Der unbekannte Krieg (Teil 1 von 2)

Hanns Graaf

Am 1. September 2024 jährt sich zum 85. Mal der Ausbruch des 2. Weltkriegs. Der Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen weitete sich bald zum Weltkrieg aus, der mehr als 55 Mill. Tote fordern und viele Länder und Regionen verwüsten sollte. Doch: War der 1. September 1939 wirklich der Beginn des 2. Weltkrieges? War dieser Krieg ein Konflikt zwischen Diktatur(en) und Demokratie?

Jeder große Krieg hat seine Vorgeschichte. Schon der 1. Weltkrieg hatte sich mit mehreren Konflikten zwischen den imperialistischen Großmächten, z.B. der Marokko-Krise, und spätestens 1912 mit den Balkankriegen schon angekündigt. Auch vor dem 1. September 1939 gab es etliche Brandherde in der Welt. 1935 überfiel das faschistische Italien Abessinien, das heutige Äthiopien. Dieser Krieg war Teil des Projektes Mussolinis, Italien zur imperialistischen Großmacht zu entwickeln, die Nordafrika und den Mittelmeerraum beherrscht. Diese Ambitionen mussten zwangsläufig v.a. mit denen Großbritanniens kollidieren, was spätestens im September 1940 mit dem Angriff Italiens auf das britisch kontrollierte Ägypten auch der Fall war. 1937 erfolgte der Überfall Japans auf China. Dieser Krieg, der mit unerhörten Gräueln der japanischen Armee einherging, dauerte bis 1945. Bereits 1936 begann der Bürgerkrieg in Spanien, an dem mehrere Staaten direkt beteiligt waren. 1938 annektierte Deutschland das Sudetengebiet und kurz danach die Tschechische Republik. Obwohl es dabei nicht zu Kampfhandlungen kam, erfolgte die Besetzung nach Androhung militärischer Gewalt. Insofern ist der 1. September nicht der Beginn des 2. Weltkriegs, sondern eher der Tag der Ausweitung des Krieges zum Konflikt in Zentraleuropa und – ab 1940 – zum Krieg zwischen den imperialistischen Hauptmächten England/Frankreich und Deutschland.

Die Kriege imperialistischer Mächte (Deutschland, Italien, Japan) gegen halbkoloniale Länder (Polen, Äthiopien, China) stellen einen weiteren Aspekt des 2. Weltkrieges dar. Es ging um die Stellung der Großmächte in der imperialistischen Weltordnung. Von der Alternative, künftig nur einen untergeordneten, perspektivisch vielleicht sogar nur noch halbkolonialen Status zu haben oder aber ihre globale Macht in Extraprofite ummünzen können, wurde die aggressive Politik dieser Länder bestimmt. Die Zeit des vor-imperialistischen Kapitalismus, als der eigene nationale Markt als Operationsterrain des Kapitals oft noch ausreichte, war vorbei. Die „neue“ Aggressivität war also nicht (nur) Ausdruck des Größenwahns von Hitler, Mussolini oder der japanischen Generalität, sondern Ergebnis objektiver Umstände und Zwänge.

Neben den äußeren Verwertungsinteressen der Bourgeoisie spielte aber auch deren Machterhalt im Inneren eine Rolle. Deutschland war nach der Niederlage im 1. Weltkrieg und dem Versailler Diktat in eine politisch wie sozial brisante Lage geraten, die in der Revolution von 1918 und in den heftigen Klassenkämpfen der 1920er kulminierte. Die gesellschaftliche Alternative lautete nicht nur Demokratie oder Diktatur, sondern v.a. Herrschaft des Kapitals oder Herrschaft des Proletariats und Übergang zum Sozialismus. Das Kapital setzte angesichts dieser Gefahr schließlich auf die faschistische Karte. Hitler wusste genau, dass Deutschland unter dem Versailler Diktat, ohne Kolonien und ohne starke Armee international nur eine begrenzte Rolle spielen konnte. Ein Sprengen dieser Fesseln war nur durch Krieg möglich. Nur so konnten auch die Massen – auf Kosten der eroberten Länder und der enteigneten Juden – als „Herrenvolk“ integriert und von umstürzlerischen Ideen abgebracht werden.

