Hanns Graaf
In vielen Medien, z.B. im ZDF in Person von Marietta Slomka in der Nachrichtensendung Heute, wurde Ende November des Holodomors gedacht. Als Holodomor (dt. bittere Ernte) wird die Hungersnot von 1932/33 in der UdSSR bezeichnet, die als bewusster Genozid an den Ukrainern interpretiert wird. Die Zahl der Opfer variiert in den Darstellungen, betrug aber mindestens drei Millionen in der gesamten UdSSR. Die meisten Toten gab es damals in der Ukraine, nach Russland die größte Sowjetrepublik. Als Ursache der Katastrophe wird die 1929 von Stalin angeordnete Zwangskollektivierung angesehen.
Die These vom Holodomor wurde zuerst 1935 von US-Zeitungen des Medienmoguls Hearst verbreitet. Hearst bekannte sich als Anhänger Hitlers und Mussolinis. Eine Neuauflage erlebte der Geschichtsmythos dann 1986 mit dem Buch „Harvest of Sorrow“ von Robert Conquest. Trotz aller Bemühungen von Seiten reaktionärer Kräfte wird die These vom Holodomor aber von den meisten Historikern als unwissenschaftlich abgelehnt. Sie unterstellt, dass die Zwangskollektivierung von Stalin absichtlich dazu genutzt worden wäre, möglichst viele Ukrainer umzubringen. Daher hätte es sich um einen Völkermord gehandelt. Diese These wird auch von den ab 2014 regierenden Kiewer Regimen massiv verbreitet.
Historische Fakten
Es ist unbestreitbar, dass die Zwangskollektivierung unter Stalin zu einem starken Absinken der agrarischen Produktion und damit zu Hunger geführt hat. Experten für die Agrargeschichte der UdSSR betonen aber, dass auch die Umweltbedingungen sehr ungünstig waren. Weite Gebiete der UdSSR waren 1931/32 von einer schweren Dürre, andere von Starkregen und Überflutungen betroffen, so dass große Teile der Ernte vernichtet wurden. Durch die hohe Feuchtigkeit brachen Pflanzenkrankheiten aus, Schädlinge und Unkraut vermehrten sich massenhaft. Das führte dazu, dass die Getreideabgabe an den Staat 1932 von ca. 19 auf 14 Mill. Tonnen sank. Die Behauptung, dass die umfangreichen Getreideexporte die Hungerkrise noch verschärft hätten, stimmt nur zum Teil. Von Mitte 1931 bis Mitte 1932 waren 4,7 Mill. Tonnen Getreide exportiert worden, im Folgejahr nur noch 1,6 Mill. Tonnen. Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, dass, statt angesichts periodisch vorkommender Missernten Reserven anzulegen, ein Vabanquespiel mit der Ernährungssicherung betrieben wurde, indem der Getreideexport exzessiv gesteigert worden war. Doch die Tatsache, dass während der Hungermonate fast 6 Mill. Tonnen an Nahrung und Saatgut in die Hungergebiete geliefert und dabei auch die Reserven und die Depots der Armee geleert wurden, zeigt, dass die Führung sehr wohl darauf bedacht war, den Hunger zu bekämpfen und ihn nicht absichtlich zu vergrößern.
Die Zwangskollektivierung war mit der Verhaftung, Tötung und Vertreibung von Hunderttausenden verbunden. Stalin selbst war angesichts des angerichteten Chaos gezwungen, dem Treiben der Bürokraten und der Staatssicherheit Einhalt zu gebieten. Stalins Politik zerstörte den produktivsten Teil der Landwirtschaft und installierte ein pseudo-genossenschaftliches Kolchos-System, das nicht funktionierte und auch nicht funktionieren konnte. Die mitunter gebrauchte These, dass dadurch Arbeitskräfte für die Industrie freigesetzt wurden, um die Industrialisierung zu ermöglichen, ist historisch kaum haltbar, da das Bevölkerungswachstum so hoch war, dass es auch ohne das „Bauernlegen“ genug „überschüssige“ Arbeitskräfte gab.
