Die Kinderladen-Bewegung
Hannes Hohn
In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren entstanden in der BRD und Berlin/West die ersten Kinderläden. Das waren selbstverwaltete, sich als „alternativ“ verstehende Kindereinrichtungen für Vorschulkinder. Träger waren Elterninitiativen, die meist die Form von Trägervereinen annahmen. Betreut wurden etwa 10-20 Kinder, weit weniger als es damals in anderen Einrichtungen üblich war, die eher Aufbewahranstalten waren als pädagogische Einrichtungen. Als Räumlichkeiten wurden anfangs oft Ladenräume genutzt, die leer standen, weil mit dem Aufkommen der großen Supermärkte viele kleine Händler aufgeben mussten. Daher auch der Name „Kinderladen“. Dem gleichen Konzept entsprangen später Schülerläden, wo eine Hort- und Hausaufgabenbetreuung stattfand. Manchmal entwickelten sich diese Einrichtungen zu größeren Jugend-, Freizeit- und Kultureinrichtungen.
Enstehung
Der erste Kinderladen wurde 1967 von Monika Seifert, einer Psychoanalytikerin, in Frankturt/M. als „Freie Kinderschule“ gegründet. Aus ihr gingen später die beiden ersten Alternativschulen der BRD hervor: die „Glockseeschule“ Hannover und die „Freie Schule Frankfurt“. Einen wichtigen Wachstumsschub für die Kinderladenbewegung und eine breitere Diskussion über Kindererziehung ergaben sich ab 1968 v.a. mit der Gründung von Kinderläden in Berlin/West und danach in anderen Städten. Während die Gründung des Kinderladens in Frankfurt auf individuelle Initiative hin erfolgte, waren jene in Berlin von Beginn an „politische“ Projekte des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) und der Sponti-Bewegung. Dieses links-studentisch-akademische Milieu bildete in Berlin den „Aktionsrat zur Befreiung der Frau“ (meist kurz „Aktionsrat“ genannt), welcher zu einem wichtigen Träger und Initiator der Kinderläden wurde und zugleich dafür sorgte, diese Initiative in ein umfassenderes antikapitalistisches Konzept einzubetten und der „Frauenfrage“ innerhalb der Linken – und durchaus auch in der Gesellschaft – ein vorher nicht gekanntes Gewicht zu geben.
Die Gründung der Kinderläden hatte v.a. zwei Gründe: zunächst einmal den allgemeinen Mangel an Betreuungsmöglichkeiten, besonders für Vorschulkinder. Dieser Mangel machte sich v.a. für Frauen spürbar, die ab den 1960ern verstärkt in die Berufstätigkeit drängten oder studierten. Daneben spielte auch eine wichtige Rolle, dass die bestehenden Kindereinrichtungen fast alle von der Kirche betrieben wurden, eine stark autoritär-konservativ-repressive Ausrichtung hatten, die Gruppen relativ groß waren und die Betreuung oft eine schlechte Qualität hatte. In der Phase des Nachkriegsbooms und der zunehmenden Bedeutung des Bildungssektors wurden diese Verhältnisse von vielen Eltern zu recht als antiquiert und unzureichend empfunden.
Der andere Grund für die Entstehung der Kinderläden, v.a. in Berlin, ergab sich aus der Spezifik der neu entstandenen 68-Linken. Deren politischer Aktivitätsgrad war recht hoch. Die Teilnahme an den vielen Debatten, Treffen und Aktionen stellte Frauen ständig vor die Alternative Kind oder Politik. So versuchten sie, dieses Dilemma zu lösen, indem sie die Praxis veränderten – und durch diese Veränderung wiederum die politische Debatte voran brachten. Das alles fand zu einer Zeit statt, in der es Kinderwagen schiebende Männer noch nicht gab. Dass ein Mann statt der Frau abends zur Betreuung der Kinder zu Hause blieb, war noch kein Thema. Auch Wohngemeinschaften waren erst im Entstehen – doch wo sie entstanden, wurden dort recht schnell „Frauen-Probleme“ zum Thema. Die mitunter vertretene Ansicht, die Frauenbewegung in der BRD habe sich erst ab 1973 im Zuge der Diskussion um den § 218 etabliert, muss zurückgewiesen werden, denn sie entwickelte sich, ausgehend von Berlin, bereits 1968 mit der Frage der Kinderbetreuung.
