Seit Unterdrückte kämpfen, sind sie mit der Frage konfrontiert, mit wem sie gemeinsam handeln können und wie Bündnisse zwischen verschiedenen Kräften bzw. Organisationen der Unterdrückten beschaffen sein sollen. Viele Kämpfe wurden wegen „falscher Freunde“ oder einer untauglichen Taktik verloren. Waren die Unterdrückten im Klassenkampf hingegen erfolgreich, dann oft auch deshalb, weil sie die Bündnisfrage richtig gelöst hatten.
Politische Konstellationen können sich ändern. Wer gestern noch Verbündeter war, kann morgen zum Gegner werden. So traten Marx und Engels in der 1848er Revolution für eine Kooperation des Proletariats mit dem opponierenden Bürgertum ein, betonten aber die politische Eigenständigkeit der Arbeiterklasse und lehnten es ab, dass sie sich dem Bürgertum unterordnet. Sie bestanden immer darauf, dass das Proletariat eigene Organisationen hat, v.a. eine Partei mit einem revolutionären Programm.
Mit dem Übergang zur imperialistischen Phase des Kapitalismus büßte die Bourgeoisie ihre frühere revolutionäre Rolle vollständig ein. Daher können Bündnisse zwischen der Arbeiterwegung und offen bürgerlichen Parteien nun keine fortschrittliche Rolle mehr spielen. Zugleich etablierte sich in der Arbeiterklasse eine privilegierte Schicht, die Arbeiteraristokratie. Heute umfasst diese in den hochentwickelten Ländern einen erheblichen Teil des Proletariats. Aus ihr rekrutiert sich auch die Arbeiterbürokratie, eine Schicht von (hauptamtlichen) Funktionären in Gewerkschaften und linken Parteien, in Parlamenten und im Staatsapparat. Diese Schicht dient der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems und ist eine bürgerliche Agentur in der Arbeiterklasse. Arbeiteraristokratie und Arbeiterbürokratie sind die wichtigsten sozialen Träger des Reformismus, einer Ideologie, welche die Kämpfe der Arbeiterklasse im Rahmen der bürgerlichen Ordnung (der Demokratie) halten und auf Reformen begrenzen will.
Der Reformismus ist ein wesentliches Hindernis für den Kampf zum Sturz des Kapitalismus. Doch zugleich stützt sich der Reformismus auch auf die Arbeiterklasse, oft sogar auf deren Mehrheit, während die revolutionären Kräfte in der Minderheit sind. Für letztere stellt sich daher die Frage, wie es möglich ist, die größtmögliche Einheit der Klasse im Kampf herzustellen, ohne sich politisch dem Reformismus unterzuordnen, ja dessen Einfluß sogar zurück zu drängen. Dieser Frage wandte sich auch die III. (kommunistische) Internationale systematisch zu und entwickelte das Konzept der Einheitsfronttaktik.
Dieses sprach sich dafür aus, dass RevolutionärInnen mit anderen Organisationen der Arbeiterklasse und der Linken Bündnisse – eine proletarische Einheitsfront – bilden, um möglichst starke Kräfte im Kampf gegen Staat und Kapital zu vereinen. Grundlage der Einheitsfront sollte nicht das Parteiprogramm, sodern ein Aktionsplan sein, der die zentralen Ziele, Aktionsschritte und Taktiken angibt. Die Einheitsfront wird nur zum Erreichen eines konkreten Zieles, z.B. die Erkämpfung des 8-Stunden-Tages oder zur Rücknahme einer Verschlechterung gebildet, sie ist nur ein zeitweilige und begrenzte Übereinkunft, keine Strategie.
Die Einheitsfront ist zugleich eine Arena des Kampfes zwischen Reformismus und revolutionärer Politik. In der Praxis des Klassenkampfes kann und muss sich zeigen, welche Vorschläge, welche Maßnahmen zum Erfolg führen, welche Führung, welche Partei den Kampf voran treibt und welche ihn boykottiert. Diese Erfahrungen in der Praxis sind für das Proletariat oft überzeugender als 1.000 Seiten Propaganda. Die Einheitsfront ist ein Test für politische Führungen und Konzepte. Meist werden die Reformisten versuchen, diesem Test auszuweichen, allenfalls stimmen sie der Zusammenarbeit „allgemein“ zu, um sie in der Praxis aber zu torpedieren. Um die politische Auseinandersetzung innerhalb der Einheitfront führen zu können, ist eine ihrer Grundbedingungen die Freiheit der Propaganda und der Kritik. Versuche, diese zu beschränken, dienen nur dazu, die Massen zu betrügen und die wahren Absichten und politischen Unterschiede zu verwischen.
Es gibt Beispiele dafür, dass eine von der revolutionären Partei korrekt angewandte Einheitsfrontpolitik erfolgreich war – nicht nur im Sinne der Aktion, sondern auch in Hinsicht darauf, die Massen vom Reformismus zu „heilen“ und für die Revolution zu gewinnen. Leider hat die Degeneration der revolutionären Linken aber dazu geführt, dass die Einheitsfrontpolitik oft falsch oder gar nicht angewendet wurde.
