Vorbemerkung: Wir dokumentieren hier einen Beitrag des Lehrers Manuel Pape zur Situation der Bildung im Land Brandenburg, das von einer Koalition aus SPD und BSW regiert wird. Nach Bekanntgabe der neuesten bildungspolitischen Pläne dieser Koalition (she. Text) gab es am 21. Mai eine Protestaktion der Lehrer in Potsdam. Redaktion Aufruhrgebiet.
Liebe Eltern & Erzieher, liebe Medienvertreter,
es ist nicht mehr 5 vor 12 – es ist längst halb eins.
Derzeit kursiert durch die Medien die Diskussion um eine zusätzliche Unterrichtsstunde für alle Lehrkräfte ab dem 2. Halbjahr des kommenden Schuljahres. Wussten Sie, dass dies beileibe nicht die einzigen Einsparungen der Landesregierung im Bereich Schule sind, sondern in der vergangenen Woche (19.-23.5.2025) massiv in die Stundenkontingente der Schulen eingegriffen wurde? Ich möchte Ihnen erklären, was passiert ist und was das jetzt für die Bildung unserer Kinder bedeutet:
Für jede Schule wird anhand einiger Faktoren (Anzahl der Schülerinnen und Schüler, Anzahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, Anzahl der Kinder mit fremdsprachlichem Hintergrund…) berechnet, wie viele Lehrerwochenstunden (eine Lehrerwochenstunde ist eine Stunde, die ein Lehrer in der Woche unterrichtet) einer Schule zusteht.
Lehrer in Brandenburg unterrichten derzeit zwischen 25 und 27 Stunden in der Woche. Oben drauf kommen: Aufsichten, Korrekturen, Planung, Fachkonferenzen, Dienstberatungen, Elterngespräche, kollegiale Fallberatung, Fortbildungen, Konzepterstellung, Zeugnisse schreiben, Klassenkonferenzen, Förderteam, Rückmeldungen etc., so dass man gut und gerne – je nach Schulform und Unterrichtsfächer – auf 50-60h Arbeit pro Woche kommt.
Den Bedarf an Lehrerwochenstunden kann eine Schule jederzeit auf einer Online-Plattform einsehen. Nun wurden durch die Landesregierung verschiedene Parameter geändert und für die Schulen ein neuer Bedarf berechnet. Als Beispiel möchte ich meine Grundschule nehmen. Hatten wir also vor der Neuberechnung im neuen Schuljahr einen Mangel von 50 Lehrerwochenstunden (= uns würden fast zwei Lehrer fehlen), so haben wir nun plötzlich einen Überhang von 10 Lehrerwochenstunden, sodass eine Lehrkraft teilversetzt werden muss, also diese 10 Stunden an einer anderen Schule unterrichten wird. Uns wurden über Nacht einfach mal 60 Stunden Unterricht pro Woche gekürzt!! Woher sollen wir diese Stunden nehmen? Auch das wurde festgelegt: wir müssen beim Unterricht für Schüler mit Migrationshintergrund und noch viel extremer bei unseren Integrationsstunden für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf (z.B. Lernen, geistige Entwicklung, Sehen, Hören oder Autismus) sparen. Hier auch noch mal eine konkrete Zahl aus meiner Schule: Wir hatten bisher aufgrund einer relativ hohen Anzahl von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine relativ hohe Zahl von Förderstunden (zwischen 45 – 65 Lehrerwochenstunden). Über Nacht wurde diese Zahl auf lächerliche 15 (!!!) Stunden pro Woche zusammen gestrichen. Das bedeutet, dass wir für 12 Klassen jeweils nur noch eine Stunde Förderunterricht pro Woche anbieten können. Ein Kind geht wortwörtlich über Tische und Bänke? – Der Sonderpädagoge kann leider nicht helfen. Ein traumatisiertes Kind benötigt ein Gesprächsangebot? – Der Sonderpädagoge kann leider nicht helfen. Kinder mit einer Lernschwäche haben den Stoff nicht verstanden? – Der Sonderpädagoge kann leider nicht helfen. Ein Kind wird zu Hause misshandelt? – Der Sonderpädagoge kann leider nicht helfen.