Klassenkrieg

Der 2. Weltkrieg war auch die Summe reaktionärer Versuche, die Klassenwidersprüche im Inneren durch Aggression nach außen zu lösen. Besonders offensichtlich prallten die gegensätzlichen Klassenkräfte in Spanien aufeinander, wo 1936 ein Bürgerkrieg zwischen der regierenden Volksfront und den faschistischen Putschisten um General Franco ausbrach. Die Bourgeoisien aller Länder erkannten sehr schnell, dass diese Revolution zum europäischen Lauffeuer werden konnte. Die westlichen Demokratien reagierten mit einer „Nichteinmischungspolitik“. Diese kam einer indirekten Hilfe für Franco gleich, weil dieser die militärische Unterstützung Italiens und Deutschlands nutzen konnte. Das Schicksal der Spanischen Revolution wurde aber nicht in London und Paris entschieden, sondern in Madrid und Moskau. In Spanien wurde die Weiterführung der Revolution von der stalinistischen KP auf Geheiß Moskaus blockiert, auf eine bürgerlich-demokratisch-antifaschistische Zielstellung begrenzt und somit wesentliche revolutionäre Potentiale blockiert. Die stärkste subjektiv revolutionäre Kraft waren die Anarchisten, deren politische Konzeption sich aber als ungeeignet erwies: anstatt die bürgerliche Volksfrontregierung zu stürzen und die gesamte Macht zu ergreifen, passte man sich ihr an. So erlitt die Spanische Revolution eine blutige Niederlage, anstatt zum Fanal für die europäische Revolution zu werden. Ein Sieg des Proletariats in Spanien hätte schnell auch auf Frankreich, wo die Arbeiterbewegung damals sehr stark und aktiv war, übergegriffen. Eine revolutionäre Arbeiterregierung in Frankreich hätte sich aber als ein wesentlich stärkerer Widersacher auch gegen Deutschland erwiesen und hätte den Siegeszug der Wehrmacht schon 1940 stoppen können.

Faschismus vs. Bolschewismus?

Hitler und Mussolini haben nie verschwiegen, dass sie sich als Rammbock gegen den Kommunismus sehen. Hitler wollte Deutschland nach Osten ausweiten, um die dortigen enormen Ressourcen nutzen zu können. Sein ideologischer Antikommunismus und seine wirtschaftlichen Ambitionen ergänzten sich. Nachdem Hitler mehrere Nachbarstaaten erobert, Frankreich als imperialen Hauptkonkurrenten auf dem Festland ausgeschaltet und sich deren Ressourcen einverleibt hatte, fühlte er sich stark genug, um nun auch den, wie er meinte, russischen „Koloss auf tönernen Füßen“ niederwerfen zu können.

Stalin war in mehrfacher Hinsicht mitschuldig daran, dass Hitler anfänglich so erfolgreich war. Erstens ließ Stalin die Spanische Revolution quasi am langen Arm verhungern. Zwar leistete er, wenn auch zu spät und zu wenig, Militärhilfe für die Volksfront (für die er die gesamten, sehr umfangreichen Gold-Reserven Spaniens erhielt). Noch schwerer wog, dass er die Spanische KP dazu zwang, die Revolution zu stoppen und alle anderen revolutionären Linken, v.a. die POUM und die Anarchisten, zu bekämpfen.

Doch damit nicht genug. In den Jahren vor 1933 nötigte er die KPD zu ihrer unseligen „Sozialfaschismus“-Konzeption, die die Formierung einer Arbeitereinheitsfront gegen Hitler torpedierte. Aber auch das war noch nicht der Gipfel seines Versagens. Im August 1939 schloss er sogar ein offizielles und ein Geheimabkommen mit Hitlerdeutschland ab, das diesem den Angriff auf Polen erst ermöglichte, ohne ein Eingreifen der Roten Armee fürchten zu müssen. Angesichts des ohnehin drohenden Zweifrontenkriegs mit England und Frankreich hätte Hitler von einem Angriff auf Polen ohne die russische Zusicherung ansonsten sicher (zunächst) Abstand genommen. Stalin nutzte die Chance und besetzte (wie mit Hitler vereinbart) Ostpolen und kurz danach die baltischen Staaten, die Hitler Stalin überließ. Im Winter 1940 begann dann die Aggression Stalins gegen Finnland, die aber den maroden Zustand der von Stalin gesäuberten Roten Armee offenbarte. Sein „Entgegenkommen“ gegenüber Nazi-Deutschland ging sogar soweit, dass er Antifaschisten an die Gestapo auslieferte.

