Hanns Graaf
Vorbemerkung der Redaktion: Der vorliegende 5. Teil schließt unsere Reihe über den Trotzkismus ab. Unser Beitrag zu Trotzkis Analyse des Stalinismus und des Charakters der UdSSR, die natürlich einen zentralen Stellenwert in seinem Schaffen einnimmt, ist deutlich umfangreicher und würde daher den Rahmen dieser Artikelserie sprengen. Unsere Ausführungen dazu sind in einer in Kürze erscheinenden Broschüre im Verlag Aufruhrgebiet zum Trotzkismus enthalten.
5. Die Entrismus-Taktik
Ein Vorwurf, der TrotzkistInnen oft gemacht wird, ist, dass sie Organisationen unterwandern und zu unsauberen Methoden greifen, um Mitglieder für ihre eigene Organisation zu gewinnen. Sind diese Vorwürfe berechtigt?
Die Taktik des Entrismus (von franz. entree, Eintreten, Eintritt) wurde zuerst ab Mitte der 1920er von Teilen der KAPD und von einigen AnhängerInnen von Karl Korsch in der SPD und ab 1931 auch in der SAP angewendet. Trotzki plädierte 1934 für die Anwendung des Entrismus in Frankreich. Für die kleine trotzkistische Opposition dort schien das die beste Möglichkeit zu sein, um zu wachsen und ihren Einfluss zu steigern. Die trotzkistische „Ligue Communiste“ hatte damals ca. 100 Mitglieder. Frankreich war von zunehmenden Konflikten zwischen Faschisten und den linken und Arbeiterorganisationen geprägt. Die soziale Lage der Massen war schlecht, Massenstreiks erschütterten das Land.
Diese Kämpfe ermöglichten schließlich 1936 die „Volksfront-Regierung“. Diese bestand aus der Sozialistischen Partei (SFIO) und der bürgerlichen Radikalen Partei. Die KP trat der Regierung zwar nicht bei, unterstützte sie aber. Ihre Volksfront-Politik war – genau wie zeitgleich in Spanien – der Versuch, das Proletariat davon abzuhalten, die Macht zu übernehmen, den bürgerlichen Staat zu zerschlagen und die Bourgeoisie zu enteignen.
1934 bewegte sich die SFIO unter dem Druck der Basis nach links. V.a. die SFIO-Jugend trat zunehmend für revolutionäre Positionen ein. Der Führung der SFIO gelang es zunehmend weniger, ihre Basis zu zähmen. Insofern war es für die TrotzkistInnen naheliegend, in die SFIO einzutreten. Möglich war dies, weil deren Führung nicht mehr die Macht hatte, das zu verhindern; notwendig war der Entrismus, weil so der direkte Kontakt zur kämpferischen, nach links drängenden Basis hergestellt werden konnte.
Der damalige Entrismus unterschied sich allerdings stark von vielen späteren Entrismus-Versuchen trotzkistischer Gruppen. Trotzkis hatte einige Prämissen für die Anwendung der Entrismus-Taktik aufgestellt:
- sie ist eine kurzfristige, an bestimmte Bedingungen geknüpfte Taktik, keine Strategie;
- der Eintritt muss offiziell erfolgen, die politischen Ziele und das Programm müssen offen vertreten werden, z.B. durch Gründung einer eigenen Fraktion bzw. Plattform und durch eigene Medien;
- der Entrismus muss beendet werden, wenn die Anwendung der Taktik nicht mehr möglich ist, z.B. wegen der Repression durch die Bürokratie oder wenn die Phase der „Unentschiedenheit“ ihrer politischen Ausrichtung vorüber ist.
Die TrotzkistInnen traten im September 1934 geschlossen in die SFIO ein und konstituierten sich dort als Groupe Bolchevik-Léniniste (GBL). Die Zeitung der Pariser Föderation der Sozialistischen Jugend vertrat trotzkistische Positionen und hatte eine Auflage von 80.000.
Doch innerhalb der französischen Sektion gab es von Beginn an auch Bedenken und Unklarheit über die für sie neue Taktik des Entrismus. Daher war die Umsetzung des Entrismus auch tw. uneinheitlich, inkonsequent und tw. fehlerhaft. Die Situation änderte sich, als die SFIO auf die Volksfront-Linie einschwenkte, in die bürgerliche Regierung eintrat und die Führung ihre Partei wieder in den Griff bekam. Ab Juni 1935 begann die SFIO-Führung mit bürokratischen Angriffen gegen die TrotzkistInnen, was deren legale Arbeit zunehmend unmöglich machte. Trotzki trat daher für die Beendigung des Entrismus ein. Politisch und personell gestärkt wäre dieser Schritt für die TrotzkistInnen der erfolgreicher Abschluss des Entrismus gewesen. Doch ein Teil der französischen Sektion meinte nun, noch länger in der SFIO bleiben zu müssen, was mit einer politischen Anpassung an den Reformismus verbunden gewesen wäre und tw. auch war.
In einem Brief an polnische Linksoppositionelle schrieb Trotzki: „Notwendig ist aber, vor allem im Licht der französischen Erfahrung, uns von den Illusionen in die Zeit zu befreien; den entscheidenden Angriff gegen den linken Flügel rechtzeitig zu erkennen und uns dagegen zu wehren, nicht durch Zugeständnisse, Anpassung oder Versteckspiele, sondern durch eine revolutionäre Offensive.“
Trotzki befürwortete die Beendigung des Entrismus, weil ab Herbst 1935 die Bedingungen für diese Taktik – Linksentwicklung, Parteikrise, legale Arbeit – nicht mehr gegeben waren.
Das trotzkistische Milieu ist inzwischen reich an Beispielen für die falsche Anwendung der Entrismus-Taktik. So wurden v.a. die AnhängerInnen von Ted Grant oder auch die von Tony Cliff dafür bekannt, dass sie sich oft jahrelang oder sogar permanent in der Sozialdemokratie „einnisteten“, obwohl (zumindest längerfristig) die Bedingungen für einen Entrismus nicht gegeben waren. Dieser „tiefe“ Entrismus zeigte auch keine grundlegenden Erfolge im Parteiaufbau, sondern mutierte dazu, den Aufbau einer eigenständigen revolutionären Organisation zu ersetzen. Auch der gegenwärtige „Entrismus“ der deutschen trotzkistischen Gruppen SAV und Marx21 in der Linkspartei – seit inzwischen rund anderthalb Jahrzehnten (!) – hat mit Trotzkis taktischen Prinzipien wenig zu tun und erweist sich auch nicht als erfolgreich – weder hinsichtlich ihres Wachstums, noch hinsichtlich ihres politischen Einflusses auf DIE LINKE.
Der ausgeprägte Hang vieler TrotzkistInnen zum Entrismus bzw. zu dem, was sie darunter verstehen, ist auch Ausdruck des (verständlichen) Versuchs, die Schwäche der trotzkistisch-revolutionären Kräfte taktisch beheben zu wollen, obwohl sie wesentlich aus ihren grundlegenden theoretisch-programmatischen Schwächen resultiert. Trotzdem ist der Entrismus unter bestimmten Umständen eine mögliche und legitime Taktik, um den Einfluss von RevolutionärInnen auszuweiten. Die Ablehnung dieser Taktik durch Reformisten und Bürokraten ist (genau wie die Ablehnung von Fraktionen in den Gewerkschaften) v.a. Ausdruck ihrer Angst vor einer offenen Auseinandersetzung mit Kritik und dem Marxismus.