Inhaltliche Ausrichtung
Die Grundidee, die allen Kinderladen-Projekten zugrunde liegt, kann als antiautoritär, nichtreligiös und selbstorganisiert-“kollektivistisch“ bezeichnet werden. Nicht selten sprachen sich die Kinderladen-Kollektive auch kritisch gegen die Erziehung in der bürgerlichen Kleinfamilie aus. Mitunter ging das Selbstverständnis so weit (v.a. im „Aktionsrat“), dass die Erziehung die Kinder auch für den späteren Kampf als Erwachsene zur Überwindung des Kapitalismus befähigen sollte. Eine erhebliche Rolle spielte auch die Rezeption des Faschismus durch die 68er. Durch eine anti-autoritäre Erziehung suchten sie Menschen zu bilden, die sich kritisch und selbstbewußt gegen autoritäre Ideologien und Institutionen wie Staat, Kirche und Familie behaupten könnten. Allerdings existierten durchaus auch Unterschiede in den verschiedenen Einrichtungen – sowohl hinsichtlich der Organisationsform als auch in Bezug auf das pädagogische Konzept.
Eine wichtige Rolle in der Kinderladen-Bewegung spielte die Sexualerziehung. Es ging dabei um die „Selbstregulierung“ der Kinder und um die „Befreiung“ der kindlichen Sexualität. Diese Orientierung führte schnell auch zu einer Thematisierung der Sexualität von Erwachsenen. Zweifellos haben diese Bemühungen ein Tabu der bürgerlichen Gesellschaft unterminiert, auch wenn es dabei „Überspitzungen“ gab.
Die Kinderladenbewegung hat ohne Zweifel die Sicht der Gesellschaft auf Erziehung stark verändert und die außerfamiliäre Erziehung zum Thema gemacht. Die alleinige Zuständigkeit von Staat, Familie und Kirche wurde in Frage gestellt und tw. durchbrochen. Das ist ein bleibendes Verdienst. Ideen und Praxis der Kinderläden haben auch tief in die Wissenschaft hineingewirkt. So wurden Diskussionen um kindliche Sexualität und antiautoritäre Erziehung, um die Perspektive des „Kindes als Akteur“ und die „Selbstregulierung“ angestoßen. Der Abbau hierarchischer Strukturen, die stärkere Einbeziehung der Eltern in den Erziehungsprozess und die Selbstreflektion der PädagogInnen wurden angeregt. Auch auf die in den 1970ern beginnenden Bildungsreformen hatte die Kinderladenbewegung Einfluß.
Strukturen
Träger der Kinderläden waren meist Vereine, welche die konkrete Arbeit diskutierten und organisierten. Die Aufsicht über die pädagogische Arbeit und die Einhaltung bestimmter Normen oblag allerdings formell dem kommunalen Jugendamt. Nur einige Kinderläden wurden per Einzelleitung geführt, meist gab es dafür ein Team, das aus ErzieherInnen und Eltern bzw. deren gewählten VerteterInnen bestand.
Die mit den Kinderläden verbundenen Kollektive bzw. Vereine waren oft Zentren der politischen Diskussion und Aktion und eng mit den Anfang der 1970er entstehenden Bürgerinitiativen verbunden. Zwar kamen die Eltern, welche die Kinderläden initiierten, oft aus dem akademischen Milieu, doch es gab auch häufig Bemühungen, Kinder aus sozial problematischen Verhältnissen und aus dem migrantischen Milieu zu integrieren.
Es wurde versucht, die Träger der Kinderläden zu vernetzen. So gab es u.a. in Berlin, München, Stuttgart und Frankfurt/M. regionale Koordinationen, die „Zentralräte der Kinderläden“. Doch zu einer nationalen Vernetzung kam es zunächst nicht, was sicher damit zusammenhing, dass die Linke stark zersplittert war und die Gewerkschaften sich des Bildungs-Themas kaum annahmen, geschweige denn selbst Initiativen ergriffen.