Trotz des Terrors war die Massentötung von Zivilisten nie die Absicht der Staatsführung. Die Zwangskollektivierung hatte zwei Ziele: 1. die Schwächung bzw. Enteignung des Einflusses der „Kulaken“ (Mittelbauern) und die breite Einführung des Genossenschaftssystems. Damit sollte die Produktivität der Landwirtschaft gesteigert werden – auch, um mit den Exporterlösen die Industrialisierung massiv voran treiben zu können. Ziel Stalins war es also, die soziale Entwicklung des Landes zu forcieren. Letzteres gelang auch – wenn man die industriellen Wachstumsraten ab 1928, dem Beginn des 1. Fünfjahrplans und der beschleunigten Industrialisierung, betrachtet. Das Entwicklungsmodell, die Industrie mittels der Erlöse aus dem Agrarsektor aufzubauen, war jedoch nicht neu. Schon ab Ende des 19. Jahrhunderts gelang es so (in Ergänzung zum Auslandskapital, das nach Russland floss), das Land zu modernisieren, Eisenbahnen und Fabriken zu bauen. Immerhin war Russland um die Jahrhundertwende einer der größten Getreideexporteure der Welt – ein Status, der unter dem Stalinismus nie und erst vor wenigen Jahren unter Putin (ohne die Ukraine) wieder erreicht wurde.
Die Strategie Stalins entsprach also durchaus den objektiven Entwicklungsbedürfnissen des Landes. Doch die Ergebnisse seiner Agrarpolitik standen diesem Ziel komplett entgegen. Warum? Zunächst müssen wir sehen, dass die Zwangskollektivierung eine doppelte Kurskorrektur darstellte. Stalin brach mit der Methode Lenins, die Kollektivierung der Landwirtschaft nur auf freiwilliger Basis und in Einklang mit den sozial-ökonomischen Gegebenheiten durchzuführen. Das Vorgehen der stalinschen Bürokratie bestand aber nur aus Druck und Gewalt. Zudem gab es kaum Ressourcen, eine genossenschaftliche Großproduktion einzuführen. Es fehlte an Landtechnik, an Dünger und am Knowhow der Bauern für moderne Produktionsmethoden. V.a. aber wollten sie mehrheitlich keine Genossenschaften und stattdessen ihren durch die Revolution eben erst erhaltenen Boden behalten. Genossenschaften gab es auch schon vor 1929, jedoch blieben sie – mangels Nachfrage – Ausnahmen.
Die Zwangskollektivierung stellte auch einen Bruch mit der Politik Stalins und Bucharins in den Jahren vor 1929 dar. Beide befürworteten damals eine langsame Industrialisierung und förderten das Mittelbauerntum, zugleich drohten sie ihm aber permanent – wie schon seit 1917 – mit der Enteignung. Ab 1921, mit der Neuen ökonomischen Politik (NÖP) Lenins, wurde dem kleinen Privateigentum wieder mehr Spielraum zugestanden, um die Wirtschaftskrise zu überwinden. Diese Politik (von Lenin „taktischer Rückzug“ genannt) hatte Erfolg, erzeugte aber eine neue Schicht von reichen Emporkömmlingen: die „NÖP-Leute“. Die Politik versäumte es jedoch, durch ein System von geeigneten Maßnahmen, z.B. eine progressive Besteuerung, diese Entwicklung einzudämmen und zu beherrschen. Stalin beendete die ökonomisch durchaus erfolgreiche NÖP dann abrupt 1927.
Auf dem Land war die Masse der kleinen Bauern immer abhängiger von den Mittelbauern (Großbauern im westlichen Sinn gab es kaum) geworden. Da die „Kulaken“ – ein pejorativer Begriff und keine soziologische Kategorie – ihre Wirtschaften nicht vergrößern durften, wurde die Vermietung und Verpachtung von Feldern und Gerät zu Wucherpreisen für sie ein wichtiges Geschäftsmodell. Dazu kam, dass sie durch das Horten von Getreide die Preise hochtrieben, was erneut zu Problemen bei der Versorgung der Städte führte. Verursacht wurde diese Misere aber auch durch zwei Missernten und durch zu niedrige Aufkaufpreise für Getreide durch den Staat sowie durch den exorbitanten Getreideexport. Auch der politische Einfluss der Kulaken auf die dörflichen Sowjets hatte zugenommen. Dem inzwischen schon weitgehend bürokratisierten Staatsapparat erwuchs somit eine Konkurrenz. Das Problem musste gelöst, die Kulaken sollten enteignet werden.
Aufbau des Sozialismus?
