1917 – ein Modell für heute? (Teil 1/2)

Hanns Graaf

Viele Marxisten und revolutionäre Linke beziehen sich positiv auf die Russische Revolution von 1917 und halten sie für ein Modell, das auch noch für heute Gültigkeit hätte. Dafür spricht, dass die Oktoberrevolution bisher die einzige erfolgreiche sozialistische Revolution war, in der das Proletariat die Macht erringen konnte. Diese Singularität kann allerdings auch dagegen sprechen. Es mangelte im 20. Jahrhundert nicht an revolutionären Versuchen oder an Situationen, wo eine Revolution möglich war: Deutschland 1918, Ungarn 1919, China 1927, Frankreich 1934, Spanien 1936 oder Griechenland 1944/45. Chancen auf revolutionäre Veränderungen gab es in mehreren Ländern auch nach dem 2. Weltkrieg oder Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre in Frankreich, Chile oder Portugal.

Trotzkis Theorie

Dafür, dass all diese Möglichkeiten entweder in einer Niederlage endeten oder das Proletariat gar keine Revolution durchführte, gibt es verschiedene Erklärungen. Eine davon stammt von Leo Trotzki. Dieser hatte schon ab den 1920ern den Aufstieg des Stalinismus in der UdSSR und die darauf folgende Stalinisierung der kommunistischen Weltbewegung kritisiert. Für Trotzki war der Stalinismus eine konterrevolutionäre Agentur im Arbeiterstaat Sowjetunion und in der Kommunistischen Internationale (Komintern). Trotz des Aufstiegs des Stalinismus beharrte Trotzki jedoch darauf, dass die UdSSR immer noch ein Arbeiterstaat sei – jedoch blockiere der Stalinismus dessen Weiterentwicklung zum Sozialismus und weise erhebliche Deformationen auf. Das bewog Trotzki dazu, die UdSSR als „degenerierten Arbeiterstaat“ zu bezeichnen, dessen Perspektive davon abhängig wäre, ob das Proletariat imstande sein würde, die Bürokratie durch eine – nur politische – Revolution von der Macht zu verdrängen und eine Revitalisierung des Rätesystems einzuleiten.

Bezüglich der politischen Konzeption des Stalinismus sah Trotzki völlig richtig, dass dieser einen Bruch mit der revolutionären und internationalistischen Ausrichtung der Bolschewiki und Lenins darstellte. Allerdings – und das ist ein Manko in Trotzkis Sicht – verstand er nicht, dass Lenin nicht nur den Bruch mit der Strategie der II. Internationale repräsentierte, sondern auch eine Kontinuität. Letztere drückte sich u.a. in der Parteitheorie aus, wo er die einseitige Auffassung von Klassenbewusstsein als einem nur politischen Bewusstsein und der Rolle der Partei, die allein das revolutionäre Bewusstsein in die Klasse tragen könne, übernahm und noch zuspitzte.

Zum anderen bezog er sich positiv auf die ökonomischen Anschauungen der II. Internationale (z.B. Hilferdings), die den vom Proletariat (konkret von einer „proletarischen“ Bürokratie) beherrschten modifizierten bürgerlichen Staatsapparat als Mittel zur Verwaltung und Organisation der Wirtschaft ansah. So sprach Lenin wiederholt vom „Staatskapitalismus“ nach dem Vorbild der deutschen Kriegswirtschaft (die allerdings gar kein Staatskapitalismus war), der jedoch unter der Kontrolle des Proletariats stehen sollte.

Trotzki teilte diese Auffassungen, deshalb sah er nicht, dass die Leninsche Konzeption gerade die für die Entwicklung Sowjetrusslands fatalen Tendenzen der Unterordnung des Proletariats unter einen bürokratischen Partei-Staats-Apparat förderte und den direkten Zugriff der Arbeiterklasse auf die Produktionsmittel verhinderte. Unter den ohnehin sehr komplizierten Bedingungen der UdSSR mussten sich diese konzeptionellen Fehler der Bolschewiki katastrophal auswirken.

