Vorbemerkung: Den nachfolgenden Artikel übernehmen wir dankend vom blog www.nachdenkseiten.de. Die Redaktion
Der Leiter des Gesundheitsamts Aichach-Friedberg hat zunächst intern, dann öffentlich die Maßnahmen der bayerischen Staatsregierung zur Bekämpfung der Corona-Krise infrage gestellt. Friedrich Pürner kritisiert unter anderem Massentests, die Gesunde zu Kranken machen, und Communitymasken ohne echte Schutzwirkung. Sein Einspruch hat ihn den Job gekostet, aber viel Aufmerksamkeit und Anerkennung eingebracht. Im Interview mit den NachDenkSeiten bekräftigt er seine Haltung. Mit ihm sprach Ralf Wurzbacher.
Herr Pürner, seit ein paar Wochen bekleiden sie also eine neue Funktion im Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL), nachdem Sie zuvor als Chef des Gesundheitsamtes Aichach-Friedberg mit wiederholter Kritik an der Corona-Politik von Bayerns Regierungschef Markus Söder (CSU) für Aufsehen gesorgt hatten – und deshalb Ihren Stuhl räumen mussten. Können Sie in Ihrer neuen Position jetzt weniger Schaden anrichten?
Ich kann nicht erkennen, welcher Schaden durch meine Kritik entstanden ist. Vielmehr wollte ich ja gerade dadurch möglichen Schaden abwenden, indem ich meine Einwände auch öffentlich formuliert habe. Wenn ich Fehler im System erkenne, dann bin ich ja geradezu zur Kritik verpflichtet. Ein Schaden mehr ist im Übrigen durch meine Abordnung an meinem ehemaligen Gesundheitsamt entstanden und eventuell sogar an der mir anvertrauten Bevölkerung. Denn gerade in so einer prekären Situation, in der die Gesundheitsämter am Limit sind, kann die Versetzung des Amtsleiters, der in einem gut eingespielten Team arbeitet, keine gute Idee sein.
Wie erfolgreich waren Sie rückblickend in puncto Schadensbegrenzung?
Besonders erfolgreich waren mein Team und ich bei einem Agrarbetrieb im Landkreis, wo knapp 100 Saisonkräfte positiv getestet wurden. Schnell kam die Forderung auf, den Betrieb sofort zu schließen und alle knapp 600 Beschäftigte in Quarantäne zu nehmen. Ich habe aber weder das eine noch das andere getan. Dafür hatte ich zwei gute Gründe: Zum einen verfügte der Betrieb über ein extrem gutes Hygienekonzept und die Mitarbeit der beiden Geschäftsführer war hervorragend. Zum anderen konnte ich mich vom Gesundheitszustand der Arbeitskräfte persönlich überzeugen. Wir haben jeden Einzelnen gesehen und untersucht. Diese Arbeit muss man sich halt machen. Aber selbst die positiv Getesteten waren gesund und zeigten keine Symptome. Warum also hätte ich eine Schließung herbeiführen sollen? Viel eher sollte man aus dem Fall lernen. Sowohl das Hygienekonzept als auch meine Vorgehensweise hätten eine gute Blaupause für weitere Betriebe in ähnlicher Lage und andere Gesundheitsämter sein können.
Aber war das nicht ziemlich riskant? Schließlich hätte ja einer der positiv Getesteten noch später erkranken und bis dahin unerkannt andere anstecken können.
Das ganze Leben ist ein Risiko und in der Medizin gibt es keine hundertprozentige Sicherheit. Als Leiter eines Amtes muss man sich eine Entscheidung dieser Art zutrauen und potenzielle Gefahren vernünftig abschätzen können. Die getesteten Saisonkräfte wurden ja nicht deshalb getestet, weil sie krank waren, sondern nur, weil es das Kontaktmanagement so vorsah. Und auch kein einziger der Positiven wurde in der Folgezeit krank.
Vielleicht war das ja einfach nur ein Glücksfall?