Wir sehen, dass Stalins Politik erst selbst ein Problem geschaffen hatte, um es dann mit ungeeigneten Mitteln zu „lösen“. Viele Bauern wehrten sich gegen die Enteignung und die Kollektivierung – es war dieselbe Reaktion der Bauern wie schon ab 1918 bei der Zwangseintreibung von Getreide: sie verkleinerten die Anbaufläche, schlachteten ihr Vieh und betrogen den Staat, wo es ging. Daneben gab es die sog. Scherenkrise, die darin bestand, dass es an Industriewaren als Äquivalent für die Agrargüter der Bauern mangelte. Zudem hatten sie eine schlechte Qualität und waren überteuert. Dadurch fehlte den Bauern der Anreiz, mehr zu produzieren. Als Stalin 1928 die forcierte Industrialisierung einleitete, wurde die Relation zwischen den Investitionen in Schwerindustrie und Rüstung gegenüber denen in die Leichtindustrie und in Landtechnik zu stark zugunsten ersterer verschoben. Hintergrund dieser Politik war Stalins absurde Angst vor einer kurzfristigen imperialistischen Aggression, die in den 1920ern aber völlig irreal war. Doch die Angst vor einem Krieg war sehr gut dafür geeignet, die Umsetzung von Terrormaßnahmen gegen „Spione“ und „Schädlinge“ aller Art zu begründen.
1929/30 wurden dann Millionen von Bauern in die Kolchosen gezwungen, v.a. arme Bauern, die wenig zu verlieren hatten, wurden Mitglied. Da sie aber weder großes Interesse an, noch Ahnung, noch kurzfristige Vorteile von der Genossenschaft hatten, war deren Produktivität gering und die Bauern „zweigten ab“, was sie konnten.
Die Kollektivierung war zwar langfristig historisch alternativlos – doch nicht die Art und Weise ihrer Umsetzung. Sie überwand die ineffiziente individuelle Kleinwirtschaft und schuf Grundlagen für die Modernisierung der Landwirtschaft. Doch das überstürzte Vorgehen und der Zwang verschlechterten die Situation in der Landwirtschaft, der Output sank. Es dauert Jahre, bis der Stand von 1914 wieder erreicht war. Der produktivste Agrarsektor, die Mittelbauern, wurde 1929/30 liquidiert. Doch auch die Genossenschaften scheiterten. Das führte die Bürokratie dazu, die Vergenossenschaftlichung wieder etwas zurückzudrehen. In vielen Gegenden, wo bis zu 100% der Bauern kollektiviert waren, durften die Bauern nun wieder aus den Kolchosen austreten – und taten dies oft massenhaft.
Obwohl es außer in den Kriegsjahren ab 1941 keine Nahrungskrise mehr gab, blieb die Produktivität der sowjetischen Landwirtschaft immer weit unter dem westlichen Niveau. Was oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass die Kolchosen nur pro forma Genossenschaften und eher besondere Staatsbetriebe waren. So konnten die Vorteile des Genossenschaftswesens (materielle Interessiertheit, kollektive Entscheidung usw.) kaum zur Geltung kommen.
Das Ergebnis – aber nicht die Absicht – des Stalinschen Aktionismus war ein enormer Ertragseinbruch, dessen Auswirkungen noch durch die wetterbedingte Missernte und den Getreideexport verschlimmert wurden. Doch von diesem Drama waren alle Teile der UdSSR mehr oder weniger betroffen, nicht nur die Ukraine. Es trifft zu, dass Stalin auch massenhaft Intellektuelle und (angebliche) Oppositionelle in der Ukraine liquidieren ließ. Doch auch das traf nicht nur die Ukraine, sondern den gesamten Machtbereich Stalins. Auch hierbei ging es nicht um einen Genozid, wie etwa beim Holocaust der Nazis an den Juden, sondern um die Bekämpfung jeder (vermeintlichen) Opposition und die Verbreitung von Terror als Machtinstrument.
Die These vom Holodomor als Völkermord an den Ukrainern ist historisch falsch. Das Problem, bestand nicht darin, dass Stalin das Land ruinieren und absichtlich Millionen umbringen wollte, sondern darin, dass er eine völlig ungeeignete Politik umsetzte – ungeeignet nicht nur hinsichtlich der Entwicklung des Landes, sondern v.a. ungeeignet zum Aufbau des Sozialismus. Oft wird Stalins Politik deshalb als erfolgreich hingestellt, weil er die Industrialisierung voran trieb. Doch es wird dabei fast immer ausgeblendet, dass die Zwangskollektivierung damals ähnlich viel Produktivkraft vernichtete, wie in der Industrie neu entstand, was die „Erfolgsbilanz“ der bürokratischen Gigantomanie Stalins stark relativiert. Zudem waren die Industrialisierung und die Zwangskollektivierung mit der kompletten Ausschaltung jeder Möglichkeit der Selbstbestimmung der gesellschaftlichen Entwicklung durch die Massen verbunden. Sie waren damit wirtschaftlich enteignet und politisch entmachtet. Unter Stalin war die Lage der Arbeiterklasse in den 1920ern und 30ern oft schlechter als vor 1917. Die UdSSR war ein einziges großes Gefängnis. Letztlich führte Stalins Entwicklungsmodell der totalen Verstaatlichung und Militarisierung der Gesellschaft nicht zum Kommunismus, sondern zum Kollaps von 1989/90. Die UdSSR war ab 1930 staatskapitalistisch und nicht sozialistisch oder auf dem Weg zum Sozialismus. Aus Lenins Losung „Kommunismus = Elektrifizierung + Sowjetmacht“ hatte Stalin die Sowjetmacht gestrichen.