Volksfrontpolitik

Gleichwohl analysierte Trotzki korrekt den konterrevolutionären Gehalt der Stalinschen Außenpolitik, welche ab 1934/35 die Politik der Komintern-Parteien beherrschte: die Politik der Volksfront. Trotzki zeigte überzeugend, dass die Volksfront-Politik dem Proletariat nicht nur immer und überall blutige und unnötige Niederlagen bereitete; er formulierte auch strategische und taktische Alternativen. Er wies nach, dass die Volksfront grundsätzlich im Widerspruch zur revolutionären Konzeption der Bolschewiki 1917 stand und ein Neuaufguss der alten, von Lenin und den Bolschewiki 1917 überwundenen menschewistischen Konzeption war, welche die Revolution auf eine bürgerlich-demokratische Etappe begrenzen wollte, der irgendwann und irgendwie eine sozialistische folgen sollte. Anstatt des Sturzes des Kapitalismus sah die Volksfront ein Regierungs-Bündnis mit Teilen der Bourgeoisie vor. Statt wie 1917 die bürgerliche Kerenski-Regierung zu stürzen, beteiligten sich die KPen ab den 1930ern an solchen bürgerlichen Regierungen – bis die Stalinisten nach dem Scheitern der Revolution von den Bürgerlichen wieder abserviert wurden.

Degeneration

Trotzki erklärt die stalinistische Fehlentwicklung der UdSSR wesentlich damit, dass der Aufstieg der Bürokratie weitgehend eine Folge der objektiven Umstände wäre. Dazu zählt er v.a. die Isolation Sowjetrusslands und das Steckenbleiben der Weltrevolution. Dass diese Faktoren einen negativen Einfluss auf die UdSSR hatten, ist unbestritten. Doch waren sie nicht entscheidend. Immerhin konnte sich die UdSSR ja gegen die innere und äußere Konterrevolution behaupten. Die bürokratischen Entartungen in der Gesellschaft begannen zwar schon im Bürgerkrieg, doch dieser war bereits 1921 siegreich beendet worden. Danach hätten bestimmte Fehlentwicklungen – ein von jeder demokratischen Kontrolle befreiter Staatsapparat, das Darniederliegen der Sowjetdemokratie usw. – korrigiert werden müssen und können. Doch das erfolgte nicht nur nicht, der Bürokratismus wurde noch gefördert und jede Art von Kritik und Opposition daran bekämpft (Arbeiteropposition, Kronstadt, Machnobewegung usw.).

Die Bürokratisierung war insofern zwar anfangs auch den ungünstigen Umständen (Bürgerkrieg, Hunger, Wirtschaftskrise) geschuldet, später aber war er wesentlich Ergebnis der falschen Politik und der zumindest einseitigen Gesellschaftskonzeption der Bolschewiki. Diese setzte nur auf den extrem zentralisierten Partei-Staat und unterschätzte sträflich die Selbstverwaltung, das Genossenschaftssystem und die Rätedemokratie. Das war der entscheidende Faktor, der die Bürokratie zum Zuge kommen ließ. Die Arbeiterklasse, die mit der Revolution gerade erst begonnen hatte, die Macht zu gebrauchen und sich entsprechende Strukturen dafür zu schaffen, wurde von ihren noch halbfertigen Bastionen vertrieben und erneut politisch und sozial enteignet.

Die gesamte Entwicklung der UdSSR in den 1920er Jahren ist von diesen Prozessen geprägt. Zugleich zeigt dieses Dezennium auch, dass die UdSSR sehr wohl in der Lage war, sich trotz der ungünstigen objektiven Bedingungen zu entwickeln, v.a. wirtschaftlich. Doch was Trotzki als Beweis dafür nahm, dass die UdSSR ein, wenn auch degenerierter, Arbeiterstaat sei, bedeutete stattdessen nur, dass sich eine staatskapitalistische Gesellschaft entwickelt hatte.

Damals war es noch weitaus leichter möglich als heute, sich relativ autark zu entwickeln – zumindest, wenn man wie die UdSSR über riesige Ressourcen aller Art verfügt. Selbst heute, da die Globalisierung weitaus stärker ausgeprägt ist als in den 1920en und 1930ern ist es möglich, dass sich Länder selbst unter extrem ungünstigen Startbedingungen erfolgreich (als kapitalistische) Länder entwickeln können (China, Taiwan, Südkorea u.a.). Trotzkis Kritik an Stalins „Theorie“ vom „Sozialismus in einem Land“ war zwar berechtigt, aber auch „schief“. Der Aufbau des Landes war nämlich sehr wohl möglich, nur war das Ergebnis dieses Aufbaus nach Stalins Normen kein Sozialismus. Auch war die UdSSR nicht nur ein Land, sondern eher ein Kontinent.

