Hanns Graaf
In den letzten Jahren häufen sich Versuche aus dem linksstalinistischen Milieu, eine neue Partei aufzubauen bzw. eine Dynamik dahin zu entwickeln. Beispiele dafür sind etwa der Kommunistische Aufbau (KA) oder die Kommunistische Organisation (KO). Sie knüpfen oft an die Politik der „Dritten Periode“ an. Diese wurde von Ende der 1920er bis 1933/34 von der Komintern und der KPD praktiziert und ging von der kurzschlüssigen Annahme des baldigen Zusammenbruchs des Kapitalismus aus. Daher wurden die mittelfristigen Aufgaben der Formierung eines antikapitalistisch-revolutionären Potentials, der Kampf um Bündnispartner und die Einheitsfrontpolitik unterschätzt. Diese, von Moskau aufoktroyierte, Politik unterminierte die damals zentrale Aufgabe der Schaffung einer Arbeitereinheitsfront gegen den Faschismus. Eine Ausprägung dieser Politik war die Taktik der Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO), die von der KPD ab 1928 praktiziert wurde.
Historischer Hintergrund
Am „Schwarzen Freitag“, dem 25. Oktober 1929, gingen die „Goldenen 20er“, als sich der Nachkriegsimperialismus kurzzeitig stabilisieren konnte, abrupt zu Ende. Die Weltwirtschaftskrise begann und verheerte v.a. Deutschland, das durch den Versailler Vertrag und die Hyper-Inflation von 1923 schon arg gebeutelt worden war. Es begann eine Phase des sozialen Niedergangs, der Massenarbeitslosigkeit, der politischen Instabilität, der zunehmenden Polarisierung und stärkerer Klassenkämpfe. Die schnell wechselnden Regierungen agierten mit Notverordnungen und setzten Sparprogramme durch. Davon waren v.a. die Arbeiterklasse, aber auch das Kleinbürgertum betroffen. Die von der SPD politisch und personell dominierten ADGB-Gewerkschaften trugen diese Politik mit, nicht zuletzt, weil von 1928-30 eine SPD-Regierung unter Hermann Müller amtierte.
Seit 1914 hatte sich die Stellung der Gewerkschaften geändert. Zum einen unterstützten deren sozialdemokratische Führungen den Krieg und die Burgfriedenspolitik des Kaisers. Als „Dank“ dafür und für die Möglichkeit der stärkeren Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Rüstung wurden den Gewerkschaften einige beschränkte Mitbestimmungsrechte eingeräumt. Mit dem „Vaterländischen Hilfsdienstgesetz“ vom 5.12.1916 wurden paritätische Schlichtungsgremien eingeführt, um betriebliche Konflikte zwischen Unternehmern und Beschäftigten zu regeln. Damit waren die Gewerkschaften quasi zum ersten Mal offiziell als Verhandlungspartner anerkannt. Trotz dieser Befriedungstaktik nahmen die Unzufriedenheit und die Kämpfe der Arbeiterschaft während des Krieges zu. V.a. in der Berliner Metallindustrie gab es ab 1916 massive Streiks, die ökonomische Ziele verfolgten, zunehmend aber auch politische Ziele hatten und die Beendigung des Krieges forderten. Dabei formierte sich ein Milieu von klassenkämpferischen, sozialistisch orientierten, von der Basis gewählten Gewerkschaftern, die dann als „Revolutionäre Obleute“ bekannt wurden und 1918/19 eine wichtige Rolle in der Revolution spielten.
Wenige Tage nach Beginn der Novemberrevolution bildeten die ADGB-Spitze und die Arbeitgeberverbände eine „Arbeitsgemeinschaft“, welche die Umstellung auf die Friedensproduktion und die Sozialisierung der Wirtschaft organisieren sollte. 1920 wurde dann – auch als Reaktion auf die Revolution – das Betriebsrätegesetz verabschiedet, das die betriebliche Mitbestimmung gesetzlich regelte. Das war einerseits ein gewisser Fortschritt hinsichtlich der legalen Wirkungsmöglichkeiten der Belegschaften, unterminierte aber zugleich die Stellung der Gewerkschaften in mehrfacher Hinsicht: 1. wurden die Betriebsräte (BR) von allen Beschäftigten gewählt, nicht nur von den Gewerkschaftsmitgliedern. Damit war der Einfluss der weniger bewussten Arbeiter größer. 2. wurde der BR an das „Betriebswohl“ gebunden und damit seine Rolle als Interessenvertreter der Arbeiter beschränkt. 3. trat der BR im Betrieb nun formell an die Stelle der Gewerkschaft.