Erst im April 1986 (!) wurde dann in Berlin die „Bundesarbeitsgemeinschaft Elterninitiativen e.V.“ (BAGE) gegründet. Weil immer mehr Eltern Kinderläden und Elterninitiativen gründeten, entstanden in den 1980ern parallel zur BAGE vielerorts Kontaktstellen für Eltern, die eine Kinderladen-Initiative gründen wollten. Im Herbst 1986 erweiterte sich die BAGE dann durch den Beitritt anderer Initiativen und wurde zu einem eigenständigen selbstverwalteten Bundesverband, der über 8.000 Projekte vertrat. Damit war die BAGE in gewisser Hinsicht eine der größten und wirkungsstärksten organisierten „linken“ Strukturen der letzten Jahrzehnte in Deutschland. Noch im selben Jahr 1986 stellte die BAGE einen Antrag auf Förderung an das Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit unter Rita Süssmuth (CDU). Doch es wurde schnell klar, dass der Bund kein Interesse an selbstorganisierter Kinderbetreuung hatte. Fördermittel vom Bund gab es somit also natürlich auch nicht.
Eine neue Phase der Kinderladenbewegung begann mit der Wiedervereinigung 1989. Im Westen wurde mit der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz dem wachsenden sozialen Druck nachgegeben und die Kinderbetreuungsmöglichkeiten ausgebaut. Im Osten ging es zum einen darum, möglichst viel vom flächendeckenden System der staatlichen Kindereinrichtungen vor der allgemeinen Sparpolitik zu retten. Zum anderen sollten „freie“ Träger die bisher staatlichen Einrichtungen übernehmen. Letzteres mag ein Grund dafür gewesen sein, dass 1991 die Familienselbsthilfe endlich auch vom Bund finanziell unterstützt wurde. Schlussendlich gelang es in Ostdeutschland jedoch nicht, ein größeres System von selbstverwalteten Kindereinrichtungen zu etablieren. Ein Teil der Einrichtungen blieb staatlich (kommunal), ein anderer unterstand den Kirchen, wieder andere wurden von diversen „freien Trägern“ (Rotes Kreuz, Arbeiterwohlfahrt usw.) verwaltet. Statt eines einheitlichen, basisdemokratischen und die Gewerkschaften umfänglich einbeziehenden Systems gab und gibt es in Ost und West einen Wildwuchs verschiedener Träger, was jede Kontrolle, jeden Erfahrungsaustausch und die Erarbeitung guter einheitlicher pädagogischer u.a. Standards (z.B. tarifliche) stark behindert. Die föderale Struktur der BRD erweist sich dabei auch auf dem Feld der Bildungspolitik, die wesentlich Ländersache ist, als kontraproduktiv, bürokratisch und reaktionär.
Entwicklungen
Die Kinderläden haben eine Erfolgsgeschichte geschrieben. Ihre Zahl stieg schnell, so z.B. in Berlin von 58 im Jahr 1970 auf 304 im Jahr 1974. Dieser positive Trend war auch bundesweit zu beobachten, wenn auch bei weitem nicht in einem solchen Maß wie in Berlin. Der objektive Mangel an Kindereinrichtungen und die Initiative der Kinderläden erzeugte erheblichen Druck auf Staat und Kommunen. Die Tatsache, dass die Kinderläden breite Unterstützung in der Bevölkerung genossen und gut funktionierten, führte dazu, dass die kommunalen Verwaltungen deren Arbeit schließlich meist unterstützten. So gab es z.B. in Berlin in den 1970ern Fördermittel für „EI-Kitas“, die „Elterninitiativ-Kindertagesstätten“. Auch das war ein bundesweiter Trend. In der Mehrzahl der größeren Städte existierten ab den 1970ern selbstorganisierte Kinderläden, auch wenn sie nicht immer so hießen und sich Eltern-Kind-Gruppe, Kinderhaus oder Krabbelgruppe nannten.
Abgesehen von der wachsenden Zahl von Kinderladen-Projekten hatte und hat die Kinderladenbewegung auch erheblichen Einfluß auf die Kindererziehung und -betreuung sowie auf die Pädagogik und die Sozialwissenschaft. Sie bewirkte zweifellos ein Infragestellen und Zurückdrängen konservativ-reaktionärer Positionen und förderte die alternative und widerständische Selbstorganisation von Menschen.