Trotzkis Konzeption litt somit – trotz aller richtigen Elemente und ihres unzweifelhaft revolutionären und internationalistischen Impetus – daran, dass sie zu stark die objektiven Momente betonte und dafür die Fehler des subjektiven Faktors, der Politik der Bolschewiki, nicht tiefer analysierte und sie damit in mancher Hinsicht auch nicht überwinden konnte.

Historische Führungskrise

Trotzki fasste seine Erfahrungen zusammen, indem er von einer „historischen Führungskrise des Proletariats“ sprach, womit er meinte, dass die Arbeiterklasse über keine revolutionäre Klassenführung verfügte wie etwa früher die III. Kommunistische Internationale (Komintern), bevor diese erst stalinisiert und dann 1943 von Stalin überhaupt aufgelöst wurde. Stalinistische und sozialdemokratische Parteien hatten ab Ende der 1920er nun über Jahrzehnte das politische Monopol über die Arbeiterbewegung inne. Deshalb sei es nötig, eine neue revolutionäre Klassenführung aufzubauen, die dann zwar 1938 in Form der IV. Internationale Gestalt annahm, jedoch das Führungsproblem auch nicht löste.

Trotzkis Erklärung des Ausbleibens oder Scheiterns weiterer sozialistischer Revolutionen leidet aber darunter, dass er die Erklärung nur auf der politisch-organisatorischen Ebene, beim Fehlen einer revolutionären Partei, sucht. Damit knüpft er methodisch an Lenin an, der diesen Faktor – so wichtig er zweifellos auch ist – ebenfalls quasi als einzigen subjektiven revolutionären Faktor ansah. Diese Auffassung ist sehr stark aus den besonderen Bedingungen in Russland abgeleitet, wo 1917 spezifische Bedingungen existierten, die es einer kleinen Avantgarde-Partei ermöglicht hatten zu siegen.

Wenn sich Trotzki positiv auf die Bolschewiki und Lenin bezieht, dann v.a. auf deren politische Konzeption in der Revolution. Die Degeneration der UdSSR unter Stalin führt er wesentlich a) auf die objektiven Bedingungen im Lande selbst zurück (Rückständigkeit, Erschöpfung des Proletariats, Wirtschaftskrise, Hunger usw.) und b) auf das Steckenbleiben des weltrevolutionären Prozesses. Er sieht in Relation zu diesen objektiven Faktoren aber nicht den – unserer Meinung nach wichtigen, vielleicht sogar entscheidenden – subjektiven Faktor: die Politik und die Gesellschaftskonzeption Lenins und der Bolschewiki, die wesentlich – wenn auch ungewollt – zum Aufstieg des Stalinismus und der Herrschaft der Bürokratie führten.

Abgesehen von dieser Einseitigkeit hat Trotzkis Konzeption aber auch den Makel, dass er die Russische Revolution überhaupt als Modell einer proletarischen Revolution ansieht. Diese Sicht hatte (wie wir noch sehen werden) zwar auch einiges für sich, v.a. in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, doch spätestens ab der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gilt das nicht mehr – zumindest für die hochentwickelten (imperialistischen) Länder. Doch da lebte Trotzki schon nicht mehr, und leider zeigten sich seine Nachfolger nicht in der Lage, die Konzeption der Revolution auf die Höhe der Zeit zu heben. Die historisch-kritische Methode war längst einem kurzschlüssigen Impressionismus oder einem Dogmatismus gewichen.

Ausnahme Russland?

Schon ab den 1920ern haben etliche westeuropäische Marxisten darauf hingewiesen, dass die Bedingungen und Schlussfolgerungen aus der russischen Revolution bzw. der Politik der Bolschewiki nicht schematisch auf andere Länder übertragen werden können. Lenin selbst beklagte, dass die russischen Erfahrungen mehr studiert werden sollten, anstatt den Erfolg der Bolschewiki nur zu feiern.