Ich sehe das gerade andersherum. Durch die exzessive Testerei erklären wir viel mehr eigentlich gesunde Menschen zu Kranken, als dass wir tatsächlich Kranke ausfindig machen. Anders gesagt: Hätten wir nicht getestet, hätten wir niemals etwas von diesen 100 Positiven erfahren. Genau darin liegt die Krux. Der PCR-Test erkennt nur ein bestimmtes Genschnipsel des SARS-Cov-2-Virus oder eben nicht. Ob jemand, der positiv ist, auch krank oder infektiös, also ansteckend ist, kann dieser Test nicht aussagen.
Und das war mein Kritikpunkt. Als Arzt ergreife ich keine Maßnahmen nur auf Grundlage eines Laborbefunds. Ich möchte den Patienten persönlich sehen und untersuchen, um dann eine Diagnose zu stellen. Und sofern jemand keinerlei Symptome zeigt, also völlig gesund ist, dann ist er eben nicht krank. Auch das Ansteckungsrisiko, das von dieser Person ausgeht, halte ich für ziemlich niedrig. Im konkreten Fall war ja das Schutzkonzept mit Masken, Abstand und Trennung der Arbeitsgruppen sehr gut.
Man muss auf die Dinge, die man sieht und einschätzen kann, auch vertrauen können. Andernfalls bräuchte es diese ganzen Konzepte erst gar nicht. Ich bin nach wie vor überzeugt davon, dass diese Saisonkräfte die Erkrankung bereits vor ihrer Einreise durchgemacht hatten und der PCR-Test nur noch kleine Überbleibsel des Virus fand. Hier hätte also eine andere Interpretation der PCR-Ergebnisse durchaus einen höheren Schaden anrichten können.
Und Ihre Kritik an der Teststrategie haben Sie als Amtsarzt einfach mal so herausposaunt?
Ich habe diese fachlich begründet. Ebenso wie meine Kritik an den Communitymasken, dem allgemeinen Umgang mit allen Masken, den Schulschließungen und Inzidenzwerten samt der daraus folgenden Maßnahmen. Im Übrigen habe ich zunächst intern Kritik geübt, diese ist aber ungehört geblieben.
Ihnen war aber schon klar, dass Sie mit solchen Aussagen schnell in Teufels Küche kommen können? Was haben Sie geglaubt, mit ihrem Aufstand erreichen zu können?
Konstruktive Kritik zu üben, ist kein Aufstand, und in diesem Bereich bin ich nun mal Experte. Aber ja, ich wusste schon, dass mich diese Kritik meine Karriere kosten kann. Sei es drum. Wenn die Staatsregierung das nicht aushält und mit einer Zwangsversetzung antwortet, dann zeigt sie ja deutlich mehr Schwäche als Stärke. Auch beim Thema Personalpolitik und Umgang mit Mitarbeitern besteht im öffentlichen Dienst Optimierungsbedarf. Mich stört auch massiv, dass den Bürgern zu wenig erklärt wird. Nehmen wir das Beispiel Masken: Wurde jemals umfassend darüber aufgeklärt, welche Masken welchen Schutz bieten? Bei den Communitymasken tut man einfach so, als ob sie eine ausreichende Schutzwirkung hätten. Mit Formulierungen wie „man gehe davon aus“ wird den Menschen suggeriert, dass man darüber bereits hinreichendes Wissen hat. Das ist aber nicht der Fall. Ehrlicherweise müsste man sagen, dass die Politik insgesamt wenig Erkenntnisse zu Covid19 und den geeigneten Schutzmaßnahmen hat.
Nun sollen Sie laut einer Mitteilung der Regierung Schwaben die Prozessqualität und die Digitalisierung an den Gesundheitsämtern in Bayern voranbringen. Zitat: „Für diese anspruchsvolle Aufgabe wird ein Arzt mit langjähriger Erfahrung an einem Gesundheitsamt gebraucht.“ Nun scheint Sie der Job nicht so auszufüllen, dass Sie endlich auch ihre Renitenz ad acta legen …
Meine Kritik äußere ich auch weiterhin, nicht weil ich bockbeinig oder störrisch wäre, sondern weil ich sie für richtig und wichtig halte. Ich muss nun eben immer dazu sagen, dass ich als Privatmann spreche. Die Fachkompetenz bleibt ja erhalten und klebt nicht am Bürostuhl meines vorherigen Amtes, auch wenn ich mich jetzt nicht mehr tagtäglich mit Positiven und Kontaktpersonenverfolgung beschäftigen muss.
