Eine Kritik am Offenen Brief der RCIT
Hannes Hohn
Am 9.1.2017 veröffentlichte die „Revolutionär-Kommunistische Internationale Tendenz“ (RCIT) einen Offenen Brief an alle „wirklichen Revolutionäre“. (….) Darin werden diese aufgefordert, „sich zu vereinen, damit wir den Aufbau einer Führung für den Kampf gegen die reaktionäre Offensive der herrschenden Klasse vorantreiben können.“ Aus Anlaß des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution soll „eine internationale Konferenz“ organisiert werden, welche „die Grundlage für die gemeinsame kollektive Arbeit zur Bildung einer Revolutionären Weltpartei legen“ soll. „Das Zusammenkommen für eine solche gemeinsame Initiative zur internationalen Organisierung von Revolutionären ist nur auf der Grundlage einer Einigung über die wichtigsten politischen Fragen des gegenwärtigen weltweiten Klassenkampfes möglich.“
Weiter heißt es: „Eine solche Einigung kann aber nur der Ausgangspunkt für eine intensive Phase gemeinsamer Diskussionen und Aktivitäten sein. Es ist wichtig, ein gemeinsames Verständnis der marxistischen Theorie und des Programms zu entwickeln, was auch kontroverse und sogar scharfe Diskussionen zwischen den beteiligten Organisationen notwendig machen kann.“ Die RCIT schlägt dazu vor, „dass Revolutionäre ein Gemeinsames Kontaktkomitee aller Kräfte gründen, die der grundlegenden Linie mit einer solchen Perspektive einverstanden sind. Die Aufgabe eines solchen Komitees besteht darin, im Jahr 2017 politisch und organisatorisch eine internationale Konferenz vorzubereiten.“
Wahrlich ein ambitioniertes Ziel! Natürlich gibt es keinen Zweifel daran, dass eine effektive Koordination von Widerstand und theoretisch/programmatischer Diskussion zwischen den „revolutionären Linken“ (in welcher Form auch immer) leider nicht existiert und dass die Schaffung solcher internationaler Strukturen von großer Bedeutung wäre. Es geht aber darum, a) was das Ergebnis, was der Inhalt sein soll und b) welcher Weg dahin führt.
Wir befassen uns hier nicht etwa deshalb mit dem Aufruf der RCIT, weil diese Organisation etwas an sich hätte, was sie in irgendeiner Hinsicht qualitativ über andere linke Gruppen hinausheben würde oder etwa, weil ihr Vorschlag so gute Chancen auf Realisierung hätte – im Gegenteil: sie sind angesichts des Zustands der Linken gleich Null (was zunächst noch nichts über die inhaltliche Qualität des Vorschlags aussagt). Nein, der Grund für unseren Beitrag ist, dass die Vorstellungen der RCIT und die Methode, die in ihrem Vorschlag zum Ausdruck kommen, pars pro toto den beklagenswerten Zustand und die tiefe Degeneration der gesamten „radikalen“ Linken widerspiegeln.
Das Dilemma beginnt schon beim Bezug auf die Oktoberrevolution. Diese wird als „das wichtigste Ereignis in der modernen Geschichte“ bezeichnet, „da die Arbeiter und Bauern unter der Führung der bolschewistischen Partei erstmals die Macht eroberten.“ Hier ist zunächst bezeichnend, dass die Russische Revolution a priori als „wichtigstes Ereignis“ der Moderne charakterisiert wird. Warum nicht die gescheiterte Deutsche Revolution, die objektiv natürlich größere positive wie negative Wirkungen hatte oder gehabt hätte? Warum nicht alle anderen Revolutionen, die ohne Ausnahme gescheitert sind, oder die gar nicht ganz so seltenen revolutionären Situationen, die allesamt ungenutzt blieben?! Unbestritten ist allenfalls die Tatsache, dass die Oktoberrevolution zum Stalinismus geführt hat und dieser der größte konterrevolutionäre Faktor innerhalb der Linken und der Arbeiterbewegung wurde – ein noch größerer als die Sozialdemokratie, weil der Stalinismus den „revolutionären“ Flügel der Arbeiterbewegung vergiftete und den Kommunismus direkt diskreditierte.
