Vorwort
Mit dem „ABC des Marxismus“ stellen wir in unregelmäßiger Folge Artikel vor, in denen wichtige Begriffe, die im Marxismus eine Rolle spielen, erläutert werden. Wir versuchen, diese Beiträge in kurzer und leicht verständlicher Form zu verfassen, um nicht oder wenig „vorgebildeten“ LeserInnen, v.a. jüngeren, den Einstieg in den Marxismus und seine Art der Weltbetrachtung und -veränderung zu erleichtern. Die Texte des ABC sind in ihrer Art insofern nicht streng „theoretisch“, sondern eher populär geschrieben. Sie ersetzen nicht die genauere Beschäftigung mit dem Marxismus und das Lesen von Originaltexten von Marx, Engels u.a., sondern sollen deren Verständnis erleichtern. Wir verstehen das ABC als „Einstiegshilfe“, um die Gesellschaft, den Klassenkampf – schlicht den Gang der Geschichte – besser verstehen, den Kapitalismus bekämpfen und schließlich überwinden zu können.
(Die Redaktion, 26.9.16)
Was ist Ausbeutung?
Unter Ausbeutung wird oft verstanden, dass Beschäftigte zu wenig verdienen oder zu lange oder zu schwer dafür arbeiten müssen. Sie glauben, dass sie keinen „gerechten Lohn“ erhalten.
Doch Ausbeutung im wissenschaftlichen Sinn bedeutet mehr. Jeder Besitzer von Produktionsmitteln – ob Sklavenhalter, Feudalherr oder Kapitalist – beutet Arbeitskräfte aus, sonst könnte er nicht deutlich besser leben als jene, die für ihn arbeiten. Wie aber funktioniert Ausbeutung im Kapitalismus? Der Kapitalist investiert Geld in Maschinen, Gebäude, Energie, Rohstoffe usw. Dieses Geld ist in materiellen Dingen angelegt und heißt daher „fixes Kapital“. Um aber produzieren zu können, muss er auch Arbeitskräfte kaufen, denn sie gehören ihm nicht, sie sind keine Sklaven. Sie sind rechtlich frei, aber auch – wie Sklaven – frei von Produktionsmitteln (Fabriken, Banken, Reichtum, Aktien usw.). Wir sprechen daher von „doppelt freien“ Lohnarbeitern. Ihr Lohn heißt ökonomisch „variables Kapital“. Obwohl rechtlich frei, sind die ArbeiterInnen faktisch abhängig, weil sie nur ein Einkommen erzielen können, wenn sie für andere (die Kapitalbesitzer, welche die Arbeitsplätze stellen) arbeiten; daher sie sind lohnabhängig.
Der Kapitalist kauft nicht den Arbeiter selbst, sondern dessen Arbeitsleistung. Er kauft sie für eine bestimmte Zeit, sagen wir für 40 Stunden pro Woche, für einen bestimmten Lohn, sagen wir netto 1.600 Euro pro Monat. Die vom Arbeiter hergestellten Produkte werden danach vom Kapitalisten verkauft. Wenn alles klappt, macht der Unternehmer dabei Gewinn (Profit). Wie entsteht aber dieser Gewinn?
Ein Arbeiter erzeuge in einem Monat Güter für sagen wir 4.000 Euro (Verkaufspreis). In diesem Wert sind enthalten, d.h. es kostet den Kapitalisten: 1.600 Euro Lohnkosten, 500 Euro Steuern sowie anteilige Nutzung und Abnutzung des fixen Kapitals im Wert von 1.000 Euro = 3.600 Euro. Beim Verkauf erzielt er also 400 Euro Gewinn (4.000 minus 3.600). Der Arbeiter erzeugt also mehr Wert (daher Mehrwert), als er selbst als Lohn erhält. M.a.W.: er arbeitet also nur einen Teil seiner Arbeitszeit für sich, in der restlichen Zeit – der Mehrarbeit – arbeitet er nur zum Nutzen des Unternehmers. Je größer die Mehrarbeit ist, desto mehr verdient der Kapitalist. Er wird daher immer das Bestreben haben, die Mehrarbeit auszuweiten: durch Lohnkürzung, größere Arbeitsintensität, Verlängerung der Arbeitszeit u.a. Maßnahmen.
Die Grundlage des Profits ist also die Mehrarbeit bzw. die private Aneignung des erzeugten Produkts, das in dieser Zeit hergestellt wird (Mehrprodukt). Kapitalistische Produktion beruht also generell auf Ausbeutung von Lohnarbeit.
Schon früher haben Ökonomen untersucht, woher der Mehrwert kommt. Sie fragten sich, wie der Wert (Preis) einer Ware bestimmt wird. 1662 formulierte William Petty eine Arbeitstheorie des Werts. Er drückte es so aus: Wenn jemand in der gleichen Zeit, in der man einen Scheffel Korn erzeugen kann, eine Unze Silber aus dem Herzen Perus bringen kann, so ist das eine der natürliche Preis für das andere. Kurz: der Wert eines Produkts bestimmt sich aus dem Arbeitsaufwand, mit dem es erzeugt wird.
Adam Smith verbesserte diese Theorie um 1770. Er zeigte, dass sich alle Produkte im Verhältnis des Arbeitsaufwands miteinander austauschen lassen. Doch wenn die Arbeit die einzige Quelle der Wertentstehung ist, und wenn man Produkte gleichen Werts gegeneinander austauschen konnte, wie ließ sich dann der Austausch zwischen Arbeiter und Kapitalist erklären? Es war offensichtlich, dass die Arbeiter nicht den vollen Gegenwert des erzeugten Produkts bezahlt bekamen. Es schien keinen gleichwertigen Austausch im Arbeit-Lohn-Verhältnis zu geben. So meinte Smith, dass sich die Theorie nur auf den Austausch von Waren bezog, nicht auf die Arbeit selbst.