Propaganda statt Wahrheit
Wenn heute in den Medien vom Holodomor die Rede ist, geht es natürlich nicht um die Darlegung historischer Fakten, sondern nur darum, die anti-russische Propaganda „historisch“ herzuleiten. Noch absurder wird die Sache, wenn das Kiewer Regime vom Holodomor spricht. Gerade dieses Regime ehrt den Massenmörder, Antisemiten und Nazi Stepan Bandera und errichtet ihm Denkmale. Gerade dieses Regime lässt Strukturen wie das Asow-Regiment unter faschistischen Symbolen agieren – als Terrortruppe gegen Linke, Oppositionelle und Gewerkschafter sowie gegen die Bevölkerung der abtrünnigen Donez-Republiken, die es gewagt hatten, ihr demokratisches Recht auf nationale Selbstbestimmung wahrzunehmen. Gerade dieses Regime verbietet und verfolgt jede Opposition.
Es ist nicht neu, dass Reaktionäre und Kriegstreiber ihr Vorgehen mit demokratischen und sonstigen „humanistischen“ Begründungen bemänteln. So hatte auch Hitler immer nur friedliche Absichten, so kämpfen auch die USA immer nur für die Demokratie, so ist auch der deutsche Imperialismus weltweit (und bis vor kurzem auch noch am Hindukusch) im Einsatz – um die Demokratie zu sichern, Brunnen zu bohren und kleine Mädchen in die Schule zu bringen. Man fragt sich nur, warum die Welt nach 130 Jahren Engagement des Imperialismus immer noch so ein schlechter Ort ist …
Die Saga vom Holodomor dient auch dazu, jede Alternative zum Kapitalismus als unmöglich oder verbrecherisch darzustellen. Die These vom Völkermord durch die Kreml-“Kommunisten“ verstellt den Blick darauf, dass die nach-revolutionäre Entwicklung der UdSSR damit verbunden war, die ohnehin erst bescheidenen Ansätze für eine Entwicklung zum Kommunismus auszumerzen: das Sowjetsystem und jede Form von Demokratie überhaupt. Alle politischen Maßnahmen der Stalin-Bürokratie – ob berechtigt oder nicht – waren nicht Ausdruck des Aufbaus des Sozialismus, sondern dienten dem Machterhalt der Bürokratie als neuer herrschender Klasse. Sie führte nicht zur Überwindung der Verhältnisse von Lohnarbeit, Ausbeutung und Unterdrückung, sondern nur zu deren Modifizierung im Rahmen des Staatskapitalismus. Sie zielten nicht auf die Unterstützung der internationalen Revolution, sondern auf einen strategischen Kompromiss mit dem Imperialismus und die Unterordnung des Proletariats unter die Bourgeoisie mittels der Volksfrontpolitik (Frankreich, Spanien usw.). Insofern darf die berechtigte Kritik an der reaktionären und unwissenschaftlichen These vom Holodomor nicht zur Relativierung der Irrtümer und Verbrechen oder gar zur Verteidigung des Stalinismus führen.
Die Stalinsche Politik der Zwangskollektivierung und der Hyperindustrialisierung folgte bürokratischen und unterdrückerischen Methoden, sie war voluntaristisch und entbehrte einer wirklichen Analyse der Verhältnisse. Sie fiel von einem Extrem ins andere, was schon in den 1920ern von der Linken Opposition um Trotzki zurecht als Zickzack-Kurs kritisiert wurde. Noch extremer war die Politik des Stalinisten Mao in China davon geprägt. Bei aller Kritik an den bürgerlichen Lügnern und Geschichtsfälschern müssen Linke v.a. die realen Erfahrungen mit politischen Konzepten wie denen Stalins verarbeiten und Schlüsse daraus ziehen.