Der Erfolg und die Dynamik der Kindeladenbewegung spielte auch eine große Rolle dafür, dass ab 1972 in den Bundesländern endlich „Kindergartengesetze“ beschlossen wurden. Damit war immerhin anerkannt, dass die Kindererziehung nicht nur der Familie, der Kirche und dem Staat oblag, sondern ein Anliegen der Gesellschaft insgesamt war.
Natürlich gab es auch Probleme. Zum einen dominierte anfangs in mehrfacher Hinsicht eine klare Abwehrhaltung des Staates bzw. der Kommunen gegen die „selbstorganisierte“ Erziehung, weil die Kinderläden zu autoritären, staatlich-bürokratischen Strukturen tendenziell im Widerspruch standen. Konkret war es oft der Filz aus Politik, Staat und Kirchen, der sich dagegen stellte und sich nicht zu Unrecht davor fürchtete, dass „staatstragende Werte“ unterminiert würden und die Linke mehr Einfluss bekäme.
Doch auch von seiten der Eltern gab es Vorbehalte und Widerstände. Viele Eltern lehnten – begründet oder nicht – bestimmte reform-pädagogische Ideen ab und hatten Bammel, als „links“ angesehen zu werden. Sie teilten zwar viele Anliegen der Kinderladen-Bewegung, so die Selbstverwaltungsidee und den Anspruch, die Betreuung zu verbessern, doch vor einem – letztlich politischen – Konflikt mit den etablierten konservativen Strukturen scheuten sie oft zurück.
Der Kitastreik in Berlin
Wie stark politisch die Kinderladen-Bewegung war und welche Probleme sich daraus ergaben, wurde auch beim Kita-Streik 1968 in Berlin deutlich. Der „Aktionsrat“ beschloss gemeinsam mit Kindergärtnerinnen einen Kita-Streik für den 10. Juni 1969. Mit dieser Aktion sollte – zum ersten Mal überhaupt – die „Macht der Frauen“ öffentlich werden und zeigen, dass Frauen ihre Anliegen selbstbewußt öffentlich vertreten können. Es wurden Flugblätter vor Kitas verteilt, viele Eltern waren bereit, den Streik zu unterstützen. Es war geplant, dass die Eltern an diesem Tag – mangels Kinder-Betreuung – nicht zur Arbeit erscheinen. So sollte und konnte der Kita-Streik auch ökonomischen Druck erzeugen.
Die für die Kitas zuständige Gewerkschaft ÖTV erklärte, den Streik unterstützen zu wollen, was sie zunächst auch tat. Doch bald zeigte sich, dass es der ÖTV-Bürokratie v.a. darum ging, die Aktion zu kontrollieren und jede Zuspitzung zu vermeiden. So wurde ohne Not der Streiktermin verschoben. Anstatt eines zentralen Streiks gab es dann nur Einzelaktionen, die in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurden. So wurde der Streik statt ein Erfolg zur Enttäuschung für viele AktivistInnen und TeilnehmerInnen und blieb fast ohne Wirkung.
Doch es gab auch Fehler auf Seiten der InitiatorInnen. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass sie von der ÖTV-Spitze ausmanövriert werden und diese jede „Eskalation“ zu vermeiden sucht. Darin kommt auch die allgemeine politische „Unbedarftheit“ der radikalen Linken damals zum Ausdruck, was die Analyse des Reformismus und geeignete Kampftaktiken dagegen anbelangte. Aber auch die Rolle des SDS, zu dem viele Frauen, die den Streik initiiert hatten, gehörten, war nicht gerade ruhmreich. Die der Führung des SDS vorgelegten Flugblätter wurden nicht einmal diskutiert, eine Debatte darüber, wie der Fahrplan und die Taktik des Streiks genau aussehen sollten, gab es nicht. Ob dafür männliche Arroganz oder politische Unreife eine Rolle spielten, soll hier nicht weiter erörtert werden. Dass aber damals selbst die „radikale Linke“ noch ein Stück weit davon entfernt war, die „Frauenfrage“ ersthaft zu behandeln und Frauen gleichberechtigt in die politische Arbeit einzubinden, ist aber unübersehbar. Vielerorts gab es auch Klagen von Frauen darüber, dass die Männer sich auf die Kinderladen-Projekte „draufsetzten“, die Frauen an den Rand drängten und nicht ernst nahmen. So wurde z.B. Anfang 1968 der „Zentralrat der antiautoritären Kinderläden” auch von Männern „von oben“ und an den gewachsenen Strukturen vorbei gegründet, so positiv deren Intention auch war.