Die RCIT sieht nur die „positiven“ Seiten von 1917, doch letztlich – egal, ob zufällig, möglich oder notwendig – führte der Bolschewismus in ein Desaster, das globale Ausmaße hatte. Das sollte doch sehr zur Vorsicht mahnen, dieses Ereignis zum Vorbild zu nehmen. Wie wir weiter unten noch sehen werden, macht die RCIT aber genau das.
Sicher war die Russische Revolution ein großartiger revolutionärer Aufbruch. Doch er litt von allem Anfang an unter einer unzureichenden und tw. fehlerhaften Konzeption, die mehr mit der II. Internationale zu tun hatte als mit Marx. Die Einseitigkeit ihrer Geschichtsbetrachtung und ihres „Marxismus“ hindert die RCIT jedoch daran, den gesamten historischen Prozess und alle seine Faktoren zu betrachten.
Die Sicht der RCIT auf die Russische Revolution ist wahrlich naiv. Sie schreibt, dass „die Arbeiter und Bauern unter der Führung der bolschewistischen Partei erstmals die Macht eroberten.“ Davon, dass selbst Lenin am Ende seines Lebens eine geradezu vernichtende Bilanz des Zustands des Sowjetstaates zog; davon, dass schon wenige Monate nach dem Oktober 1917 ein unerhört mächtiger repressiv-bürokratischer Apparat etabliert war, der sehr viel mit dem zaristischen Apparat und fast nichts mit einer Räte-Demokratie gemein hatte und weit größer als die zaristische Bürokratie war; davon, dass selbst von Lenins inkonsequenter und widersprüchlicher, aber immerhin „ambitionierter“ Staatstheorie in „Staat und Revolution“ fast keine Rede mehr war, geschweige denn ein ernsthaftes praktisches Bemühen um deren Umsetzung zu sehen war; davon; dass der Stalinismus sich strukturell (und anfangs auch stark personell) eben fast bruchlos etablierte – von all dem ist keine Rede bei der RCIT.
Und wo – bitteschön – haben die Bauern 1917 oder danach die Macht erobert oder waren an ihr beteiligt? Die Mehrheit der Bauern bzw. ihrer politischen „Hauptvertretung“, der Sozialrevolutionäre, hat die bolschewistische Machtstruktur – nicht die Revolution als solche – abgelehnt. Die Sozialrevolutionäre und alle anderen Nichtbolschewisten wurden verboten und unterdrückt. Der strukturelle (!) Einfluss der herrschenden Bolschewiki auf dem Land war fast Null. Ihre Macht – nicht mit den Bauern bzw. der Dorfarmut – sondern über die Bauernschaft erfolgte in Gestalt von Zwangsrequirierungen, Zwangsrekrutierungen und Terror. Sicher war das unter den fatalen und dramatischen Umständen der ersten Jahre nach 1917 kaum vermeidbar. Doch die revolutionäre Machtentfaltung der Bauern und ihr oft aufopferungsvoller Kampf zur Verteidigung der Revolution gegen die Weißen, z.B. in Gestalt der Machno-Bewegung, wurden von den Bolschewiki verraten und zerstört. Nach dem Sieg über Wrangel auf der Krim 1920 wurde die „verbündete“ Machno-Armee von den Tscheka-Truppen massakriert. Die „Machno-Republik“ in der Südost-Ukraine – die einzige Räte-Stuktur auf dem Lande, die als solche wirklich funktioniert hat – wurde von den Bolschewiki zerschlagen, die demokratisch gewählten Führer und Aktivisten wurden eingesperrt oder umgebracht. Das war tausendfacher Mord – auf Befehl Trotzkis und Lenins! Sieht so die „Macht der Bauern“ aus?!