Als Hitler im Juni 1941 dann die UdSSR überfiel, wurde die Rote Armee komplett überrumpelt. Trotz aller Warnungen und trotz des unübersehbaren Aufmarsches von 3,5 Mill. Mann glaubte Stalin, dass Hitler 1941 nicht angreifen würde. Die Säuberungen der 1930er, die ständigen Umstrukturierungen der Armee sowie die falsche Zusicherung, dass Deutschland 1941 nicht angreifen werde, untergruben die Widerstandskraft der Roten Armee. Nur so sind ihre dramatischen Niederlagen im Sommer und Herbst 1941 und ihre ungeheuren Verluste zu erklären – denn nominell war die Rote Armee der Wehrmacht und ihren Verbündeten tw. weit überlegen: bei Panzern, Flugzeugen, Artillerie und an Zahl. Zudem konnte Russland an nur einer Front kämpfen, während Deutschland einen Mehrfrontenkrieg (Besatzung der eroberten Länder, tw. Partisanenkrieg, Luftkrieg, U-Boot-Krieg und Krieg in Nordafrika) führen musste. Erst der immer erbitterter werdende Widerstand der Roten Armee, die ungünstigen Umstände der Natur (Schlamm und Frost) sowie der Mangel an Kräften stoppten Ende 1941 die Nazimaschine kurz vor Moskau.

Doch der auch heute meist so betitelte Krieg im Osten als Konflikt zwischen Faschismus und Bolschewismus bzw. Kommunismus war alles andere als das. Hier stand der deutsche Imperialismus nicht einem Arbeiterstaat gegenüber, sondern einem Regime, das staatskapitalistisch und ebenfalls imperialistisch (geworden) war. Der imperialistische Charakter des Stalin-Regimes zeigte sich mehr als deutlich daran, dass er 1. revolutionäre Chancen anfänglich noch aus politischer „Dummheit“, nach 1933 aber ganz bewusst und absichtlich vereitelte. 2. war seine Außenpolitik auf Eroberungen aus und ging mit der Unterdrückung und dem Terror gegen die Bevölkerung und der Ausplünderung anderer Länder einher. Damit unterschied sich Stalins Politik nicht wesentlich von der anderer imperialistischer Länder.

Es handelt sich dabei aber nicht etwa um politische Fehler, eine „clevere Taktik“ oder um bedauerliche „Ausnahmen“. Stalins Außenpolitik war letztlich nur Ausdruck der inneren Verhältnisse. Natürlich stellt sich hier die Frage, wie es dazu kommen konnte, nachdem 1917 eine proletarische Revolution in Russland gesiegt hatte?

Degeneration

Die Revolution von 1917 fand unter sehr ungünstigen Bedingungen statt: es tobte der Weltkrieg, dann der Bürgerkrieg, das Land war sehr rückständig. Die Arbeiterklasse war zwar revolutionär gestimmt und besaß mit den Bolschewiki eine Partei, die in der Lage war, die Klasse trotz aller Probleme zum Sieg zu führen, doch war diese Vorhut – gemessen an der Größe und der schwierigen Lage des Landes – sehr klein. Nicht nur der Bürgerkrieg, die Wirtschaftskrise, Hunger und Epidemien dezimierten die Avantgarde, große Teile wurden auch vom schnell wachsenden gigantischen Partei-Staatsapparat aufgesogen. V.a. durch Stalins Initiativen verwandelte sich die Partei von einer lebendigen, im Inneren demokratischen Arbeiterpartei zu einem auf Angst und blindem Gehorsam gegründeten bürokratischen Apparat.