Einige Lehren
Welche Schlüsse können wir aus der – ja noch andauernden – Geschichte der Kinderladen-Bewegung ziehen?
Besonders bemerkenswert ist zunächst, dass die Kinderläden ein Beweis dafür sind, dass die Politik der antikapitalistisch-revolutionär orientierten Linken konkrete Ergebnisse haben kann, die über den Rahmen von Propaganda, Theorie oder Protest hinausgehen. Sie sind ein Beleg dafür, dass Strukturen entstehen können, die nicht nur kurzfristig existieren, sondern sich in der Gesellschaft etablieren und bestimmte Bereiche – hier die Kindererziehung – stark beeinflussen können. Das ist natürlich umso mehr bzw. sogar nur dann möglich, wenn objektiv ein konkretes gesellschaftliches Bedürfnis, d.h. das Bedürfnis einer sozial relevanten Gruppe, dafür existiert und Formen von Aktivität und Selbstorganisation entstehen. Obwohl die Kinderläden am Anfang weniger ein bewußtes Projekt der Linken, sondern eher das Anliegen individueller linker Frauen waren, wurden sie doch sehr schnell Teil der Konzeption und der Praxis linker Politik, z.B. des SDS.
So wie der Aufstieg der Kinderladen-Bewegung mit dem Aufschwung der 68-Linken vebunden war, so wirkte deren Niedergang (keine politische Weiterentwicklung, keine breitere Verankerung im Proletariat, wenig Wirkung auf den organisierten Reformismus, Zersplitterung) auf die Kinderladen-Bewegung zurück. Obwohl sich die Kinderläden, d.h. die kollektive und selbstbestimmte Erziehung, heute als wichtiger Teil der Kinderbetreuung etabliert haben, wurde eine größere Ausdehnung in gesellschaftlichen Ausmaßen oder gar eine Dominanz dieses sozialen Bereichs nicht erreicht. Dazu hätte es einer stärkeren Linken und der aktiven Unterstützung der Gewerkschaften bedurft sowie insgesamt eines höheren Niveaus des Klassenkampfes. Kinderläden sind zwar inzwischen in vielen Städten Normalität, haben aber zugleich auch etwas von ihrem alternativen Anspruch eingebüßt. Vor allem werden sie kaum noch als Teil einer system-sprengenden Dynamik angesehen. In letzter Instanz können wir sagen, dass die Kinderläden u.a. reformpädagogische Ansätze vom Reformismus „eingemeindet“ worden sind.
Trotz allem sind die Kinderläden ein Beleg dafür, dass es durchaus möglich ist, alternative, genossenschaftliche Strukturen relativ dauerhaft im Kapitalimus zu etablieren. Auch wenn solche Versuche natürlich nicht in allen Bereichen der Gesellschaft möglich sind und auf diese Weise auch nicht die Gesamtheit der Lebens- und Produktionsweise des Kapitalismus überwindbar ist, so verweisen sie doch darauf, dass es möglich ist, Inseln, Enklaven einer anderen, tendenziell „kommunistischen“ Lebensweise in Ansätzen zu etablieren. Schon Rosa Luxemburg wies in ihrer Polemik gegen Bernstein zu recht darauf hin, dass es für die Arbeiterklasse unmöglich ist, in den zentralen Sektoren der Produktion selbstbestimmte genossenschaftliche Strukturen aufzubauen – nur leider hat die Linke, an Luxemburg anknüpfend, dann oft das Kind mir dem Bade ausgeschüttet und die Orientierung auf den Kampf zur Schaffung genossenschaftlicher Strukturen unterschätzt oder gar ganz abgelehnt.