Diese Veränderungen in der Rolle und der Stellung der Gewerkschaften, aber auch die revolutionäre Periode bis 1923, die Gründung der KPD und die Krise ab 1929 führten dazu, dass sich auch im ADGB eine stärkere politische Polarisierung zwischen SPD und KPD. Letztere hatte sich nach einer etwas „konfusen“ Gründungsphase und Richtungskämpfen schließlich dazu durchgerungen, methodisch der Einheitsfrontpolitik zu folgen und in den ADGB-Gewerkschaften zu arbeiten.
Die Entstehung der RGO
Es war schon immer so, dass linke, anarchistisch oder revolutionär eingestellte Arbeiter aus den Gewerkschaften herausgedrängt wurden. Mit der Zuspitzung der Klassenkämpfe ab 1916, der Spaltung der Arbeiterbewegung in SPD und USPD bzw. KPD und dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 nahm diese Tendenz noch zu. KPD-Mitglieder wurden immer öfter aus dem ADGB ausgeschlossen oder einfach entlassen, wobei sozialdemokratische ADGB-Funktionäre und BR dabei nicht selten mit dem Unternehmer kooperierten.
Diese Entwicklung erforderte von der KPD eine Reaktion. Im Dezember 1929 wurde die RGO mit dem Ziel gegründet, die linken Kräfte im ADGB zu vereinen und gemeinsam gegen den Kurs der sozialdemokratischen Spitzen des ADGB zu kämpfen. Diese Taktik war an sich korrekt. Sie kollidierte allerdings (wie oben skizziert) von Beginn an mit der allgemeinen Ausrichtung der KPD. Man kann nicht einerseits mit den sozialdemokratischen Kollegen kooperieren wollen, sie aber andererseits als „Sozialfaschisten“ beschimpfen. Damit zog die KPD die Klassenlinie nicht zwischen Arbeiterklasse hier und Bourgeoisie und Faschismus dort, sondern zwischen KPD hier und „reinen NSDAP-Nazis“ und „Sozialfaschisten“ dort. Die von der KPD propagierte „Einheitsfront von unten“ ignorierte das immer noch vorhandene Vertrauen der Basis von SPD und ADGB in ihre Führungen und präsentierte die Einheitsfrontpolitik quasi als Erpressung: Zusammenarbeit nur, wenn ihr euch von eurer Führung lossagt. Natürlich konnte das nicht funktionieren – im Gegenteil, es erlaubte den SPD-Spitzen, der KPD Manöver und Betrug vorzuwerfen.
Auf dem 2. Reichskongresses der RGO im November 1930 wurde dann entsprechend der Orientierung der KPD aus der RGO-Fraktion im ADGB eine selbstständige Gewerkschaft. Sie hatte 1932 etwa 250.000 Mitglieder. Das war jedoch viel zu wenig, um wirklich aktions- und streikfähig zu sein. Auch der Versuch, Sozialdemokraten für die RGO zu gewinnen, schlug fehl.
Der Berliner BVG-Streik
Diese Politik gipfelte dann im November 1932 in der Entscheidung der KPD, sich am Streik der Berliner Verkehrsarbeiter gegen den Berliner SPD-Senat zu beteiligen. Dabei war nicht die Beteiligung an sich falsch, sondern der Umstand, dass die RGO daran zusammen mit der faschistischen NSBO (Nationalsozialistische Betriebsorganisation) teilnahm und die notwendige scharfe politische Abgrenzung zu ihr tw. vermissen ließ. Wie äußerte sich das konkret?
Schon bei der Streik-Urabstimmung hatten die KPDler getrickst. Eigentlich waren nur Gewerkschafter abstimmungsberechtigt. Da sich abzeichnete, dass es bei ihnen keine ausreichende Mehrheit für den Streik geben würde, wurden auch Nicht-Gewerkschafter zur Abstimmung zugelassen – darunter die NSBO-Leute. So gab es eine Mehrheit für den Streik. Am 2.11.1932 kam es zur Wahl einer Streikleitung. In dieser hatte die RGO die Dominanz – auch indem zwei NSBOler hineingenommen wurden. Das war kein Versehen der RGO, sondern Absicht. Die Einbeziehung von NSBO-Mitgliedern in eine Streikleitung entsprach damals der Orientierung der KPD. Schon im Herbst 1932 meinte KPD-Chef Thälmann: „Bei der Auslösung von Streiks in den Betrieben (…) ist die Hereinnahme von Nazis in die Streikkomitees (…) absolut notwendig und erwünscht.“
Diese u.a. politische Manöver und Positionen der KPD (darunter ihre Lobhudelei gegenüber Stalin) untergruben deren Ansehen bei den sozialdemokratischen Arbeitern. Die RGO-Politik erwies sich nicht nur als Fehlschlag, sie unterminierte auch die Stellung und das Ansehen der KPD und blockierte die so dringende Herstellung einer Arbeitereinheitsfront gegen den Faschismus.