In der Tat gab es eine ganze Reihe besonderer Umstände, die für den Verlauf der Revolution von 1917 von Bedeutung waren – nicht nur in dem Sinn, dass jedes Land und jede historische Situation anders ist, sondern auch insofern, dass bestimmte Bedingungen in Russland schon damals grundsätzlich anders waren als etwa in Westeuropa. Das wirft die Frage auf, ob die Russische Revolution überhaupt als Modell auch für den Westen mit seinen entwickelteren Verhältnissen geeignet ist?

Wir wollen deshalb einen genaueren Blick auf verschiedene Faktoren werfen, die 1917 in Russland eine Rolle spielten.

Das Proletariat

Die schnelle Industrialisierung durch die ab den 1860er Jahren einsetzenden Reformen (u.a. die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861) führte zu einem starken Anwachsen des Proletariats, das sich v.a. aus der Bauernschaft rekrutierte. Es gab aber kaum wie in Deutschland eine Schicht von Facharbeitern, die sich dort mit der imperialistischen Phase ab den 1890ern zu einer Arbeiteraristokratie verfestigte. Das russische Proletariat wies insofern weniger innere Differenzierungen auf als etwa das deutsche. Zudem waren die Verbindungen der russischen Arbeiter zur Bauernschaft und zu den Dörfern noch sehr eng. Dadurch war es z.B. in den Hungerjahren eine reale Option für viele Proletarier, die Stadt zu verlassen und zurück aufs Land zu gehen. In vielen Städten nahm daher die Zahl der Arbeiter in den Hungerjahren um über die Hälfte ab.

Das Bildungs- und Kulturniveau der russischen Arbeiterklasse war niedriger als das der westlichen Arbeiterschaft. Dafür war das revolutionäre Bewusstsein im russischen Proletariat stärker ausgeprägt. Das wiederum hatte zwei Hauptursachen: 1. war der ideologische und strukturelle Einfluss des Reformismus geringer als Westeuropa, 2. verfügten die Russen über die Erfahrungen der Revolution von 1905, in der Massenstreiks erfolgten und mit den Streikkomitees der Arbeiterbasis sowie den Sowjets Kampfstrukturen entstanden waren, die es in dieser Weise im Westen nicht gab. 1905 war insofern die „Generalprobe“ für 1917.

Aufgrund der verspäteten kapitalistischen Entwicklung und des besonders reaktionären Regimes des Zarismus gab es in Russland kaum eine Arbeiterbewegung mit Parteien und Gewerkschaften bzw. deren rudimentäre Ansätze agierten illegal oder halblegal. Auch der Parlamentarismus und demokratische Einrichtungen waren gegenüber dem Westen unterentwickelt und meist auch erst in Folge der Revolution von 1905 entstanden, z.B. das Parlament (Duma). Daher war der Reformismus bzw. der „Demokratismus“ im Proletariat sowohl ideell als auch organisatorisch sehr schwach und kein bedeutsamer Faktor. Es gab 1917 keine reformistische Partei, noch nicht einmal eine „zentristische“ Massenpartei wie die SPD vor 1914. Selbst die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre orientierten auf ihre Weise auf die Revolution, allerdings nicht auf eine proletarisch-sozialistische, wie die Bolschewiki (diese allerdings in konsequenter Form auch erst mit Lenins Aprilthesen), sondern auf eine bürgerlich-demokratische.

Die Ereignisse von 1917 in Russland unterschieden sich dann auch stark von der Revolution 1918 in Deutschland, wo die Arbeiter die Revolution wollten, aber Mitglied der SPD oder der Gewerkschaften waren oder ihnen vertrauten, obwohl deren Führungen und Apparate alles taten, um die Revolution zu stoppen. In Russland spielte der Reformismus keine entscheidende Rolle – sehr im Unterschied (v.a. heute) zu den entwickelten Industriestaaten, wo der Reformismus tiefe Wurzeln in der Gesellschaft und in der Arbeiterklasse hat. Das wussten natürlich auch Lenin und Trotzki, doch für Russland selbst spielte dieses Problem nur eine untergeordnete Rolle. Ihre politischen Konkurrenten im „eigenen“ Lager waren die reformistisch-zentristischen Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die jedoch keine Massenparteien waren. Lenins Antwort darauf war der Aufbau einer revolutionären Partei, der es mit einer korrekten Politik gelingen sollte, im entscheidenden Moment die Mehrheit der Arbeiterklasse hinter sich zu bringen. Hätte es in Russland 1917 wie in Deutschland einen starken reformistischen Block aus SPD und Gewerkschaften gegeben, wäre es den Bolschewiki eventuell gar nicht gelungen, schon 1917 zur dominanten proletarischen Kraft aufzusteigen.

