Zu einem Artikel der Gruppe Arbeitermacht
Hanns Graaf
Der Trotzkismus kann für sich in Anspruch nehmen, gegen den Stalinismus gekämpft und dessen unterdrückerische, reaktionäre und konterrevolutionäre Rolle entlarvt zu haben. Das ist unbestreitbar, auch wenn man nicht allen seinen Analysen zustimmen mag. Umso verwunderlicher ist es daher, wenn eine trotzkistische Gruppe Leuten eine Plattform gibt, die offen eine Relativierung und Beschönigung des Stalinismus betreiben.
Ein solcher Fauxpas unterlief der Gruppe Arbeitermacht (GAM). In ihrer Zeitung „Neue Internationale“ (NI) Nr. 117 vom März 2017 (she. www.arbeitermacht.de). Darin brachte sie ein Interview mit Ljudmila Alexejewa Bulavka-Buzgalin, Professorin für Philosophie an der Universität für Finanzwesen und Recht Moskau und Redaktionsmitglied der linken Zeitschrift „Alternativij“.
Nun muss die Meinung einer interviewten Person nicht identisch sein mit jener der Redaktion, aber der – unkommentierte – Abdruck ihrer Meinung lässt zumindest vermuten, dass die GAM die Meinung von Bulavka-Buzgalin (BB) offenbar nicht ganz verkehrt findet. Schauen wir uns die Positionen von Frau Professor an.
Das Proletariat aus Moskauer Sicht
Auf die Frage der NI, welche Bedeutung die Russische Revolution für die russische Arbeiterklasse heute hat, antwortet (BB): „Als Erstes möchte ich den Begriff „Arbeiterklasse“ präzisieren: Heute umfasst er nicht nur IndustriearbeiterInnen, sondern auch alle anderen Gruppen von lohnabhängigen Beschäftigten, wie LehrerInnen, UniversitätsdozentInnen, wissenschaftliche Angestellte, Beschäftigte im Gesundheitswesen, in der Kultur …“. Mit dem Verweis auf „heute“ deutet sie an, dass früher nur die ProduktionsarbeiterInnen zum Proletariat gezählt hätten. Doch das stimmt erstens so nicht, denn selbst der Stalinismus – der v.a. die lohnabhängigen KopfarbeiterInnen (die „Intelligenz“) nicht zur Arbeiterklasse rechnete und als separate Schicht ansah – hat auch Arbeiterschichten, die nicht in der Industrie tätig waren (Handel, Dienstleistungen, Agrarsektor usw.), dazu gezählt.
Zum anderen ist die Definition von BB auch generell falsch, denn zum Proletariat zählen durchaus nicht alle Lohnabhängigen, viele gehören den Strukturen des gegen die Arbeiterklasse gerichteten Unterdrückungsapparats an und können somit nicht zugleich zur Arbeiterklasse gerechnet werden. Die offenkundige Benutzung der „Lohnabhängigkeit“ als einziges Kriterium der Klassenzugehörigkeit ist falsch und widerspricht nicht nur der Marx´schen Methode, sondern auch jener der GAM. Da fragt man sich, ob die GAM das vergessen hat?! BB ist offensichtlich nicht nur das Wesen der Arbeiterklasse, sondern auch die (wachsende) Bedeutung der lohnabhängigen Mittelschichten im modernen Kapitalismus nicht klar.
BB konstatiert in Russland ein verstärktes Interesse für die Oktoberrevolution. Als Grund führt sie u.a. an: „Praktisch ständig berichten die Massenmedien über diejenigen, die „Geld machen“ – Bürokraten, Bänker oder Regierungsleute, aber nie über Menschen, die arbeiten. Und dann fangen die arbeitenden Menschen an, sich mit der historischen Erfahrung eines politischen Systems zu befassen, das dem werktätigen Menschen Respekt entgegengebracht hat.“
Bezüglich 1917 kann man sicher zu recht sagen, dass sich damals die „werktätigen Menschen Respekt“ (und übrigens auch die Macht) verschafft hatten. Doch schon ab den 1920er Jahren – nicht erst unter Stalin – sah es damit schon viel schlechter aus. Es gab kaum ein Land der Welt, wo die Werktätigen so wenige Rechte hatten wie in der UdSSR, wo sie u.a. ihren Arbeitsplatz oder ihren Wohnort kaum wechseln durften, wo sie auf reinen Verdacht hin verhaftet, deportiert und umgebracht werden konnten – was nicht nur ausnahmsweise, sondern massenhaft passierte. Von Respekt kann da wohl keine Rede sein, vielmehr aber von Angst, die alle immer und überall empfanden – vor der Tscheka oder GPU, vor dem Staat, vor der allgegenwärtigen und allmächtigen Bürokratie. Was BB hier – mit Billigung der Trotzkisten der GAM – betreibt, ist nichts anderes, als eine Beschönigung des Stalinismus.