Ein wesentliches Element an den genossenschaftlichen Kinderladen-Projekten ist, dass durch diese Versuche der „Neuland-Gewinnung“ die Arbeiterklasse bestimmte Denk- und Lebensweisen kennenlernen und ausprobieren kann. Sie lernt, sich dafür zu organisieren, sie lernt, dafür zu kämpfen, sie lernt, die Widerstände und Probleme, die dabei entstehen, zu verstehen und zu meistern. Sie erkennt die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen solcher Projekte. Nicht die Zurückstutzung der revolutionären Umwälzung der Gesellschaft auf Reformen, sondern die Verbindung von Reformen und dem Kampf darum mit der Perspektive der Revolution kann eine vernünftige und realistische kommunistische Perspektive eröffnen. Nur die Ergreifung der politischen Macht und die revolutionäre Umwälzung der gesamten Gesellschaft ermöglicht es, die Ansätze und partiellen Errungenschaften des Klassenkampfes zu sichern und auszuweiten; nur so ist es möglich, aus Quantitäten eine neue soziale Qualität zu erschaffen. Doch zugleich braucht die Arbeiterklasse auch die Fähigkeit, diese Macht effektiv nutzen zu können. Dazu muss sie bereits vor der Revolution Erfahrungen sammeln und Strukturen, wenn auch nur vorübergehend, schaffen, in und mit denen sie diese Erfahrungen machen kann.
Die Trägerkollektive der Kinderläden werden zu recht als „selbstbestimmt“ oder „basisdemokratisch“ beschrieben. Man könnte diese Strukturen auch „räte-demokratisch“ nennen – allerdings mit Einschränkungen. Erstens war ihre soziale Basis v.a. anfangs stark von der lohnabhängigen („intellektuellen“) Mittelschicht geprägt und insofern nicht „typisch“ proletarisch. Zweitens waren sie natürlich keine Machtorgane im eigentlichen Sinn von Räten und konnten das aufgrund ihres Charakters als Kindereinrichtungen natürlich auch gar nicht sein. Trotzdem sind auch solche Projekte oppositionelle Stützpunke und „Widerstandsnester“ im Klassenkampf – und wurden von ihren Gegnern aus der politischen Rechten, den Kirchen und dem Staatsapparat auch durchaus als solche angesehen.
Das Mittun an solchen, im allgemeinen Sinn, genossenschaftlichen Projekten, als spezifischen Formen und Strukturen des Klassenkampfes, eröffnet auch die Möglichkeit, diesen Kampf strukturell zu verstetigen. Das Ringen darum, einen Kinderladen zu etablieren und am Laufen zu halten, sich gegen die Widerstände und Manöver reaktionärer Kräfte und des Staates zu behaupten, ist eine tägliche, sozusagen permanente Aufgabe – im Unterschied etwa zum sporadischen Eingreifen im Wahlkampf oder in Streiks, das nur kurzfristig angelegt sein kann und nie oder selten zu Strukturen, schon gar keinen dauerhaften, führt. Letztere sind also schon von daher wenig geeignet, größere Massen intensiv und dauerhaft in den Klassenkampf einzubinden (das heißt freilich nicht, deshalb auf diesen Gebieten inaktiv sein zu dürfen).