Als diese Horrornachrichten sich im Land verbreiteten, wurde das auch zu einem Initialzünder für die Bildung der Opposition in Kronstadt. Wurde wenigstens nach Kronstadt und dem Sieg im Bürgerkrieg ab Frühjahr 1921 – da tagte der X. Parteitag der Bolschewiki – irgend etwas geändert, um dem Staatsterror und der ungeheuren Bürokratisierung entgegen zu treten? Nein! Die Vorschläge der Arbeiteropposition wurden rigoros abgelehnt und das Fraktionsverbot erlassen. Das völlig unkontrollierbare Wüten der Tscheka, die im Prinzip nur Lenin selbst bzw. der engsten Führung unterstand, blieb unverändert. Es wurde nichts unternommen oder auch nur ernsthaft diskutiert, wie ein lebendiges Rätesystem rekonstruiert werden könnte usw. usf. Auch die NÖP änderte zwar manches, aber eben nichts an der Staatsstruktur und dem Mechanismus der Macht.
Das, was schon wenige Jahre später als „Stalinismus“ etabliert war, gab es bereits vorher unter Lenin – Stalin musste nur noch die Partei selbst säubern.
Wer, wie die RCIT, nicht einmal diese einfachen Fakten zur Kenntnis nehmen will und sich die Geschichte zurecht stutzt, bis sie in die eigene bornierte Ideologie passt; wer statt der widersprüchlichen Realität der Russischen Revolution einer Fiktion huldigt, der sollte erst einmal seine eigene Organisation qualifizieren, bevor man irgendwelche Weltparteien aufbaut.
Verwunderlich ist das alles nicht. Die RCIT ging aus einer Abspaltung (Ausschluß) der – ebenfalls trotzkistischen – „Liga für die Fünfte Internationale“ (LFI) hervor. Und wie allen trotzkistischen Gruppen u.a. -ismen ist auch der RCIT eigen, dass sie die vielfältigen linken Kritiker des Leninismus / Stalinismus fast völlig ignoriert und keinen Finger gerührt hat, um wenigstens ihre Faktenkenntnis zu verbessern. Da solle sich niemand wundern, wenn ihre „Berufung“ auf 1917 einiges an Skepsis erzeugt.
Aber nicht nur der Blick auf 1917 offenbart eine etwas „seltsame“ Weltsicht, bezüglich 2017 sieht es nicht anders aus. So behauptet die RCIT, dass „das Hauptproblem der Gegenwart nicht der Mangel an Kampf und Widerstand der Arbeiter und Unterdrückten ist“, denn die „tiefe Krise des imperialistischen Systems provoziert ständig Massenkämpfe und Revolutionen.“ Da haben wir wohl etwas verpaßt. Zwar gab es zuletzt diverse Massenkämpfe z.B. in Griechenland (die auch gescheitert sind), doch in der großen Mehrzahl der EU-Länder herrscht Friedhofsruhe – eine Ruhe vor keinem Sturm.
Abgesehen vom – nicht gerade sehr proletarisch-sozialistischen – Arabischen Frühling (der trotzdem der Beginn einer Revolution war) hat es in den seit 1989/90 vergangenen 27 Jahren nicht eine einzige Revolution gegeben, noch nicht einmal eine „halbe“! Und vor 1989? Da müssen wir bis Ende der 1960er / Anfang der 1970er zurückgehen. Kein Mangel an Klassenkampf und Revolutionen?! Offenbar ist die RCIT mit dieser Quote ganz zufrieden.
Trotzdem hält das die Weltpartei-Initiatoren der RCIT nicht davon ab, sich Klassenkämpfe sogar herbei zu phantasieren. Als programmatischer Lackmustest der neuen Organisation gilt – nicht zu unrecht – auch das Verhältnis zur Arabischen Revolution. Dazu heißt es: „angesichts des Mangels an revolutionärer Führung haben die Massen eine Reihe schrecklicher Niederlagen erlitten“. Das steht ausser Zweifel. Umso erstaunlicher dann aber die Schlussfolgerung: „Der revolutionäre Prozess setzt sich dennoch fort, und dies spiegelt sich in dem anhaltenden Volkswiderstand in Syrien, Jemen, Ägypten, Marokko usw. wieder.“ Trotz der „schrecklichen Niederlagen“ gibt es nicht nur weiterhin Widerstand – nein, dieser hat sogar den Charakter eines „revolutionären Prozesses“. Werden da etwa Revolution und Konterrevolution verwechselt?