Natürlich ist auch BB nicht unkritisch gegenüber der Sowjetunion: „Der arbeitende Mensch im heutigen Russland versteht mehr und mehr die positive Bedeutung der sozialen Zustände, die die Revolution hervorbrachte (was immer das bedeuten soll, denn Zustände bringen überhaupt nichts hervor, d.A.), zugleich aber ist es wichtig, dass er oder sie nicht die Formen der Entfremdung vergisst, die es im sowjetischen System gab und die zum Zusammenbruch der UdSSR führten.“ Das klingt ganz gut, verschleiert aber tatsächlich die historische Wahrheit. Die Revolution hat zunächst einmal einen Wechsel der politischen Macht bewirkt. Basierend darauf erfolgten dann auch etliche soziale Veränderungen. Doch aufgrund des Bürgerkriegs, der Rückständigkeit des Landes und der Auszehrung des Proletariats waren diese Veränderungen des sozialen Lebens – im Sinne von Verbesserungen Richtung Sozialismus – noch sehr gering. Und bevor diesbezüglich eine wirkliche Dynamik einsetzen konnte, waren die politischen und sozialen Strukturen schon so degeneriert, dass zwar eine nachholende Modernisierung und Industriealisierung erfolgten, diese aber dadurch gekennzeichnet waren, dass sie nicht von den Massen bestimmt waren. Eine wesentliche Mitverantwortung dafür trugen auch Lenin und die Bolschewiki, weil es ihre Konzepte waren, deren Umsetzung all jene Strukturen geschaffen haben, auf denen später der Stalinismus aufbauen konnte.
Die „Entfemdung“, die BB richtig konstatiert, bedeutet im Marx´schen Sinn aber nichts anderes, als dass die ProduzentInnen nicht Subjekte, sondern Objekte der Produktion und des sozialen Lebens blieben. Und ja, daran – nur daran – gingen die UdSSR und der Stalinismus tatsächlich zugrunde. Das Problem in der Position von BB ist nun, dass sie von der „positive(n) Bedeutung der sozialen Zustände“ spricht und die Entfremdung – d.h. die völlige Entmachtung der Massen – quasi nur als „Einschränkung“, als „Mangel“ der sozialen Zustände und nicht als deren entscheidendes Merkmal betrachtet – wie übrigens auch der Trotzkismus. Wenn aber der Sinn jeder sozialen Revolution darin besteht, dass eine andere Klasse die Verhältnisse bestimmt, dann hat die Russische Revolution zwar heroisch begonnen, jedoch schon sehr bald ihr Ziel komplett verfehlt. Die Ablösung von Zar, Adel und Bourgeoisie durch eine neue bürokratische Eigentümer-Klasse, die eine spezifische, ihrer Lage und ihren Interessen vollauf entsprechende Produktionsweise etablierte, kann daher wohl schwerlich als Schritt zum Kommunismus verstanden werden – nicht als halber oder unzureichender Schritt: es war eher ein Schritt weg vom Kommunismus.
Errungenschaften
Wie komplett falsch die Position von BB ist, offenbart sich auch in ihrer Sicht auf die Errungenschaften der UdSSR. Sie sagt: „Erstens brachte die Revolution ein sozial-ökonomisches System hervor, in dem der Lohn von Arbeit abhing. Dazu bekamen die Werktätigen soziale Einrichtungen: Kindergärten, Kultureinrichtungen, Urlaubs- und Erholungsplätze.“ Wahrlich eine tolle Errungenschaft, dass es ein Lohnarbeitssystem gab. Das hat der Kapitalismus auch. Um das zu etablieren, hätten auch die Menschewiki die Revolution weiterführen können, denn die Etablierung bürgerlich-demokratischer Verhältnisse in Russland – als selbstständiger historischer Periode – war genau deren Ziel.