Die Kinderläden u.a. Formen genossenschaftlicher Strukturen sind Labore, sind Universitäten des Lebens und des Klassenkampfes. Ohne diese Erfahrungen wird es der Arbeiterklasse und den Massen schwerer fallen, die Revolution vorzubereiten und ihre einmal errungene Macht effektiv zu nutzen. Wir verweisen hier darauf, dass auch Lenin gerade in seinen letzten Lebensjahren immer wieder mit deutlichen Worten darauf hinwies, wie zentral die Hebung des allgemeinen kulturellen Niveaus der Massen ist, um überhaupt eine sozialistische Gesellschaft aufbauen zu können. Wir können hier genauso auf Gramsci verweisen, der mit seinen Ausführungen zur „Hegemonie“ auch diesen Aspekt der Erringung und Ausweitung von Einfluss der Arbeiterklasse – ideellen wie strukturellen – in verschiedenen Sphären der Gesellschaft hervorhob. Kein Kommunist wird ernsthaft bestreiten, dass die Beteiligung an der gewerkschaftlichen Arbeit eine Schule des Klassenkampfes und des Sozialismus sein kann – vorausgesetzt, sie ist auf die Ausweitung des Klassenkampfes und die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus ausgerichtet. Ist sie das nicht, führt sie eher zur Verfestigung des Reformismus in der Klasse. Genau dasselbe trifft im Grunde auch auf Entwicklungen wie die Kinderladen-Bewegung zu. Wenn die Arbeiterkontrolle über verschiedene Bereiche der Gesellschaft (Produktion, Geschäftsunterlagen, Preise, Umweltschutz usw.) und die dazu notwendigen Strukturen Elemente eines Übergangsprogramms sind, dann trifft das genauso auf die Kinderläden und ähnliche Projekte zu. Leider enthält das Übergangsprogramm, das Trotzki zuerst 1938 systematisch formuliert hat, kaum Hinweise auf die Möglichkeit und Notwendigkeit des Kampfes um genossenschaftliche Strukturen. Dieser wichtige Mangel wird von den heutigen „Trotzkisten“ perpetuiert, was darauf verweist, wie unkritisch und unproduktiv sie mit ihrem höchst wertvollen programmatischen Erbe umgehen.
Die Linke und die Genossenschaftsidee
Die Reaktion der (radikalen) Linken nach 1968 auf solche Erfahrungen und ihre pogrammatisch-methodischen Schlussfolgerungen waren unterschiedlich. Ein Teil glaubte, durch fleißige Wühlarbeit den Kapitalismus untergraben und ihn durch permanente Reformen letztlich auch qualitativ überwinden zu können. Der Verzicht auf den Aufbau einer eigenständigen marxistisch-revolutionären Partei, der (dauerhafte) Eintritt in die Grünen und der „Weg durch die Instanzen“ waren Ausflüsse dieser Denkweise. Auch verschiedene Konzepte, v.a. in der autonomen Szene, sich auf „beispielhafte Aktionen“ einer selbsternannten Avantgarde, mit denen man die Massen elektrisieren und mitreißen könne, zu konzentrieren und z.B. auf punktuelle militante Konfrontationen mit der Staatsmacht oder aber auf „Kiezarbeit“ – als Alternative zur proletarischen Revolution – zu setzen, sind dazu zu rechnen.
Die andere, mechanisch entgegengesetzte, Auffassung war, dass alle Versuche, „sozialistische“ Inseln im Meer des Kapitalismus zu besetzen, scheitern müssten und nur vom Ziel der Revolution ablenken würden. Solche Versuche wurden tendenziell als Ausdruck von Reformismus und als der Perspektive des revolutionären Sturzes des Kapitalismus entgegengesetzt angesehen.
Wenn wir uns heute die Programmatik von radikalen linken Gruppen anschauen, so finden wir dort fast überhaupt keine Bezüge zu genossenschaftlichen Strukturen und dem Kampf darum. In gewissem Sinn können wir sagen, dass die Unterschätzung oder Mißachtung des Kampfes um Genossenschaften bedeutet, dass damit ein wichtiger Frontabschnitt im Klassenkrieg unbesetzt bleibt. Natürlich kann so kein Krieg gewonnen werden.
Die Geschichte der Arbeiterbewegung war von Beginn an mit der Genossenschaftsidee und Kämpfen darum verbunden. Sie bildete ein wichtiges Element in den Konzepten der frühen Sozialisten, z.B. bei Robert Owen, und war zudem auch mit der Praxis des Klassenkampfes verbunden. Auch Marx äußerte sich wiederholt zur Genossenschaftsfrage und nahm – bei aller Kritik an den konkreten Formen und Konzepten – dazu eine grundsätzlich positive Haltung ein. So schrieb er z.B. in seinen „Randglossen“ zum Programm der sich 1875 in Gotha konstituierenden sozialdemokratischen Arbeiterpartei: „Daß die Arbeiter die Bedingungen der genossenschaftlichen Produktion auf sozialem und zunächst bei sich, also auf nationalem Maßstab herstellen wollen, heißt nur, daß sie an der Umwälzung der jetzigen Produktionsbedingungen arbeiten, und hat nichts gemein mit der Stiftung von Kooperativgesellschaften mit Staatshilfe!“.