Die Politik Lenins und der Bolschewiki war von zwei Prämissen bestimmt: 1. vom unbedingten Willen, die Macht zu erobern und zu verteidigen. Dabei sah man Sowjetrussland als Ausgangspunkt und Stützpunkt der Weltrevolution an. 2. war man der Meinung, dass die Wirtschaft und letztlich die Gesellschaft insgesamt von einem zentralisierten Partei-Staatsapparat quasi im Interesse der Massen organisiert werden müsse. Dieses Modell war damit verbunden, dass – trotz aller verbalen Beteuerungen zur Sowjetdemokratie und der subjektiv sicher ehrlichen Absichten – die Frage der proletarischen Selbstverwaltung, des Genossenschaftswesens und der Räte-Demokratie unterschätzt wurde. Dabei ging es aber nicht darum, ob das System mehr oder weniger demokratisch funktionierte, sondern vielmehr darum, ob die Arbeiterklasse mittels konkreter Strukturen, d.h. Machtorganen, die Produktionsmittel und die gesellschaftliche Dynamit direkt bestimmen kann.

War das am Anfang noch weitgehend der Fall, erodierte das Sowjetsystem – nachdem, es ja kaum erst entwickelt war – unter dem Druck der objektiven Probleme, aber auch aufgrund der fehlerhaften Konzeption der Bolschewiki. Schon gegen Ende des Bürgerkriegs kamen die Differenzen zwischen dem Etatismus der Partei und der Sowjetdemokratie offen zum Ausbruch: in Massenstreiks der Arbeiterschaft, in Form der innerparteilichen „Arbeiteropposition“, in der Opposition von Kronstadt und in Gestalt der Machno-Bewegung. Der 10. Parteitag, der im März 1921 parallel zu den Ereignissen in Kronstadt stattfand, reagierte auf die anstehenden Probleme: die Opposition wurde verboten und die Kronstädter niedergemacht. Die Gefahr der Bürokratisierung wurde unterschätzt. Auf Lenins Initiative wurde die „Neue ökonomische Politik“ (NÖP) beschlossen, die in bestimmten Bereichen die drakonischen Maßnahmen des „Kriegskommunismus“, v.a. die Getreide- Requirierung, einschränkten und mehr Privatinitiative zuließ. Die NÖP erwies sich als richtig und zeitigte schon bald positive wirtschaftliche Effekte. Doch das darniederliegende Sowjetsystem wurde nicht renoviert.

So kam, was kommen musste: die Bürokratie formierte sich unter der Regie Stalins zu einer abgehobene Kaste (und später Klasse) über der Arbeiterklasse, die immer mehr entrechtet, gegängelt und ausgebeutet wurde. Mit dem zunehmenden Terror, der Industrialisierung (1. Fünfjahrplan) und der Zwangskollektivierung 1929 wurden auch noch die letzten Reste von Sowjetdemokratie beseitigt, die Herrschaft der Bürokratie und der persönlichen Diktatur Stalins durchgesetzt. Nachdem die Arbeiterklasse 1917 die Bourgeoisie enteignet hatte, war sie nun selbst von der Bürokratie enteignet worden. Aus einem Arbeiterstaat mit Deformierungen war ein staatskapitalistisches System geworden.

Der Krieg zwischen Hitler-Deutschland und der Sowjetunion war von Seiten der UdSSR ein Verteidigungskrieg, es war jedoch kein Krieg zwischen Sozialismus und Kapitalismus, sondern ein Konflikt zweier kapitalistischer Ordnungen, die sich dadurch unterschieden, dass der deutsche Kapitalismus auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln beruhte, der Staatskapitalismus Stalins aber auf Staatseigentum.

Nach den dramatischen Niederlagen der Roten Armee 1941 erreichte sie erst Ende 1942 mit dem Sieg bei Stalingrad das militärische Niveau der Wehrmacht. Zudem war man ab diesem Zeitpunkt in jeder Hinsicht überlegen und baute diese Überlegenheit bis 1945 immer weiter aus.

Zweifellos hatte die UdSSR den größten Anteil am Sieg über Hitler und mit ca. 27 Mill. Toten auch mit Abstand die meisten Opfer zu beklagen – etwa die Hälfte aller Opfer des Weltkrieges waren Sowjetbürger. In den meisten Darstellungen des Krieges und des Naziterrors ist aber v.a. von den 6 Mill. jüdischen Opfern die Rede.

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