David Ricardo, ein späterer Ökonom, widersprach. Er meinte, die Theorie bezöge sich sehr wohl auch auf den Austausch zwischen Arbeiter und Kapitalist. Doch woher kam nun der Profit, wenn die Arbeit die einzige Wertquelle war und der Austausch gleichwertig verlief? Ricardo sah die enorme Entwicklung der Produktivität, bedingt durch die industrielle Revolution. Er meinte, dass so die Zeit für die Erzeugung der Güter, die die ArbeiterInnen zum Leben brauchten (Nahrung, Wohnung, Kleidung), reduziert wurde und somit der Lohn, der ihnen gezahlt werden musste. So entstünden Profite, und sie könnten nur auf Kosten der Löhne wachsen.
Auch viele frühe Sozialisten stützten sich auf diese These. Sie zogen sie als Beweis heran, dass die Arbeiterklasse beraubt wurde. So hallte denn um 1830 durch Europa die Losung „Für das Recht der Arbeiter auf den vollen Gegenwert ihrer Arbeit! Für einen gerechten Lohn!“ Die Ideologen des Kapitals erkannten, dass Ricardos Theorie gefährlich war. Sie gab jenen Argumente in die Hand, die alles Eigentum als eigentlich der Arbeiterklasse gehörig ansahen und den Gewinn, den andere absahnten, als Raub oder Betrug betrachteten. Deshalb waren die Ökonomen der herrschenden Klasse in den folgenden 20 Jahren damit beschäftigt, Ricardos Theorie und seine Entdeckungen zu verschleiern.
Karl Marx war es dann, der – auf Ricardo und Smith aufbauend – die Frage „Was ist Ausbeutung?“ schlüssig beantwortete. Er entdeckte, dass Arbeit einen doppelten Charakter hatte. Einerseits war sie nützlich. Als solche war sie „konkrete“ Arbeit (Nähen, Programmieren, Fräsen etc.) und unterschied sich von jeder anderen Art konkreter Arbeit. Andererseits war Arbeit „abstrakt“, indem all diese verschiedenen Arten konkreter Arbeit sich gegeneinander austauschen ließen und damit einfach bestimmte Anteile (qualitativ unterschiedslose) gesellschaftlicher Arbeit darstellten.
Aber nicht nur die Arbeit, auch alle durch sie produzierten Waren hatten diesen doppelten Charakter, einschließlich der besonderen Ware Arbeitskraft. Zuvor hatten Ökonomen nur allgemien von Arbeit gesprochen; Marx unterschied nun zwischen Arbeit und Arbeitskraft. Für Marx war Arbeitskraft eine Ware, und ihr Wert wurde – wie bei allen anderen Waren – durch den Arbeitsaufwand bestimmt, der notwendig war, um sie zu produzieren. Ihr Wert war gleich dem Arbeitsaufwand für den Lebensunterhalt (Nahrung, Kleidung u.a. Grundgüter), um die ArbeiterInnen täglich aufs neue zur Arbeit zu befähigen und die „Reproduktion“ der Arbeiterklasse (Kinderbetreuung, Bildung, Gesundheit usw.) zu sichern. Was der Kapitalist kaufte, war die Fähigkeit des Arbeiters zu arbeiten. So wie der Nutzen eines Stifts darin besteht zu schreiben, besteht der Nutzen der Arbeitskraft darin, dass sie Wert schafft und – einzig unter den Waren – mehr Wert schafft, als sie selbst darstellt.
Marx´ Freund Engels drückt es so aus: „In einer gewissen Zeit hat der Arbeiter so viel Arbeit ausgeführt, wie seinem Wochenlohn entspricht. Nimmt man an, dass der Wochenlohn drei Arbeitstagen entspricht, so hat er am Mittwochabend den vollen Wert, den der Kapitalist als Lohn zahlt, ersetzt. Doch hört er dann auf zu arbeiten? Keineswegs. Der Kapitalist hat seine Wochenarbeit gekauft, der Arbeiter muss auch den Rest der Woche arbeiten. Diese überzählige Arbeit, die über die Zeit hinausgeht, die nötig wäre, seinen Lohn zu erarbeiten, ist die Quelle des Mehrwerts, des Profits (…). Der Wert der Arbeitskraft wird voll bezahlt, doch dieser Wert ist weniger als das, was der Kapitalist aus der Arbeitskraft herausholen kann, und genau das ist der Unterschied, die unbezahlte Arbeit, die den Gewinn des Kapitalisten schafft.“
Mit dieser Entdeckung des Wesens der unbezahlten Arbeit wurde dem Begriff Ausbeutung eine präzise Bedeutung gegeben: sie besteht darin, dass den Arbeitern Mehrwert abgepresst wird, Wert also, den sie selbst erzeugen, der aber über den Wert, der zur Bereitstellung ihres Lohns nötig ist, hinausgeht.
Marx überwand damit die Grenzen der klassischen bürgerlichen Ökonomie und die Abhängigkeit der frühen Sozialisten von Ricardos Theorien. Er stellte den Sozialismus damit erstmals auf eine wissenschaftliche Grundlage. Er zeigte, dass Ausbeutung nicht nur in den Praktiken einiger besonders „böser“ Kapitalisten besteht, sondern der Kern des Profitsystems selbst und eine Existenzgrundlage des Kapitalismus ist.