Der Pferdefuß der Hufeisentheorie

Hanns Graaf

In vielen Diskussionen wird auf die Hufeisentheorie Bezug genommen. ChatGPT erklärt sie wie folgt: „Die Hufeisentheorie in der Sozialwissenschaft (…) besagt, dass sich extreme politische Positionen, obwohl sie auf den ersten Blick sehr unterschiedlich sind, in bestimmten Aspekten ähneln können. Die Theorie vergleicht die politische Landschaft mit einem Hufeisen: Während die Mitte eher in der Mitte des Hufeisens liegt, befinden sich die extremen Positionen an den Enden, die sich jedoch in ihrer Radikalität und manchmal auch in ihren Methoden ähneln können. Das bedeutet, dass extreme politische Gruppen, egal ob links oder rechts, manchmal ähnliche Verhaltensweisen zeigen, wie etwa Intoleranz oder autoritäre Tendenzen. Die Hufeisentheorie wird oft genutzt, um zu erklären, warum sich extremistische Bewegungen trotz ihrer Gegensätze in bestimmten Aspekten ähneln können.“

Im Zusammenhang mit der Hufeisentheorie wird lt. ChatGPT auch oft die Ansicht vertreten, „dass die Kategorien „links“ und „rechts“ nicht mehr vollständig zeitgemäß sind (…) einige (…) argumentieren, dass diese klassischen Einteilungen oft zu vereinfacht sind und die komplexen politischen Positionen heute nicht mehr ausreichend abbilden. Zum Beispiel wird kritisiert, dass die Begriffe oft nur noch auf wirtschaftliche oder soziale Fragen reduziert werden, während moderne politische Bewegungen vielfältige Themen wie Umwelt, Digitalisierung, Identitätspolitik oder globale Gerechtigkeit umfassen. Außerdem könne die Einteilung in „links“ und „rechts“ manchmal dazu führen, dass wichtige Unterschiede innerhalb der Gruppen übersehen werden, oder dass politische Positionen in der heutigen Zeit schwer eindeutig zuzuordnen sind.“

Auch in der Linken und in der (reformistischen) Arbeiterbewegung haben diese Theorien Einzug gehalten. So weigert sich z.B. das BSW, sich als „links“ zu bezeichnen, obwohl die meisten seiner Positionen zwar nicht antikapitalistisch, aber durchaus Kapitalismus-kritisch sind (was beim BSW freilich in der Praxis, für den Klassenkampf, nicht viel bedeutet).

Klassenbezug oder „rechts-links“?

Die Bezeichnungen „rechts“ und „links“ sind ursprünglich von der Sitzordnung im französischen Parlament abgeleitet: rechts saßen die konservativen, links die fortschrittlichen Abgeordneten. Seitdem werden jene politischen Kräfte Linke genannt, die sich auf die Arbeiterklasse beziehen und in dieser oder jener Weise antikapitalistisch bzw. sozialistisch orientiert sind.

Der Marxismus beurteilt das politische Spektrum nicht nur nach bestimmten ideologischen Eigenschaften, sondern v.a. nach ihrem Klassencharakter: auf welche Klasse bezieht und stützt sich eine Partei? Zielt deren Programmatik auf die Überwindung des Kapitalismus und wenn, dann auf welche Weise: durch Revolution und/oder Reform? Die Kennzeichnungen „links“ und „rechts“ anhand bestimmter einzelner Positionen ist demgegenüber rein impressionistisch und verwischt die Klassenfrage wie die Systemfrage – genau das ist aber (bewusst oder unbewusst) die Absicht bürgerlicher Ideologen.

Die sozialistische und Arbeiterbewegung teilte sich schon immer in verschiedene Lager auf, die sich sozial aber alle mehr oder weniger auf das Proletariat bezogen und v.a. Arbeiter als Mitglieder und Wähler hatte. Eine gewisse Sonderstellung hatte und hat der Anarchismus inne, von dem sich nur Teile als proletarisch-sozialistisch definieren: die Anarcho-Kommunisten und der Anarcho-Syndikalismus. Von Beginn an spielten in der linken und Arbeiterbewegung auch deren politische Ausrichtung und Programmatik eine Rolle. Eine Organisation war entweder revolutionär oder reformistisch ausgerichtet oder bewegte sich als zentristische Organisation dazwischen.

Bei Marx und Engels taucht die Bezeichnung „links“ kaum auf. Für sie waren bei der grundsätzlichen Charakterisierung von Organisationen der Bezug zur Arbeiterklasse und zum Sozialismus maßgebend, nicht die eine oder andere Detailfrage. So betonten sie z.B. in der 1848er Revolution immer die Eigenständigkeit der Arbeiterklasse bzw. der -partei, obwohl es damals durchaus eine Schnittmenge zwischen ihnen und dem bürgerlichen Liberalismus gab.

Neue Theorie?