Oft wird der Sinn der Einheitsfront entstellt, indem man nur die „Einheitsfont von oben“ fordert. Damit versuchen Reformisten oder Zentristen, den Zugriff der Apparate auf Basis fauler Kompromisse zu sichern, Kritik abzublocken und politische Auseinandersetzungen zu verhindern. Andereseits fordern linke Sektierer oft nur die „Einheitsfront von unten“, d.h. sie sind dagegen, dass auch die Führungen offiziell dazu aufgefordert werden. Davon abgesehen, dass diese Mißachtung „ihrer“ Führung von reformistischen ArbeiterInnen nicht verstanden und als unehrliches Manöver abgelehnt wird, wird so auch verhindert, dass die reformistische Führung klar Position beziehen muss und dabei als kampfunwillig entlarvt werden kann. Eine korrekt angewandte Einheitsfronttaktik muss daher sowohl „von unten“ als auch „von oben“ durchgeführt werden.
Eine „permanente“ Einheitsfront ist die Gewerkschaft. Oft versuchen die Reformisten, politische Fragen von der Gewerkschaft fern zu halten, um eine klare Positionierung und Kämpfe zu vermeiden. „Die Politik“ wird als Domäne der Parteien angesehen. In Deutschland gibt es eine „Arbeitsteilung“ zwischen DGB und SPD. Die DGB-Gewerkschaften stellen sich oft als politisch „neutral“ dar. Doch tatsächlich sind ihre Führungen, ihre Apparate und Konzepte sozialdemokratisch. Oppositionen und Fraktionen werden bekämpft oder sind verboten. So soll der Kampf für eine Demokratisierung und eine klassenkämpferische Gewerkschaftspolitik gegen den sozialdemokratischen Reformismus verhindert werden. Aufgabe von RevolutionärInnen ist es daher, in den Gewerkschaften für diese Ziele einzutreten und oppositionelle Strukturen bis hin zu einer revolutionären Fraktion aufzubauen.
Eine sehr wichtige Form der Einheitsfront sind Arbeiter-Räte. Sie entstehen in der Regel nur in zugespitzten Klassenkampfsituationen. Die Räte umfassen ArbeiterInnen verschiedener Arbeiterparteien und -organisationen sowie Unorganisierte, die von ihren Basis-Strukturen delegiert sind. Räte sind nicht nur Orte, wo verschiedene Konzepte und Programme diskutiert werden. Sie sind auch Organisations- und Führungszentren des Klassenkampfes. Sie sind im besten Fall Machtorgane. Ihr Stärke besteht darin, dass sie sehr enge Verbindungen zu den Massen haben und von ihnen direkt kontrolliert und beeinflusst werden können. Allerdings sind Räte nicht per se revolutionäre Organe. Sie sind es nur dann, wenn in ihnen die revolutionäre Partei dominiert, wie z.B. in der Russischen Revolution 1917 die Bolschewiki. Ist das nicht so, wie oft in der Novemberrevolution in Deutschland, können sie sogar eine konterrevolutionäre Rolle spielen.
Eine besondere Form der Anwendung der Einheitsfronttaktik ist der Entrismus (von entree – Eintritt). Entrismus bedeutet, dass RevolutionärInnen unter bestimmten Umständen in eine zentristische oder reformistische Partei eintreten, um dort für ein revolutionäres Programm zu kämpfen, neue Kräfte dafür zu gewinnen und sie dann aus der Partei heraus zu führen. Dafür muss jedoch eine Situation bestehen, in der diese Partei in einer Krise steckt und eine Linksentwicklung von relevanten Teilen der Mitgliedschaft erfolgt. Der Entrismus darf jedoch nie zu einer Strategie werden und im Gegensatz zum Aufbau einer revolutionären Partei stehen.
Ein anderes Beispiel für eine Einheitsfront ist ein Streikkomitee. Es soll von der gesamten Belegschaft, über Partei- und ideologische Grenzen hinweg, gebildet werden, um einen Kampfplan auszuarbeiten und den Streik zu führen. Das Streikomitee soll von den Beschäftigten direkt gewählt, kontrollier- und abwählbar sein. So kann erreicht werden, dass ein Streik wirklich von der Basis bestimmt wird. In der Praxis sieht es aber meist so aus, dass der Gewerkschaftsapparat in Kooperation mit den Betriebsräten den Streik führt und kontrolliert und die Einwirkung der Basis stark beschränkt bleibt.
Eine gute Lektion für die erfolgreiche Anwendung der Einheitsfronttaktik ist die Politik der Bolschewiki in der Russischen Revolution 1917. Ohne diese Taktik wäre es ihr nicht möglich gewesen, die Mehrheit der Arbeiterklasse für sich zu gewinnen.