Nun waren Sie zur Kontaktnachverfolgung ja von Amts wegen genötigt, ohne vom Vorgehen überzeugt gewesen zu sein. Wie haben Sie diesen Spagat gemeistert?
Mein Team und ich waren sehr gut eingespielt. Die Kontaktpersonenverfolgung gehörte ja bereits vor Corona zu den zentralen Aufgaben der Gesundheitsämter. Saubere Ermittlungen dauern und auch die Betreuung und Überwachung der in Quarantäne befindlichen Bürger kosten Zeit und Personal. Dazu sind auch die Vorgaben, wer etwa als enge oder weitere Kontaktperson eingestuft wird, sehr theoretisch und manchmal wenig praktikabel. Wegen der vielen positiv Getesteten kamen wir deshalb regelmäßig an unsere Grenzen.
Könnten Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen wir ein Fußballspiel. Ein Spieler wird am nächsten Tag positiv getestet. Wie wollen sie nun genau ermitteln, wer mit dem Betroffenen engen oder nicht engen Kontakt oder gar keinen Kontakt hatte? Ein Spiel dauert 90 Minuten, es sind mindestens 22 Spieler auf dem Feld. Nehmen Sie in solchen Fällen alle Spieler in Quarantäne, dann schreit mindestens die Hälfte auf, das sei unverhältnismäßig. Lassen sie alle laufen, dann schreit die andere Hälfte, dass das viel zu leichtsinnig wäre. Genau in diesem Spannungsfeld haben wir uns täglich bewegt. Dasselbe gilt für Familienfeiern und andere Feste. Wer kann Tage später noch sicher sagen, mit wem er und wie lange er mit dem Betreffenden Kontakt hatte? Bei uns gingen zahlreiche Beschwerden über zu viele oder zu wenige Maßnahmen ein. Das belastet das Team und die Mitarbeiter auf Dauer schon.
Welche Dienste hat Ihnen bei all dem die mit Millionensummen entwickelte Corona-Tracing-App erwiesen?
Die App spielte gar keine Rolle für uns, sie kann die Gesundheitsämter faktisch nicht unterstützen. Schon als die Software herauskam und groß beworben wurde, habe ich öffentlich davon abgeraten und erklärt, sie nicht herunterladen und nutzen zu wollen. Dafür wurde ich heftig kritisiert, weil ich ja eine Vorbildfunktion innehätte und deshalb die App unterstützen müsse. Aber genau von dieser Vorbildfunktion habe ich Gebrauch gemacht. Ich war mutig genug, im Juni das zu kritisieren, was dann im September vom Bundesverband der Ärzte und Ärztinnen des öffentlichen Gesundheitswesens und später im Oktober sogar von Ministerpräsident Markus Söder bemängelt wurde. Wörtlich sagte der: „Die App ist leider bisher ein zahnloser Tiger. Sie hat kaum eine warnende Wirkung.“
Es heißt ja seitens des Robert Koch-Instituts (RKI) sowie der Regierenden in Bund und Ländern, der Sieben-Tage-Inzidenzwert müsse unbedingt unter die Marke von 50 Positivbefunden pro 100.000 Einwohnern gedrückt werden, weil nur so die Kontaktverfolgung lückenlos zu leisten sei. Wie praxistauglich ist dieser Wert nach Ihren Erfahrungen?
Inzidenzen beschreiben in der Medizin die Anzahl der Neuerkrankten innerhalb eines bestimmten Zeitraumes. Positivbefunde sind aber nicht mit Neuinfektionen gleichzusetzen. Ein Positivbefund ist eben erst mal nur ein Befund, sonst nichts, eine mögliche Infektion könnte schon Monate zurückliegen. Die große Mehrzahl der positiv Getesteten ist völlig symptomlos. Dennoch müssen wir sie und ihre Kontaktpersonen verfolgen, ohne dass dies aus infektiologischer Sicht zielführend wäre. Auch deshalb hilft dieser Wert in der Praxis wenig. Im Gegenteil: Werden die Grenzen wie derzeit weitüberwiegend von Symptomlosen oder nur leicht Erkrankten ohne schwere Viruslast gerissen, dann werden die Maßnahmen trotzdem für alle verschärft und es müssen Menschen in Quarantäne, die dann an wichtigen Stellen im System fehlen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass selbst 50 Positivbefunde innerhalb von sieben Tagen pro 100.000 Einwohner die Ämter überlasten, schon weil sie häufig personell schlecht aufgestellt und in den letzten 10 bis 15 Jahren konsequent kaputtgespart worden sind.