Ein zentrales Problem Russlands war auch, dass die Arbeiterklasse nur eine kleine Minderheit stellte – je nach Sichtweise 4-8% der Bevölkerung. Von daher war sie von vornherein auf die Unterstützung der Bauernhaft angewiesen. Das zeigte sich besonders im Bürgerkrieg, wo die Rote Armee oft auf die Unterstützung der armen Bauern zählen konnte – ohne diese hätten sich die Bolschewiki militärisch nicht behaupten können. Andererseits erzeugte die Bauernschaft – als Klasse von Kleineigentümern – einen enormen sozialen Druck auf den proletarischen Staat, der sich u.a. darin äußerte, dass die Bauern (insbesondere die wohlhabenderen) einen Lebensmittelboykott durchführten und dass es zahlreiche Bauernaufstände gegen die Bolschewiki gab.

Gesellschaftsstruktur

Russlands Bevölkerung bestand zu 90% aus Bauern. Deren Mehrheit lebte unter sehr schlechten Bedingungen: es fehlte an Land und es gab eine permanente Überbevölkerung. Diese wurde vor 1917 allerdings weitgehend durch die zügige Industrialisierung von den Städten absorbiert. Trotz gewisser Verbesserungen, v.a. für die Mittelbauernschaft, mit den Stolypin-Reformen blieb das Grundproblem, die Armut und Rückständigkeit der Landwirtschaft, bestehen. Insofern waren die armen Bauernmassen natürliche Verbündete des Proletariats in der Revolution – obwohl sie zugleich Kleinbürger mit bornierten Interessen blieben.

Die feudalen bzw. asiatischen Strukturen auf dem Land wurden ab den 1860er Jahren immer weiter zurückgedrängt. Die Leibeigenschaft war 1861 aufgehoben worden. Aber auch die traditionelle russische Dorfgemeinschaft, die auf Kooperation und Kollektiveigentum basierte, erodierte. Dafür entwickelte sich eine wachsende Schicht selbstständiger Mittelbauern als Grundlage einer kapitalistische Entwicklung auf dem Land. Als Marx es noch für möglich hielt, dass die traditionelle Dorfgemeinschaft zum Ausgangspunkt einer nicht-kapitalistischen Entwicklung der Landwirtschaft werden könnte (she. seinen Briefwechsel mit Vera Sassulitsch), war diese Entwicklung noch nicht sehr fortgeschritten. 1917 hätte er seine alte These sicher so nicht mehr aufrecht erhalten. Diese realen Entwicklungen standen einer genossenschaftlichen Perspektive entgegen – zumindest kurzfristig.

Im Unterschied zum Westen waren das städtische Kleinbürgertum und die Mittelschichten in Russland kleiner und unbedeutender und stellten insofern keinen bedeutenden Faktor dar. Ähnlich verhielt es sich mit der Bourgeoisie. Sie war in wenigen Jahrzehnten zwar deutlich gewachsen, aber zugleich mit tausend Fasern mit dem Zarensystem und dem Adel verbunden und zudem stark mit dem Auslandskapital verquickt. Doch schon um 1900 übertraf das Inlandskapital auch bei den Investitionen das ausländische. Zwar wollte auch die russische Bourgeoisie den Zarismus und die asiatisch-feudalen Zustände überwinden, doch hatte sie weder die soziale Kraft noch die Absicht, dieses Ziel energisch zu verfolgen. Nicht zuletzt die Erfahrungen mit der Revolution von 1905 und die potentielle Gefahr, dass eine Revolution nicht nur den Zarismus, sondern zugleich auch den Kapitalismus hinwegfegen könnte, machten sie zögerlich und ängstlich. Außerdem gab es für sie auch wenig Anlass zu größeren Umbrüchen, denn v.a. seit den 1880ern brummte die Konjunktur, Russland hatte hohe industrielle Wachstumsraten, die nur von den USA übertroffen wurden. Der zaristische Staat befeuerte diesen Aufschwung durch große Infrastrukturinvestitionen.