Dieser Vorgang wird dann flugs noch mit der unmarxistischen Kategorie des „Volkes“ gekoppelt – zum „Volkswiderstand“. Davon könnte man gegebenenfalls sprechen, wenn alle Klassen eines Landes einen gemeinsamen Feind bekämpfen, z.B. einen Aggressor. Doch wo ist das gegenwärtig der Fall? In reiner Form noch nicht einmal im Irak und Afghanistan (diese haben zudem nichts mit dem Arabischen Frühling zu tun), wo es eine imperialistische Besatzung gibt, aber durchaus keinen einheitlichen und geschlossenen „Volkswiderstand“. Vielmehr ist dieser jeweils mit einem Bürgerkrieg verquickt. Und wo gibt es in Ägypten oder Marokko Massenwiderstand? Dass es ihn auch woanders in der Region nicht gibt, wird dann mit dem „usw.“ schön verschleiert. Es gibt hier aber kein „usw.“. Gleichwohl die Arabische Revolution aktuell also geschlagen und beendet ist (was ein erneutes Aufflackern natürlich nicht ausschließt), wirkt es aber sehr „revolutionär“, wenn die RCIT fordert: „Fortsetzung (!) der Unterstützung für die Arabische Revolution.“ Revolutionäre sollten auch Mal träumen, doch sollten sie nie die reale Welt damit verwechseln!
Was aber ist der Zweck der ganzen Übung? Ganz einfach: Wenn der Fortgang der Weltrevolution nicht daran laboriert, dass es zu wenig Widerstand gibt, kann es ja nur an der fehlenden revolutionären Führung liegen. Auf die Idee zu kommen, auch einmal andersherum zu fragen, warum nie eine solche Führung, ja kaum ein relevanter Ansatz dazu aus den „ständigen Massenkämpfen und Revolutionen“ hervorgegangen ist, kommt natürlich niemand unserer „marxistischen“ Analytiker. Auch die Frage, ob es vielleicht auch an einer tiefen Degeneration dessen liegt, was wir „Marxismus“ oder „Kommunismus“ nennen, stellt sich die RCIT nicht.
Die RCIT folgert durchaus richtig: „Es ist entscheidend, die falschen Führungen konsequent zu bekämpfen, was nur innerhalb des Massenkampfes, aber niemals von außen möglich ist.“ Allerdings werden wir oft genug – ob wir wollen oder nicht – auch von aussen den Kampf führen müssen. So wird z.B. der theoretische Kampf immer „von aussen“ geführt. Aber mit dem hat es, wie wir gleich sehen werden, die RCIT auch nicht so.
Da heißt es: „Da das politische, wirtschaftliche und militärische Wesen des Kapitalismus unabänderlich international ist und aus seiner inneren Notwendigkeit heraus global funktioniert, kann die Organisierung der Arbeiterklasse und ihrer Kämpfe auch nur international sein. Jede begrenzte, rein nationale Anstrengung, eine revolutionäre Partei aufzubauen, ist zum Scheitern verurteilt und wird sowohl politisch als auch organisatorisch degenerieren. Wirkliche Marxisten müssen unermüdlich daran arbeiten, eine Revolutionäre Weltpartei aufzubauen, oder sie versagen in ihrer grundlegenden Mission!“
Ein Aufruf kann nicht alles erläutern, das darf aber keine Ausrede dafür sein, Plattitüden zu verbreiten. Hier verschwindet komplett jede Dialektik. Warum ist „das politische, wirtschaftliche und militärische Wesen des Kapitalismus unabänderlich international“? Wo bleiben die Widersprüche zwischen den nationalen und internationalen Aspekten? Warum muss der Partei-Aufbau im „nationalen Rahmen“ (und was heißt das genau?) unbedingt scheitern? Bisher waren alle Parteien zuerst im nationalen Rahmen aufgebaut worden – auch die hochgelobten Bolschewiki bzw. die SdAPR oder die KPD. Wie sagte Marx einst: „Der Klassenkampf ist dem Inhalt nach international, aber der Form nach national.“
Das Ergebnis der Ignoranz gegenüber der Dialektik und den historischen Fakten ist dann die beliebte Übung von Sektierern aller Art, eine „Internationale“ aufzubauen, indem man 6-7 nationale Minigruppen zusammenlegt. Und das verbindet man dann noch mit der grotesken Vorstellung, dass ein „gemeinsames programmatisches Verständnis (…) geprüft (wird), indem es in der Praxis durch gemeinsame Aktivitäten umgesetzt wird.“ Wie sieht eine solche „internationale Praxis“ aus? Die „revolutionären“ Häuflein Unentwegter können froh sein, wenn sie die Verhältnisse national einigermaßen verstehen und nadelstichartig darauf reagieren können – aber international …? Lächerlich! Kein Wunder, dass dieses großspurige Gehabe fast alle Menschen abstößt,die ihre sieben Sinne noch beisammen haben.
