere Politik vorzuschlagen und politische Strukturen aufzubauen. Durch die Erkenntnisse der Psychoanalyse (Wilhelm Reich u.a.) wissen wir, dass ein fortschrittliches Potential nur geschaffen werden kann, wenn es gelingt, soziale Strukturen aufzubauen, wo diese gefördert werden und sich entwickeln können. Eine Partei oder Gewerkschaften sind dafür fraglos wichtig, aber auch völlig unzureichend.

1917 ist in dieser Hinsicht gerade kein Modell. Die Bolschewiki, wie auch die Sozialdemokratie, aus der sie stammen, haben diese Fragen der Selbstverwaltung, der Rätedemokratie usw. sträflich unterschätzt. Unter den besonderen (!) Bedingungen Russlands war es den Bolschewiki trotzdem möglich, die Macht zu erkämpfen. Unter den „normalen“ Bedingungen anderer Länder war es damals und ist es umso mehr heute unwahrscheinlich, so die Macht zu erringen. Ohne Gramscis „Hegemonie-Konzept“ (das sicher kein reformistisches war, als das es heute meist hingestellt wird) zu adaptieren, geht es doch tatsächlich darum, den Einfluss – der aber eben nicht zu einer Hegemonie führen kann – des Proletariats in allen Bereichen der Gesellschaft auszuweiten.

Die revolutionäre Partei mag der letztlich entscheidende Hebel sein, um die kapitalistische Welt aus den Angeln zu heben, doch das soziale Gewicht, die Kraft an diesem Hebel ist weit mehr als nur die Partei selbst. Sie kann nur aus dem Zusammenwirken verschiedener Milieus bestehen, wo kritische, kämpferische, antikapitalistische Kräfte wirken. Dazu zählen neben der Partei linke Gewerkschaftsstrukturen, Selbstverwaltungsprojekte, Genossenschaften u.a. Nur dann, wenn diese kooperieren, nur dann, wenn die Partei mit all diesen Milieus verbunden ist und in ihnen als revolutionärer Faktor wirkt, kann eine ausreichend starke revolutionäre Kraft entstehen, die in der Lage ist, den Kapitalismus zu überwinden, wenn er sich in einer zugespitzten Krise befindet. All jene „Revolutionäre“, die das „Modell 1917“ beschwören, aber dessen historische Ausnahmebedingungen nicht sehen; die nicht begreifen, dass dieses Modell heute nicht mehr so funktionieren kann; die die Bedeutung von Selbstverwaltung und Genossenschaften nicht verstehen – im Unterschied zu Marx, der sich immer sehr positiv zu den Genossenschaften und deren systemsprengendes Potential geäußert hat; diese „revolutionären“ Dogmatiker werden nie eine Revolution zum Sieg führen.

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