Dass es soziale Einrichtungen gab, lässt sich nicht bestreiten – doch die gibt es in dieser oder jener Form und in bestimmtem Ausmaß auch im Kapitalismus. In Relation zur Wirtschaftskraft lebte die Arbeiterklasse in der UdSSR schlechter als jede Arbeiterklasse in Westeuropa – eine beindruckende Errungenschaft nach 70 Jahren „sozialistischer“ Entwicklung! So entpuppt sich auch die Moskauer Professorin nur als eine Linke, die Sozialismus mit bürgerlichem Sozialstaat identifiziert. Mit dem Sozialen hat es in der UdSSR nicht so geklappt, dafür gab es aber jede Menge Staat.
Welche Errungenschaften gab es für BB noch? „Bei Konflikten mit dem Management konnten die Arbeitenden sich an die Gewerkschaft, die Partei-Struktur oder an die Betriebszeitung wenden. Trotz allem Bürokratismus der sowjetischen Gewerkschaften und der Parteiorgane konnte die Suche der Werktätigen nach Hilfe gegen jede Form von Ungerechtigkeit auf die eine oder andere Art stattfinden und die Fabrik musste nicht selten positiv darauf reagieren.“ Das ist wahrlich eine Errungenschaft, dass sich die Malocher bei Konflikten mit einem Teil der Bürokratie (dem Management) an einen anderen Teil wenden konnten: an die Gewerkschaft der Bürokratie, an die Partei der Bürokratie oder an die Presse der Bürokratie. Wenn das nicht tolle Alternativen sind?! Und es gab ja auch große Erfolge: „die Fabrik musste nicht selten positiv darauf reagieren“. So schnell schmilzen Sozialismus und Arbeiterdemokratie auf ein nettes „Beschwerdewesen“ zusammen! Dass „die Fabrik“ auch einmal positiv reagieren muss, wenn sich die ArbeiterInnen beschweren, kann auch ein Betriebsrat oder ein Arbeitsgericht im Westen erreichen – oder ein Streik, ein proletarisches Kampfmittel, welches in der UdSSR nicht erlaubt war. Das hat die Professorin „ganz zufällig“ zu erwähnen vergessen.
Weiter geht BBs Aufzählung der Errungenschaften. Es gab „kostenlose Bildung und kostenloses Gesundheitswesen.“ Das hat die Welt noch nie gesehen. In der BRD z.B. müssen die Eltern, wie Jede(r) weiß, bekanntlich schon für den Grundschulbesuch ihrer lieben Kleinen Unsummen berappen. Und jede Sprechstunde beim Arzt und jeder Tag im Krankenhaus ist so teuer, dass die Leute massenhaft an einer leichten Influenza sterben. Man weiß nicht genau, ob Frau Professor hier in Karnevalslaune war oder ob sie das ernst meint.
Doch die Lobhudelei ist noch nicht zu Ende: „In der Sowjet-Gesellschaft wurde das Streben junger Menschen nach beruflicher und höherer Bildung stark gefördert: materiell, gesellschaftlich und ideologisch. Das Erziehungssystem in der UdSSR genau wie die Bildung an Universitäten, Instituten oder Fachschulen war weitestgehend durch den Entwicklungsstand der entsprechenden Person selbst bestimmt“. Dieses Niveau hebt sich wirklich deutlich vom Kapitalismus ab, wo es bekanntlich keine Universitäten und Fachschulen gibt. Ja, es war wirklich erstaunlich: „Das Erziehungssystem in der UdSSR (…) war weitestgehend durch den Entwicklungsstand der entsprechenden Person selbst bestimmt“. Nein, die Bürokratie und die stalinistische Ideologie hatten da keinen Einfluß.
Es geht doch nichts über eine gute Analyse!