Die Hufeisentheorie tut so, als seien politische Positionen, die sich ähneln, ein neues Phänomen, das die Unterscheidung von „links“ und „rechts“ gegenstandslos machen würde. Das ist jedoch nicht so. So waren sich z.B. KPD und NSDAP in der Ablehnung der Bestimmungen des Versailler Friedens positionell weitgehend einig, allerdings waren ihre sonstigen damit verbundenen Positionen diametral entgegengesetzt (Imperialismus, Antimilitarismus, proletarische Revolution u.a.m.). Niemand (außer zu demagogischen Zwecken) hätte damals behauptet, die linke KPD und die rechte NSDAP wären irgendwie „gleich“.

Auch heute gibt es viele Fragen, wo „Linke“ und „Rechte“ gleiche Positionen vertreten (wenn man mit „Positionen“ bestimmte Teilaspekte eines Problems meint). Das betrifft z.B. die Corona-Politik, die Klimafrage, die Energiewende oder den Ukrainekrieg, wo etwa die AfD und Linke ähnliche Positionen einnehmen.

Ein Beispiel

Auch etliche Linke kritisieren wie die AfD die deutsche Energiepolitik mit ihrem CO2 -Reduktionswahn und der Implantierung von Wind- und Solarenergie. Die AfD sieht das als „sozialistische Planwirtschaft“ a la DDR an, der man mit reinem Marktliberalismus begegnen müsse. Diese Haltung ist zwar naturwissenschaftlich-technisch korrekt, gesellschaftspolitisch aber rein kapitalistisch. Eine linke Haltung dazu würde auf der naturwissenschaftlichen Ebene genauso argumentieren, aber andere gesellschaftliche Schlüsse ziehen. Eine Linker würde die bürokratische Wirtschaft der DDR als staatskapitalistisch ansehen und nicht als sozialistisch. Zudem würde er im Unterschied zur AfD die Klima- und Energiewendepolitik als eine (!) Strategie von bestimmten Fraktionen des Kapitals und des herrschenden Establishments ansehen. Sie ist ein – letztlich der Verwertungskrise des Kapitalismus geschuldete – Versuch, Neuinvestitionen durch Entwertung von altem c-Kapital (Kohlekraftwerke usw.) zu generieren und Milliarden von unten nach oben umzuverteilen (Öko-Steuern, höhere Strompreise usw.). Ganz anders als die AfD würden Marxisten nicht für Privateigentum oder Staatseigentum plädieren, sondern für eine wirkliche Vergesellschaftung auf Basis von Selbstverwaltung, Genossenschaften und Arbeiterkontrolle – verbunden mit einem Rätesystem. Die Positionen von Marxisten und der AfD sind also bei genauer Betrachtung in dieser Frage zwar punktuell gleich oder ähnlich, aber ansonsten komplett entgegengesetzt.

Krise des politischen Denkens

Dass das Gros der linken Szene unterstützt die „grüne“ Klima- und Energiepolitik unterstützt, was deren vollkommene politische Degeneration zeigt. Anstatt sich die relevante Wissenschaft und die Fakten anzuschauen und die Realität zu analysieren, was gerade für Marxisten normal sein sollte, verbleibt man auf der Ebene der Ideologie und der Meinungen. Von einem kritischem Hinterfragen der „öffentlichen“ Meinung keine Spur. Dieses analytische Versagen der Linken können wir auch bei anderen Themen beobachten. Ein Ergebnis dessen ist die pauschale Ablehnung und Verurteilung von Positionen, die dem linken Mainstream nicht entsprechen, die als „rechts“ oder „verschwörungstheoretisch“ geframt werden. Der linke Mainstream ist zwar Kapitalismus-kritisch, aber nicht antikapitalistisch, er ist reformistisch, staatsgläubig und den „Staats-Medien“ gegenüber weitgehend unkritisch.

Tatsächlich nähern sich „rechte“ und „linke“ Positionen oft an. Eine genauere Analyse von Positionen würde jedoch zeigen, dass sie eben nicht komplett übereinstimmen und zudem in eine andere Strategie eingebunden sind. Die Hufeisentheorie stellt die Sache aber so dar, als gebe es gar keinen positionellen Unterschied, als seien „links“ und „rechts“ nicht oder kaum unterscheidbar.

Der grundlegende methodische Fehler der Hufeisentheorie und der Einteilung politischer Formationen und Ideologien in „rechts“ und „links“ ist, dass ein falsches Kriterium zugrunde gelegt wird. „Links“ ist nicht antikapitalistisch und proletarisch, sondern „links von …“, „linker als …“. So gelten die SPD und die Grünen als links, weil sie in manchen Fragen links von Union und FDP stehen, obwohl sie eine Politik betreiben, sie antisozial, wirtschaftlich ruinös und kriegstreiberisch ist. Dieses Herangehen ist nichts anderes als ein Ausblenden der Systemfrage und die Adelung von für den Klassenkampf untauglichen Parteien als „links“. Dass diesem absurden Theater auch viele „marxistisch-revolutionäre“ Gruppierungen auf den Leim gehen, offenbart deren mangelhafte Substanz.