Dasselbe gilt bekanntlich auch für Kliniken und Pflegeheime. Wie verschärft die praktizierte Quarantänisierung die Lage vor Ort?
Klar ist doch, dass gerade im Herbst und im Winter auch Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte erkranken. Mit Corona spitzt sich die ohnehin prekäre Situation weiter zu. Sobald in der Belegschaft einer – egal ob mit oder ohne Symptome – positiv getestet wird, werden im Umkreis alle getestet. Damit werden wieder mehr Positive und mehr Kontaktpersonen generiert, obwohl vielleicht kein einziger wirklich krank ist oder krank wird. Diese Leute fehlen dann im Klinik- oder Heimbetrieb.
Aber nun passiert in meinen Augen etwas Spannendes. Einerseits erklären viele Experten, auch die Asymptomatischen wären ansteckend. Andererseits ist inzwischen aber gängige Praxis, in Quarantäne befindliche Kontaktpersonen, zum Teil aber auch asymptomatisch positive Mediziner und Pflegekräfte, unter strengen Schutzmaßnahmen weiter ihrer Arbeit nachgehen zu lassen. Also bringt man potenzielle Kranke und „Anstecker“ gerade mit den Patienten und Heiminsassen zusammen, die wir eigentlich schützen möchten. Das erscheint mit Blick auf die herrschende Corona-Lehre zumindest widersprüchlich. Noch absurder wirkt das Ganze dadurch, dass die Betroffenen sich privat isolieren müssen, also nicht vor die Tür dürfen, während sie aber auf der Arbeit stundenlang direkt am Krankenbett zu tun haben.
Auf welcher Grundlage ist das möglich?
Für die Ausnahmeregelung muss die Klinikleitung lediglich einen begründeten Antrag an das zuständige Gesundheitsamt richten. Die Klinik muss darlegen, dass ohne dieses Personal die Versorgung der Patienten nicht mehr gewährleistet werden kann. In den meisten Fällen wird das bewilligt. Voraussetzung sind, wie gesagt, sogenannte Schutzmaßnahmen, die der Quarantänisierte einhalten muss, etwa das Tragen einer FFP-2-Maske ohne Auslassventil. Das Tragen einer solchen Maske über einen kompletten Dienst hinweg halte ich unter arbeitsmedizinischen Gesichtspunkten für fragwürdig. Im Übrigen muss die Anwendung einer solchen Schutzausrüstung geübt werden, das ist nicht so trivial, wie man vielleicht glauben möchte. Allerdings bezweifele ich stark, dass in solchen Fällen überhaupt eine arbeitsmedizinische Untersuchung sowie eine Einweisung zum adäquaten Umgang mit den Masken unter Stressbedingungen vorgenommen wird.
Sie sprachen ja von konstruktiver Kritik, die Sie üben würden. Wie also sähe Ihr Rezept aus, um die Verbreitung von SARS-Cov-2 einzudämmen?
Ein Pandemieplan verfolgt nicht bloß das Ziel der Eindämmung. Für eine kurze Zeit kann man das sicher so machen, um Zeit zu gewinnen, damit Vorbereitungen getroffen und weitere Maßnahmen erarbeitet werden können. Der nächste Schritt, und dieser ist längst überfällig, ist der Schutz der sogenannten vulnerablen Gruppen. Die dafür reichlich vorhandene Zeit hat man aber während des ersten Lockdowns und im Sommer ungenutzt verstreichen lassen. Man hat sich immer nur auf die Eindämmung und die Rückverfolgung der Infektionsketten konzentriert. So kommt man einer Pandemie aber nicht bei. Dieses Virus wird sich immer weiter ausbreiten, es wird unter uns bleiben, Menschen werden daran sterben – und wir werden lernen müssen, damit zu leben. Um beispielsweise die Bewohner in Alten- und Pflegeheimen zu schützen, könnte man an Besucher sogenannte chirurgische Masken am Eingang der Einrichtung verteilen. Nach einer ausführlichen Händedesinfektion wird dann die Maske aufgesetzt und darf erst nach dem Besuch des Angehörigen wieder entfernt werden.