Die Intelligenz

Die Modernisierung und der wirtschaftliche Aufschwung Russlands durch die Reformen begünstigten auch die Entstehung der Intelligenz. Bildung und Wissenschaft weiteten sich aus. Diese Entwicklung geriet aber zunehmend in Widerspruch zu den reaktionären Strukturen des Zarismus. So erkämpften sich die Universitäten eine gewisse Autonomie gegenüber dem Staat (die dann später von den Bolschewiki abgeschafft wurde). Das begünstigte die Politisierung und die Herausbildung sozialreformerischer und revolutionärer Einstellungen der Intelligenz. Ein weiterer Faktor, der die Gegnerschaft der Intelligenz zum System beförderte, war, dass der Adel weiterhin die meisten Führungsposten im Staatsapparat besetzte und vielen Intelligenzlern die Aufstiegschancen nahm. Besonders krass traf diese Benachteiligung die Juden, was auch erklärt, warum viele Juden zu den entschlossensten Revolutionären gehörten. Diese linke und aufrührerische Intelligenz unterschied Russland von anderen Ländern und war von besonderer Bedeutung für die Konstituierung der Arbeiterbewegung und der Linken.

Aus der besonderen Stellung der Intelligenz in Russland erklärt sich auch der stark ausgeprägte Substitutionalismus der gesamten russischen Linken. Angesichts der zahlenmäßig kleinen Arbeiterklasse und die sehr rückständige Bauernschaft glaubten viele Linke, dass sie quasi als Stellvertreter, als Befreier der Massen auftreten müssten, weil diese selbst dazu nicht fähig wären. Von da aus war es nur ein kleiner Schritt zu der Vorstellung, den Massen das Glück per Staat dekretieren zu können, notfalls mittels Gewalt.

Die Staatsmacht

Der Zarismus war fraglos eine strenge Autokratie, ein „Hort der Reaktion“, wie er von der europäischen Linken genannt wurde. Politische Rechte gab es kaum. Allerdings wird oft übersehen, dass nach 1861 auch ein Reformprozess eingeleitet wurde, der auf die Modernisierung und die Förderung kapitalistischer Verhältnisse zielte. Diese Reformen umfassten viele Bereiche, z.B. Justiz, Bildung und Wissenschaft.

Dass diese Reformen aber v.a. im politischen Bereich auf sehr enge Grenzen stießen, zeigte sich dann 1917 in der Reaktion des Zaren auf die Revolution. Hier offenbarte sich, wie unflexibel und ungeschickt der Zar und sein Umfeld agierten. Das lag letztlich auch daran, dass ihre sozialen Stützen ebenfalls sehr schwach waren. Der Adel hatte – nicht zuletzt durch die Reformen – viel von seiner ökonomischen Macht verloren, stellte aber immer noch das Gros des Staatsapparats und der Offizierskaste. Die Bourgeoisie wiederum war relativ schwach und fürchtete einerseits die Revolution, war aber auch keine wirkliche Verteidigerin des Zarismus.

Hier ist ein Vergleich mit der deutschen Revolution aufschlussreich. Der Kaiser dankte hier genauso schnell ab wie der Zar, doch während es in Russland der provisorischen Regierung – hinter der auch die Bourgeoisie (Kadettenpartei) stand -, nicht gelang, die revolutionäre Dynamik zu stoppen und die mit dem Oktoberaufstand mühelos hinweg gefegt wurde, konnte sich die deutsche Bourgeoisie halten und die Revolution schlagen. Natürlich waren diese konträren Entwicklungen auch der Tatsache geschuldet, dass es in Russland mit den Bolschewiki eine Partei gab, die bereit und in der Lage war, die Revolution zum Sieg zu führen, während in Deutschland die SPD dazu unfähig war, weil deren Führung gegen die Revolution arbeitete bzw. diese auf eine bürgerlich-demokratische Phase begrenzen konnte. Doch zweifellos kann das ganz unterschiedliche Schicksal der beiden Revolutionen nicht nur auf die Frage der jeweiligen Führung der Arbeiterklasse begrenzt werden; es muss auch die gesamte, sehr unterschiedliche Gesellschaftsstruktur berücksichtigt werden.