Ausdruck all dessen ist dann natürlich auch die Art der Diskussion dieser Linken. Sachargumente, Fakten und empirische Daten findet man selten (obwohl es noch nie so leicht war wie heute, sich diese zu verschaffen). Fast immer geht es um Haltungen, die ideologisch und moralisch untermauert werden. So ist Jeder, der die Richtigkeit und Machbarkeit der Massenmigration hinterfragt, automatisch „menschenfeindlich“, „rassistisch“ oder „rechts“. Die Spitze des Eisbergs an Ignoranz bei den „Linken“ bildet die Antifa, die Andersdenkenden kaum mit Argumenten, sondern eher mit Fäusten begegnet.

Dass das Gros der Linken überhaupt nicht links im Sinne dessen ist, die aktuellen und historischen Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten und diese dafür zu organisieren, sieht man schon daran, dass sie alle möglichen Projekte von Staat und Kapital unterstützen, die der Bevölkerung schaden: Klimaschutz, Energiewende, Ukraineunterstützung usw. usw. Leider müssen wir konstatieren, dass nach dem historischen Scheitern des Reformismus und des Stalinismus nun auch die „revolutionäre Linke“ endgültig als Faktor kollabiert ist und sich weitgehend dem „Öko-Reformismus“, dem Wokismus und dem Staat angepasst haben. Darüber täuschen auch ihre antikapitalistischen Phrasen nicht hinweg.

Reformismus

Ein typisches Beispiel für eine Hufeisen-förmige Politik bietet das BSW. In verschiedenen Fragen unterscheidet sich die BSW-Position in Teilen positiv vom linken Mainstream, so z.B. bei Klima, Energie oder Migration. Obwohl das BSW seine frühe Ankündigung, zu Sachfragen Expertengremien einzuberufen, bisher nicht eingelöst hat, zeugen seine Positionen mitunter von mehr Realitätsnähe als es bei vielen Linken, z.B. der Linkspartei, der Fall ist. Was dem BSW aber fehlt, ist eine klar antikapitalistische, nicht nur -kritische Position. Deshalb – und v.a. weil sie sich durch ihre Regierungsbeteiligung komplett dem bürgerlichen System anpasst – ist es hinsichtlich seiner Strategie und Programmatik nicht links, sondern bürgerlich.

Dieses Phänomen ist nicht neu. Schon früher haben Parteien nicht nur bei einzelnen Positionen, sondern insgesamt den Sprung von einer antikapitalistischen Arbeiterpartei zu einer rein bürgerlichen Partei“ vollzogen. Das war bei der SPD spätestens ab 1914 so, obwohl sie lange noch eine proletarische Basis hatte, die sie heute kaum noch besitzt. Heute ist sie im Kern eine Staatsbeamtenpartei, die aber strukturell mit dem reformistischen Gewerkschaftsapparat verbunden ist und darüber die zentralen Schichten der Arbeiterklasse dominiert, wie im 19. Jahrhundert in Britannien die Liberalen die Arbeiterklasse politisch dominiert haben. Ähnlich verhält es sich bei der Linkspartei. Auch sie betreibt bürgerlich-reformistische Politik und stützt sich v.a. auf die lohnabhängige (akademische) Mittelschicht, nicht auf die Arbeiterklasse oder -bewegung.

In Deutschland gibt es derzeit – und schon seit Jahrzehnten – keine Arbeiterpartei mit einem sozialistischen Programm mehr. DKP oder MLPD sind zwar mehr oder weniger proletarisch geprägt, ihre Programmatik ist jedoch falsch oder unzureichend, u.a. weil eine klare Orientierung auf eine Rätesystem und ein Übergangsprogramm fehlen.

Dass sich – wie die Hufeisentheorie nahelegt – „links“ und „rechts“ berühren oder kaum noch unterscheiden würden ist also Unsinn, weil es „links“ und „rechts“ im Sinne von pro- und antikapitalistisch, von proletarisch und bürgerlich gar nicht (mehr) gibt. Es handelt sich also nicht um eine Annäherung der Linken nach rechts, sondern um das Verschwundensein von originär linken Parteien. Es handelt sich nicht um Parteien auf entgegengesetzten Seite der Barrikade, die sich angenähert hätten, sondern um Parteien, die alle auf derselben Seite stehen, aber mit unterschiedlichen Konzepten.

Dass das so ist, dass eine genuin revolutionäre Arbeiterpartei und -internationale fehlen, hat Leo Trotzki schon in den 1930ern festgestellt, nachdem die Komintern stalinisiert worden war und sich der Volksfrontpolitik verschrieben hatte. Es wird Zeit, „Theorien“ wie die vom Hufeisen als das zu betrachten, was sie sind: Teil eines bürgerlichen Verwirrspiels. Projekte wie die LINKE, Aufstehen oder das BSW bieten keinen Ausweg aus der historischen Führungskrise des Proletariats, allenfalls bieten sie für Antikapitalisten Möglichkeiten des Eingreifens, um darin gebundene linke Potentiale für eine genuin revolutionäre Politik zu gewinnen.

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