Die Initiative für Qualitätsmedizin (IQM), ein Verbund Hunderter deutscher Kliniken, hat eine Auswertung zur stationären Versorgung im ersten Halbjahr vorgelegt, über die die NachDenkSeiten berichteten. Nach den Befunden waren drei Viertel der hospitalisierten „Covid-19-Fälle“ nur Verdachtsfälle ohne positiven Labortest, dafür aber mit anderen Krankheitsverläufen, Behandlungsroutinen und Sterberaten. Inzwischen hat die IQM neuere Zahlen für den Zeitraum bis Ende Oktober nachgereicht, die nahelegen, dass auch im Herbst ein erhebliches Missverhältnis zwischen „echten“ und „falschen“ Covid-Patienten in deutschen Krankenhäusern besteht. Stellt dieses Phänomen für Sie eine Überraschung dar?
Eigentlich überrascht mich das nicht. Im ersten Halbjahr sprach ich mit einem leitenden Arzt einer Klinik. Er erzählte mir ebenfalls, dass eine Vielzahl von klinisch-epidemiologischen Fällen im Krankenhaus seien. In Fällen, in denen der PCR-Test bei typischen Symptomen und entsprechender Bilddarstellung der Lunge negativ sei, würde der Patient als „Covid-Fall“ laufen. Begründet hat er das mit der Einschätzung, dass die Viren im Rachen nicht mehr nachweisbar und bereits in die Lunge abgewandert seien. Kliniker würden keine bloßen Befunde behandeln, sondern Menschen. Zwingend dafür sei dann eine Arbeitshypothese und diese lautet dann eben Covid-19.
Haben Sie eine Erklärung für diese doch ziemlich erstaunliche Freihändigkeit bei der Diagnostik? In der öffentlichen Darstellung herrschte doch bisher immer der Eindruck vor, zum Covid-Infizierten beziehungsweise -Erkrankten kann man nur mit einem positiven PCR-Test werden.
Über die Gründe könnte ich nur spekulieren und das möchte ich nicht. Lieber rede ich über einen anderen Punkt: Ich gehe davon aus, dass die meisten Statistiken auf einem aufgeblähten Zahlensalat basieren. Je länger die Pandemie dauert, um so aufgeblähter werden die Zahlen. Seit Beginn der Krise plädiere ich für eine eindeutige und nachvollziehbare Zahlendarstellung. Zum einen lege ich Wert auf saubere Statistiken, zum anderen möchte ich, dass sich die Menschen ein realistisches Bild von der Situation machen können. Das ist derzeit nicht der Fall.
Wenn es heißt, täglich sterben so viele Menschen wie bei einem Flugzeugabsturz, dann stimmt das einfach nicht. Die täglich gemeldeten Todesfälle entsprechen ja gar nicht den an einem einzigen Tag Verstorbenen. Einige davon starben bereits Wochen davor, werden aber erst jetzt gemeldet. Das ist eher die Regel als die Ausnahme. Es müsste also, um exakt zu sein, der Meldeverzug in Tagen angegeben werden. Das passiert aber nicht. Und so setzt sich in den Köpfen der Menschen ein falsches Bild fest, das nur noch mehr Angst produziert. Im Übrigen weiß man bei den täglich vermeldeten Todeszahlen immer noch nicht, wie viele „an“ und wie viele „mit“ dem SARS-Cov-2-Virus verstorben sind. Das ist nämlich ein gewaltiger Unterschied.
In der öffentlichen Berichterstattung wird ja seit Wochen verstärkt das Bild überfüllter und überlasteter Krankenhäuser und Intensivstationen gezeichnet. Sie können ja aus jahrelanger persönlicher Erfahrung sprechen. Ist die Situation momentan eine signifikant andere als in den Vorjahren?