Weiter hebt Marx hervor, dass Genossenschaften wirklich von Bedeutung sind, wenn sie Ergebnisse des Klassenkampfes sind: „Was aber die jetzigen Kooperativgesellschaften betrifft, so haben sie nur Wert (Hervorhebung im Original), soweit sie unabhängige, weder von den Regierungen noch von den Bourgeois protegierte Arbeiterschöpfungen sind.“ Hier scheint sehr konkret die Marxsche Vorstellung vom Klassenkampf als eines die Verhältnisse und zugleich das Bewusstsein der Akteure umwälzenden Prozesses auf.
Schon die II. Internationale (und ein großer Teil der „marxistischen“ Linken heute) hat dazu aber eine ganz andere Position als Marx. Hier ist nicht der Platz, um dieser Frage genauer nachzugehen. Deshalb dazu nur so viel:
Die Strategie der SPD wie der II. Internationale (und umso mehr der Gewerkschaften) schon zu Zeiten von Marx und Engels war von einer tendenziellen Ablehnung, Unterschätzung oder aber von einer rein reformistischen Auslegung des „Genossenschaftsgedankens“ und der weitgehenden Unterschätzung der Bedeutung der rätedemokratischen Selbstorganisation, der Arbeiterkontrolle und der Schaffung entsprechender Strukturen im Kapitalismus geprägt. Die Strategie der SPD und der II. Internationale orientierte wesentlich darauf, per Wahlerfolg – allerdings gestützt auf die Mobilisierung und Organisierung des Proletariats – das Staatsruder in die Hand zu nehmen und so die Gesellschaft auf einen neuen Kurs zu bringen. Der Staat (in den Händen des Proletariats – d.h. konkret in den Händen der Parteiführer) wurde als das zentrale Instrument zum Aufbau des Kommunismus (der oft nur als perfektionierter bürgerlicher „Sozialstaat“ gedacht war) angesehen. Für Marx war damit nicht nur die Position verbunden, dass der bürgerliche Staastapparat zerschlagen werden müsse, sondern auch die Vorstellung der Überwindung wesentlicher Strukturelemente aller vorkommunistischen Ausbeutergesellschaften (z.B. die überkommene Arbeitsteilung, der Staat, die Frauenunterdrückung, die Familie usw.). Von diesen Vorstellungen war die Sozialdemokratie weit entfernt.
Die SPD und die II. Internationale vertraten im Grunde die Auffassung, dass der Sozialismus dadurch aufgebaut werden könne, dass mittels der Staatsmacht, sozusagen von „oben“, die Gesellschaft umgestaltet wird. Damit wurde nicht nur die „Verstaatlichung“ des Sozialismus konzeptionell festgeschrieben, sondern zugleich die entscheidende Rolle der räte-artigen Selbstorganisation des Proletariats weitgehend entwertet. Sowohl in der deutschen wie in der russischen Revolution sollte sich das auf fatale Weise auswirken. Letztlich war das eine – freilich nicht die einzige – Ursache des Scheiterns bzw. der Degeneration dieser revolutionären Aufbrüche. Im Stalinismus, in der heutigen Sozialdemokratie und den reformistischen Gewerkschaften ist die genossenschaftliche, auf Selbstorganisation und Selbstermächtigung der Arbeiterklasse und aller Unterdrückten und Ausgebeuteten ausgerichtete Politik allenfalls ein fast vergessenes Relikt aus früheren Tagen, das nur in manchen Sonntagsreden erwähnt wird.
Wenn eine revolutionäre Strategie heute erfolgreich sein will, dann muss sie die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus und die Zerschlagung des bürgerlichen Staates genauso betonen wie den Kampf für genossenschaftliche, selbstverwaltete Räte-Strukturen bereits im Kapitalismus. In diesem Sinne muss auch die Kinderladenbewegung wieder ein lebendiger Teil des politischen Erbes und des Bewußtseins der antikapitalistischen Linken werden!