Das Agieren der Provisorischen Regierung in Russland war in jeder Hinsicht dumm und inkonsequent und arbeitete so den Bolschewiki ungewollt in die Hände. Die Politik Kerenskis ist letztlich damit erklärbar, dass er die Interessen der Bourgeoisie vertrat und deshalb nicht auf die Forderungen der Masse der Arbeiter und Bauern eingehen konnte. Aufgrund der Schwäche der Bourgeoisie und der städtischen Mittelschichten mangelte es der Kerenski-Regierung aber an sozialer Verwurzelung und Unterstützung, um eine konsequentere Politik umsetzen zu können.

Im Unterschied dazu erwies sich die deutsche Bourgeoisie und deren Machtelite als wesentlich cleverer. Der Kaiser wurde fallen und die SPD ans Ruder gelassen, um das System zu retten. Was sich im Nachhinein als für das Kapital erfolgreiche Operation erwies, war aber für die Kapitalisten auch nicht ohne Risiko. Immerhin war nicht ausgemacht, wie sich die revolutionäre Dynamik entfalten würde und was diese mit der Sozialdemokratie macht. In mancher Hinsicht erwies sich die SPD-Politik ja schon ab 1914 als ein Pyrrhus-Sieg, weil er die vormals unangefochtene Dominanz der SPD über die Arbeiterklasse durch die Entstehung der KPD untergrub.

Ein Gedanke zu „1917 – ein Modell für heute? (Teil 1/2)“

  1. Die Geschichtstheorie von den Klassenkämpfen zwar zurückweisend, die Marx/Engelsche Kritik der politische Ökonomie des Kapitals aber um so mehr bejahend, gehe ich kurz ein auf die im Beitrag angesprochene Schwäche des russischen Bürgertums. Wie Herr Graaf sicherlich zutreffend feststellt, war die russische Bourgeoisie politisch schwach, weil sie klein und sozial wenig verwurzelt war, und nicht etwa, weil sie geistig rückständig gewesen wäre.

    Hier der Bogen nun zur Gegenwart: Das aktuelle deutsche (und überhaupt weltweite) Bürgertum ist zwar beachtlich groß, doch man sehe nur, welchen katastrophalen politisch-ökonomischen und sonstigen Schwachsinn seine prominenten Vertreter allesamt von sich geben — auf Namensnennungen sei rücksichtvoll verzichtet.

    Es fehlt heute an den ureigentlichen Kapitalisten, an jenen, die Eigentümer und Betriebsführer sind in Personalunion. Allein solche Unternehmer besitzen noch gewisse praktische Gestaltungs- und Handlungsspielräume, und darum macht für allein solche ein Denken über mehr als kurzfristig orientiertes Gewinnerzielungsstreben überhaupt noch Sinn. Die Rede hier von eigentümergeführten KMU. Hingegen sind angestellte Manager von GMBH’s, AGs und konzernzugehörigen Unternehmen ausschließlich ihren Geldgebern bzw. Investoren verpflichtet. Welche möglichst schwarze Zahlen zu sehen einfordern. Und sich ansonsten einen Dreck scheren ums Morgen — ein Mausklick, und Kapital ist umgeschichtet!

    Heutige „Unternehmer“ sind Dienerschaften eines quasi feudalen Investorenadels geworden. Und sind – wie der Herr, so’s Gescherr‘ – genauso blöd wie ihre geldadligen Herrschaften.

    Fazit: Nicht nur die politischen und organisatorischen Vertretungen der Arbeiterklasse sind von Borniertheit und Ignoranz regiert. Denn: liberale Phase, dann monopolistische, dann imperialistische, jetzt spätimperialistische — es geht immer noch größer und anonymer, sprich: die sind so blöd und dumm geworden, daß sie selbst den Strick knüpfen, an dem Klausi-Mausi, Merry Larry, Linky Elon und Killy Billy sie aufhängen werden.

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