Jedes Kind, das einen sonderpädagogischen Förderbedarf hat, hat ein gesetzlich festgelegtes RECHT auf individuelle Förderung! Dieses Recht wird ihnen genommen! Gleichzeitig leiden alle anderen Kinder der Klasse, weil die gesamte Schülerschaft keine Unterstützung durch eine zusätzliche Lehrkraft erhält.
Außerdem wird es, wie oben bereits erwähnt, ab dem 2. Halbjahr des kommenden Schuljahres eine zusätzliche Unterrichtsstunde pro Woche für jede Lehrkraft geben. Dass eine Stunde Unterricht nicht eine Stunde mehr Arbeit bedeutet – da Vor- und Nachbereitung, ggf. Testkontrolle, ggf. zusätzliches Elterngespräch, ggf. Teilnahme an einer zusätzlichen Fach- und/oder Klassenkonferenz hinzukommen – braucht wohl nicht weiter erläutert werden. Wussten Sie auch, dass diese Mehrarbeit ohne zusätzliche Bezahlung erfolgen muss? Für unsere Schule bedeutet diese Mehrarbeitsstunde übrigens, dass wir aufgrund des daraus folgenden Stundenüberhangs noch eine Lehrkraft abgeben müssen.
Im zweiten Halbjahr des kommenden Schuljahres haben wir dann de facto über 90% unserer Stunden nur einfach vergeben – was bedeutet, dass fast nie ein Lehrer für Förder- oder Differenzierungsunterricht zusätzlich vorgesehen ist. Sollte dann nur eine Lehrkraft krank werden, so wird zwangsläufig flächendeckend Unterricht ausfallen müssen. Sollten gar zwei oder mehr Lehrkräfte krank werden, dann werden wohl auch bei uns Klassen tageweise zu Hause bleiben müssen.
Außerdem werden wir aufgrund der unfassbar dünnen Personaldecke zukünftig nichts mehr durchführen können, was ein funktionierendes Schulleben ausmacht: Wander- und Projekttage werden ebenso gestrichen wie Klassenfahrten, Schul- und Sportfeste, Adventsbasare, Unterrichtsgänge und weitere Aktivitäten, die der persönlichen Entwicklung der Schülerinnen und Schüler dienlich sind.
Liebe Leserin, lieber Leser,
die angekündigten Kürzungen unserer Landesregierung greifen so massiv in den Schulbereich ein, dass die Nachwirkungen noch Jahre später spürbar sein werden. Klare und eindeutige Verlierer sind unsere KINDER!
Wir dürfen diese Entwicklung nicht tatenlos zulassen! Bitte helfen Sie uns und werden Sie LAUT! Melden Sie sich beim Bildungs- und/oder Finanzministerium und bringen Sie Ihren Unmut zum Ausdruck! Kämpfen Sie für Ihre und unsere Kinder!
Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, Heinrich-Mann-Allee 107, 14473 Potsdam, ministerbuero@mbjs.brandenburg.de
Ministerium der Finanzen und für Europa, Heinrich-Mann-Allee 107, 14473 Potsdam, poststelle@mdfe.brandenburg.de
Sie können sich außerdem an die Elternvertretungen Ihrer Schulen wenden – oder an die Landeselternvertretung: www.landesrat-der-eltern-brandenburg.de
Liebe Medienvertreter, bitte berichten Sie umfassend über die unhaltbaren Zustände im Brandenburgischen Bildungssystem. Ich stehe für Interviews und weitere Informationen bereit.
Aus meiner Sicht wurde ein kaputtes System jetzt komplett zerstört.
Mit gewerkschaftlichen Grüßen
Förderschullehrer Manuel Pape, info@manuelpape.de
Sonderpädagoge an einer Grundschule