In den vergangenen Jahren kamen immer wieder Kliniken infolge von Influenza- und anderen Infektionserkrankungen im Herbst und Winter an ihre Grenzen. Das ist nichts Neues. Covid-19 wirkt aktuell nur wie ein Brennglas und offenbart die schrecklichen Folgen jahrelanger Kürzungspolitik, die sich nun bitter rächt. Meine Vermutung ist, dass man die Krankheit benutzt, um vom Versagen der Gesundheitspolitik und den rigorosen Sparmaßnahmen abzulenken.
Kennen Sie Kolleginnen und Kollegen aus anderen Gesundheitsämtern, die Ihre Sicht der Dinge teilen?
Ja, ich kenne sogar einige. Nach meinen kritischen Äußerungen in überregionalen Medien erhielt ich innerhalb weniger Wochen über 1.000 E-Mails und andere Zuschriften, nahezu ausschließlich mit Worten der Anerkennung. Positive Reaktionen erreichten mich aus fast der Hälfte aller bayerischen Gesundheitsämter, durch einige Amtsleiter und sehr viele Amtsärzte, die mit mir einer Meinung sind und mir Mut machten. Allerdings wollte niemand öffentlich sprechen. Zu groß war und ist die Angst vor Konsequenzen. Wie man an meinem Beispiel sieht, ist diese Angst nicht unbegründet.
Deshalb sage ich nach wie vor, dass die Staatsregierung mit meiner Zwangsversetzung ein Exempel statuieren wollte. Denn in vielen Ämtern rumort es. Passend dazu hat der Bayerische Rundfunk am letzten Mittwoch gleich zwei Artikel online gestellt, die zeigen, dass die Gesundheitsämter am Ende sind. Schade ist nur, dass sich wieder niemand mit seinem Namen an die Öffentlichkeit traut und so wie ich Tacheles redet. Aber insgesamt lässt sich schon erkennen, dass die Ämter sich mittlerweile mehr trauen. Solche Berichte wären zu Beginn der Pandemie undenkbar gewesen.
Man stelle sich vor, für Dutzende Amtsärzte in Bayern müsste auf der Stelle eine „anspruchsvolle“ Anschlussbeschäftigung erfunden werden. Das könnte mithin sogar Herrn Söder aus dem Konzept bringen, oder?
Wenn unsere Gesundheitsämter weiter so am Limit arbeiten, dann wird sich die Politik früher oder später dazu erklären müssen. Ich weiß von Ämtern, in denen Leute wegen Burnout-Syndrom fehlen. Gestandene und erfahrene Amtsärzte können nicht mehr. Hygienekontrolleure, die ja berufsbedingt ein dickes Fell haben, sind am Ende. Die gesetzlich geregelten Arbeitszeiten werden nicht eingehalten, die Familien zu Hause kommen zu kurz, die Überlastung dauert eben schon viel zu lange an.
Und ein Ende ist nicht in Sicht.
Mal ganz im Ernst: Wer von den Topvirologen oder Statistikern hat denn jemals ein Gesundheitsamt von innen gesehen? Und sollte sich ein Politiker einmal erbarmen und vorbeischauen, dann wird er sicher nicht die realen Zustände zu sehen bekommen. Zur Wahrheit gehört auch, dass Politiker immer genau da nachfragen, wo sie sich die bereits erhofften Antworten erwarten. Damit erhält man Bestätigung für den eigenen Kurs und muss sich nicht weiter darüber Gedanken machen. Dabei muss endlich ein Umdenken einsetzen. Ein paar warme Worte zu Weihnachten und eine Sonderzahlung bringen nicht wirklich was. Das geht völlig am Problem vorbei.
Zur Person: Friedrich Pürner, Jahrgang 1967, war bis Anfang November Leiter des Gesundheitsamts des Landkreises Aichach-Friedberg im bayerischen Regierungsbezirk Schwaben. Wegen seiner öffentlichen Kritik an der Anti-Corona-Politik der bayerischen Staatsregierung, im Speziellen an der Rolle von Ministerpräsident Markus Söder (CSU), wurde er von seiner Funktion entbunden und ins Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) versetzt.