Die gesamte Vorstellung der RCIT u.ä. Organisationen bezüglich des Aufbaus einer Internationale leidet wesentlich unter Volutarismus und falschen, mechanischen Vorstellungen von „Avantgarde“, „Führungsrolle der Partei“ usw. Dahinter verbirgt sich auch ein einseitiges, mechanisches Verständnis von Klassenenkampf. Damit verbunden ist auch ein falsches Verständnis von Klassenbewußtsein, das angeblich nur von „aussen“ durch die Partei in die Klasse getragen werden könne. All diese Konstruktionen stammen nicht von Marx her, sondern sind Verdrehungen oder einseitige, mechanische Auslegungen des “Marxismus“ von Kautsky, Plechanow und dessen – in diesen und vielen anderen, wenn auch nicht in allen Fragen – treuen Schüler Lenin.
Ja, wir benötigen eine neue revolutionär-marxistische Partei, die diesen Namen auch verdient und nicht den 99. Aufguß einer trotzkistischen, maoistischen usw. Sekte. Wir brauchen auch keinesfalls eine Neuauflage des Bolschewismus, der das komplette Desaster der Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts mit zu verantworten hat. Gerade die a priori-Annahme, dass die eigene Tradition ja grundsätzlich richtig und „vollkommen“ sei, verbaut den Blick dafür, zu sehen, a) was die Realität der Geschichte des Klassenkampfes wirklich war – entgegen den gut gehüteten bornierten „ideellen Rückprojektionen“ der Linken. So gibt es auch eine große Differenz zwischen der realen Geschichte der Russischen Revolution und deren „trotzkistischer Interpretation“. B) müssen wir schauen, was Marx wirklich vertreten hat, was er geleistet hat – und auch, was er nicht geleistet hat (und was wir leisten müssen). C) Müssen wir das gesamte Spektrum der linken und „marxistischen“ Publizistik im Blick haben und nicht nur die jeweiligen „Lieblings-Marxisten“.
Die neue revolutionäre Weltpartei richtet sich lt. RCIT „an alle wirklichen Revolutionäre (…), die entschlossen sind, gegen die Aggressionen aller Großmächte im Westen und Osten zu kämpfen; die bereit sind, die Arbeiter und Unterdrückten gegen die Imperialisten und ihre lokalen Lakaien zu verteidigen; die bereit sind, die Bürokratie in der Arbeiterbewegung zu bekämpfen, die den Widerstand unserer Klasse erwürgt – euch sagen wir: prüft unseren Vorschlag mit aller Ernsthaftigkeit und lasst uns jetzt gemeinsam eine Revolutionäre Weltpartei aufbauen.“
Da kämen freilich viele Linke und kämpferische ArbeiterInnen infrage: Unorganisierte, linke Sozialdemokraten, Zentristen, Anarchisten, Syndikalisten, Feministen usw. usw. Doch um wen es der RCIT wirklich geht, macht folgende Passage, wo ein weiteres inhaltliches „Essential“ betont wird, klar: Es geht um die „Tradition der ersten vier Internationalen“ und um die „Lehren der großen Revolutionäre Marx, Engels, Lenin, Luxemburg und Trotzki“.