Natürlich dürfen auch die kulturellen Errungenschaften nicht fehlen: „die sowjetische Kunst brachte viele Bücher, Filme, Bilder und Lieder über die Werktätigen hervor. Das entwickelte im arbeitenden jungen Menschen das Gefühl der Würde und des Stolzes auf seinen Berufsstand.“ Immerhin: Wenn man als ArbeiterIn schon wenig zu sagen hatte und das reale Leben nicht so prall war, konnte man wenigstens in der Kunst zu etwas stilisiert werden, was man nie sein würde (und wohl auch nie sein wollte). Natürlich gab es große Kunst auch im Stalinismus – soweit die Kunstwerke nicht verboten oder die Künstler eliminiert wurden (gerade letzteres soll sich ja sehr ungünstig auf den Schaffenspozess auswirken). Doch dass BB hier so tut, als repräsentiere das Gros der „Staatskunst“ irgendeinen Wert – noch dazu hinsichtlich des Sozialismus – ist komplett absurd. Das ganze System tötete mit geradezu wahnsinniger Intensität jede Kreativität und schöpferische Freiheit ab, soweit sie nicht rein „technisch“ für das System nötig war. Hier gab es kaum einen einen Unterschied zwischen dem stalinistischen und dem faschistischen Staat, worauf schon Trotzki konsequent und treffend hingewiesen hatte.
Wo so viel Gutes passierte, muss es doch auch auf dem Gebiet der Politik etwas Positives gegeben haben. Und siehe da: „Die Oktoberrevolution machte das Land führend im Kampf für den Fortschritt auf der Welt:
– Politisch-ideologisch: Für soziale Gerechtigkeit, Vorrang für Arbeit und Kreativität, Internationalismus nicht nur in Worten, sondern im praktischen Kampf mit dem Faschismus.“
Für die Revolution und die ersten Jahre danach können wir der positiven Einschätzung von BB zustimmen. Doch was schon ab Mitte der 1920er Jahre passierte, war eben nicht „führend im Kampf für den Fortschritt“, sondern führte immer nur ins Desaster. Insofern müssen wir die Einschätzung von BB etwas „modifizieren“. Die UdSSR blockierte und verhinderte revolutionäe Entwicklungen, wo es nur irgend ging – und es klappte leider überall. Internationalismus gab es nur in Worten oder auch Mal in Form der unkritischen Unterstützung nationalistischer Regime der „3.Welt“ gegen den rivalisierenden westlichen Kapitalismus. Dem Kampf gegen den Faschismus gingen das Versagen im Kampf (Poliitk der „Dritten Periode“, Sozialfaschismus-These) gegen ihn und das Kungeln mit ihm (Hitler-Stalin-Pakt) voran.
Doch die Lobhudelei auf das alte Moskauer Regime durch die neue Moskauer Professorin ist noch nicht vorbei. Sie musste unbedingt auch noch feststellen, dass das „Erschaffen von neuen sozialen Beziehungen, in denen der Mensch zum handelnden Subjekt in Geschichte und Kultur wird“ eine Errungenschaft gewesen sei. Da denken wir z.B. an die Millionen Subjekte, die sich „was einhandelten“, etwa 20 Jahre im Gulag, wo sie sogar sehr eifrig handeln durften. Und wir müssen uns fragen: Wenn „der Mensch zum handelnden Subjekt“ geworden war – warum war dann der Ostblock zusammen gebrochen?!
Nun geben die Weisheiten von Frau Bulavka-Buzgalin sicher nicht die Positionen der GAM dazu wider. Aber es hat die TrotzkistInnen der GAM offenbar nicht gestört, der Frau Professor eine der kostbaren Seiten der NI für ihre verschwurbelten Ansichten zur Verfügung zu stellen. Und es ist schon sehr verwunderlich, warum man es nicht für nötig befand, den – gelinde gesagt – „seltsamen“ Thesen aus Moskau nicht wenigstens einen Kommentar zur Seite zu stellen?!
Dass das auch noch im 100. Jahr der Russischen Revolution passierte, macht die Sache umso peinlicher und verstärkt – wie bei anderen Themen auch – den Eindruck, dass die GAM sich immer weiter vom Marxismus entfernt und im politischen Niveau absinkt, was man nur zutiefst bedauern kann und was schleunigst geändert werden sollte! Wir möchten den Mitgliedern der GAM deshalb mit Brecht zurufen: „Um uns selber müssen wir uns selber kümmern!“
O.k., hier ist die GAM wirklich ins stalinistische Fettnäpfchen getreten.