Methodischer Irrweg
Wenn aktuell einige Teile der „radikalen Linken“ v.a. stalinistischer Provenienz die RGO-Politik wiederbeleben wollen, so ist das in mehrfacher Hinsicht fatal. Zunächst fällt auf, dass sie keine Analyse, keine historische Bilanz vornehmen. Sie sehen zwar tw. die Konstituierung der RGO als eigene Organisation als verfrüht an, bemerken aber nicht, dass die gesamte Taktik der RGO als eigenständiger Organisation falsch war. Ja, wir können sagen, dass die RGO-Taktik generell – unabhängig von den konkreten Umständen in den 1920/30ern – einer falschen Methode folgt.
Zunächst einmal beruht sie auf einer schiefen Sicht auf das Wesen einer Gewerkschaft. Sie ist – anders als die Partei – eine (permanente) Einheitsfront, die verschiedene ideelle Milieus vereint, um die eigenen Interessen (ökonomische wie politische) gegen Kapital und Staat umzusetzen. Meist geht es dabei um Regelungen der Bedingungen des Verkaufs der Ware Arbeitskraft (Lohn, Arbeitszeit usw.). Eine Gewerkschaft wird – außer während oder nach der Revolution – fast nie eine revolutionäre Ausrichtung haben. Das hat den einfachen Grund, dass auch die Arbeiterklasse in „normalen“ Zeiten ein bürgerliches Bewusstsein hat (was Klassenkämpfe nicht ausschließt) und kein sozialistisches. Zudem besteht die Stärke einer Gewerkschaft gerade darin, eine Massenorganisation zu sein, die möglichst viele Lohnabhängige organisiert, um dem Kapital Paroli bieten zu können. Daraus folgt aber, dass viele Arbeiterinnen und Arbeiter Gewerkschaftsmitglied sind, die nicht revolutionär denken. Wer nun eine rote oder revolutionäre Gewerkschaft will, wird immer nur eine Mini-Struktur bekommen. Jede Vergrößerung dieser würde deren „revolutionäre“ Ausrichtung unterminieren.
Ein zentraler Fehler der RGO-Taktik besteht darin, dass das Gros der Gewerkschafter und der Lohnabhängigen, die von Gewerkschaft (und BR) politisch und organisatorisch dominiert werden, kampflos dem Einfluss des sozialdemokratischen Reformismus überlassen werden, indem die Revolutionäre die Gewerkschaft verlassen und eine eigene gründen. Kommunisten muss zwar auch das eigene Klientel zu organisieren – und zwar v.a. in der Partei -, doch ansonsten muss es darum gehen, um die gesamte Klasse, um deren Bewusstsein, deren Organisationen, deren Strukturen und deren Aktionen zu kämpfen und Einfluss zu nehmen. Darauf zu verzichten, um eine eigene, schöne „rote Insel“ zu etablieren, ist nichts als Sektierertum. Damit verbunden ist auch die (bei Lenin besonders) ausgeprägte Überbetonung der Partei, die dann bei Stalin zu einer Herrschaft der Partei über alles mutierte. Die RGO wäre natürlich nichts anderes als der Partei untergeordnet. Die einzig konsequent revolutionäre Struktur der Klasse – als objektive Möglichkeit, nicht als a priori gegeben – ist die Partei. Es ist absurd, eine Gewerkschaft oder eine andere Struktur der Klasse (Räte, Genossenschaften u.a.) dazu modeln zu wollen – in dem Sinn, nicht nur dafür zu kämpfen, sondern sie von Anbeginn an so aufzubauen. Damit ruiniert man gerade deren Fähigkeit, größere Massen zu organisieren und nicht nur eine Minderheit von Revolutionären.
Das von einigen Linken angedachte Revival der RGO ist umso absurder, als es gegenwärtig noch nicht einmal wie früher eine Massenpartei wie die KPD gibt, die ein RGO-Projekt überhaupt auf Schiene setzen könnte. Wir könnten schon froh sein, wenn es im DGB und in den Betrieben wenigstens eine stärkere klassenkämpferische Basisbewegung geben würde, die sich kritisch zur DGB-Bürokratie verhalten und sich gegen den Kriegs- und Rüstungskurs der Regierung(en) stellen würde. Bezeichnenderweise ist davon bei den selbsternannten Aktivisten einer neuen KPD kaum die Rede …
Gelbe Gewerkschaften?