Hier fragen wir uns nur, was wohl „die Tradition“ der vier Internationalen ist, da diese ja sehr verschieden und zudem noch in sich differenziert waren? Eine reine Leerformel. Und wir fragen uns im selben Sinn: Was wohl sind die großen Lehren, auf die wir uns berufen sollen – weil sie so einheitlich, ausnahmslos korrekt und von der Geschichte unwiderlegt sind? Die einzige Lehre, die wir hier ziehen können, ist die, nicht selbsternannten „Marxisten“ zu folgen, denen offenbar nicht bewußt ist, dass auch der Marxismus, die Arbeiterbewegung und ihre Lehren einem historischen Prozess unterliegen und keine ewigen göttlichen Weisheiten darstellen.
Und wer es jetzt immer noch nicht verstanden hat, für den lässt die RCIT am Ende die Katze aus dem Sack: „Genossinnen und Genossen, wir können das Erbe der sozialistischen Oktoberrevolution 1917 nur ehren, wenn wir gemeinsam im Geiste und auf der Grundlage de(r) programmatischen und organisatorischen Lehren der Bolschewiki handeln.“
Warum habt ihr nicht gleich gesagt, dass für Euch Revolution = Bolschewismus und Diskussion = Heldenverehrung ist und es um die Errichtung von Altären geht, von denen herab man dann predigen kann: „Weiter wie bisher!“ Dass auf diese Einladung hin ausser eingefleischten Trotzkisten noch andere Linke zu ihrer neuen Internationale kommen, kann sich die RCIT abschminken. Wen zieht schon als Prinzipenfestigkeit getarnte Borniertheit an?!
Die Festlegung auf eine bestimmte ideologische Richtung (hier der Trotzkismus) und damit der Ausschluß aller anderen, die diese Sicht nicht teilen, bedeutet erstens, dass die großen und grundsätzlichen Fragen der Arbeiterbewegung und der Linken eben nicht auf Tapet kommen – schon deshalb, weil zweitens deren verschiedene Protagonisten ausgeschlossen bleiben. Wie soll so eine neue Internationale, geschweige denn eine auf höherem Niveau der Linken entstehen?!
Was bleibt zu tun? Erstens, das absurde Theater beenden! Zweitens: Bevor versucht wird, eine neue Großbäckerei zu errichten und Bäckerlehrlinge dafür zu suchen, sollten alle Zutaten überprüft und die Bedienungsanleitung für den Backofen gründlich studiert werden!
Wir brauchen eine grundlegende Erneuerung, eine umfassende Inventur der „revolutionären Linken“ und ihrer Konzepte – unter Berücksichtigung der gesamten reichen linken Tradition und nicht ihrer jeweiligen – oft auf Unkenntnis und fraglichen „Traditionen“ beruhenden „Verdammung“ der jeweils anderen Strömungen. So ist es überhaupt nicht von der Hand zu weisen, dass die Kritik etwa der Anarchisten an der II. Internationale oder am Bolschewismus viele richtige Punkt benennt und eher und treffsicherer als alle anderen das kommende Desaster dieser Richtungen vorausgesagt hat. Die Aufarbeitung und Systematisierung all dieser Strömungen / Kritiken / Alternativen ist noch lange nicht erfolgt und umfassender und komplexer, als die meisten selbsternannten „Marxisten“ und Avantgardisten ahnen. Doch sie ist durchaus lösbar, wir fangen nicht bei Null an. Woran es v.a. mangelt, ist die Einsicht in die Notwendigkeit dieser Aufgabe. Woran alles krankt, ist die bequeme Selbstgenügsamkeit und Selbstgewißheit, mit der die Linken in ihrem jeweiligen ideellen Glashaus hocken. Wer wirft den ersten Stein – das ist die Frage! Die RCIT will nur ein weiteres Glashaus.