Dass die reformistischen Gewerkschaften wie der ADGB oder heute der DGB nicht antikapitalistisch ausgerichtet sind, sondern Kämpfe eher befrieden und die Arbeiterschaft an das System binden, statt es zu bekämpfen, animiert einige Linke dazu, diese als „gelbe Gewerkschaften“ anzusehen. Das ist doppelt falsch. 1. sind „gelbe Gewerkschaften“ Unternehmergründungen, die dazu da sind, die Gewerkschaften zu spalten und die Beschäftigten noch mehr dem Kapital unterzuordnen. 2. sind die reformistischen Gewerkschaften durchaus bereit und in der Lage zu kämpfen – schon deshalb, weil der Apparat letztlich von den Mitgliedsbeiträgen lebt und seine Vermittlerrolle nur spielen kann, wenn hinter ihnen eine starke Organisation steht. Mitunter wird behauptet, dass die reformistischen Gewerkschaften nicht kämpfen würden. Das ist historisch falsch! Wir verzichten hier darauf, Beispiele dafür anzuführen, wo sie für ökonomische und mitunter sogar für politische Ziele tatsächlich gekämpft haben. Wenn sie dies nie tun würden, müssten wir uns fragen, warum überhaupt Jemand Mitglied im DGB wird?
Die „kommunistischen Erneuerer“ begründen ihr Revival der RGO-Taktik damit, dass die Gewerkschaften nicht revolutionierbar seien und werfen anderen Linken vor, genau das mit ihrem Eingreifen im DGB zu beabsichtigen. Letzterer Vorwurf ist ziemlich absurd, wir kennen jedenfalls keine Gruppe, die ein solches, wahrlich unsinniges Ziel – als aktuelle Option – anstreben würde.
Die Komintern trat in ihrer gesunden Phase (bis zum IV. Kongress) hingegen dafür ein, dass Kommunisten in (!) den reformistischen Gewerkschaften arbeiten – nicht, um sie zu revolutionieren, sondern um dort fraktionelle Arbeit zu leisten, den Klassenkampf voran zu bringen und die Reformisten zu bekämpfen. Auch Lenin vertrat diese Ansicht. Er schrieb dazu in „Der linke Radikalismus …“: „Als ein ebenso lächerlicher, kindischer Unsinn muss uns auch das wichtigtuerische, überaus gelehrte und furchtbar revolutionäre Gerede der deutschen Linken über das Thema erscheinen, dass die Kommunisten in den reaktionären Gewerkschaften nicht arbeiten können und nicht arbeiten dürfen, dass es statthaft sei, diese Arbeit abzulehnen, dass man aus den Gewerkschaften austreten und unbedingt eine nagelneue, blitzsaubere, von sehr netten (und meistens wohl sehr jungen) Kommunisten ausgeheckte „Arbeiter-Union“ schaffen müsse usw. usf.“.
Hoffen wir, dass unsere RGO-Protagonisten recht bald von ihrer Kinderkrankheit genesen!
Taktische Fragen
Die RGO war zunächst eine Art Fraktion im ADGB. Der Aufbau einer revolutionären Fraktion in reformistischen Organisationen und v.a. in den Gewerkschaften ist eine zentrale Aufgabe von Revolutionären. Eine solche Fraktion setzt aber unbedingt eine schon relativ starke und auch in den Gewerkschaften verankerte Partei voraus – sowohl, was das Kräfteverhältnis anbelangt, als auch, was ihre politischen Fähigkeiten anbetrifft. Bevor eine Fraktion auf die Tagesordnung gestellt werden kann, muss es Betriebszellen der Partei geben sowie relevante oppositionelle Strukturen in der Gewerkschaft, mit der sie verbunden ist, ansonsten hängt die Fraktion in der Luft und wird von den reformistischen Apparatschiks wie ein Luftballon abgeschossen.
Die Reformisten werden immer versuchen, Kommunisten u.a. „Quertreiber“ aus der Gewerkschaft oder aus dem Betrieb zu werfen. Es kam auch schon vor, dass ganze Gliederungen der Gewerkschaft wegen abweichender Haltungen oder Kritik ausgeschlossen wurden. Ist das nicht abzuwenden, muss 1. versucht werden, die ausgeschlossene Struktur zusammenzuhalten, 2. für deren Wiederaufnahme zu kämpfen und 3. für gemeinsame Kampfaktionen beider Organisationen einzutreten.
Sicher: diese Politik ist oft mühselig und gleicht dem Bohren dicker Bretter. Sie ist aber alternativlos, weil „Kunstgriffe“ wie die RGO und Abkürzungen zur Revolution nicht funktionieren. Das zeigt auch die kurze Episode der RGO.