Das Machtkartell

Hanns Graaf

Es ist ein Gemeinplatz des Marxismus, dass Staat und Regierung Machtinstrumente der herrschenden Klasse sind. Er hat die Funktion eines „ideellen Gesamtkapitalisten“. Immer – und mit vollem Recht – hat der Marxismus die These abgelehnt, dass der Staat ein neutrales, über den Klassen stehendes Instrument sei, das den Interessen aller Menschen dienen würde und a priori für das soziale Zusammenleben unverzichtbar sei. Marx und Engels hoben – im Anschluss an die Erkenntnisse der bürgerlichen Wissenschaft (Morgan) – demgegenüber hervor, dass der Staat ein historisches Produkt der Arbeits- und Klassenteilung und der Produktivkraftentwicklung war und im Zuge der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte gen Kommunismus „absterben“ könne und müsse.

Doch bereits der Begriff der „herrschenden Klasse“ muss differenziert gesehen werden. Im 19. Jahrhundert war der Staat oft das Instrument nicht nur einer Klasse, der Bourgeoisie, sondern Diener zweier Herren: der Bourgeoisie und des Adels. Deutschland unter Bismarck war ein Paradebeispiel dafür. Der deutsche Staat förderte einerseits die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise, sicherte aber zugleich die Pfründe der ostelbischen Junker und deren dominante Stellung im Staats- und Militärapparat. Mit dem Anwachsen der Arbeiterklasse und deren politischer Formierung und Organisierung in Gestalt der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften war der Staat gezwungen, diese neue Klassenkraft zu „bändigen“. Er benutze dazu einerseits die Peitsche, z.B. die Sozialistengesetze“, aber auch das Zuckerbrot in Form sozialer Zugeständnisse und der Sozialgesetzgebung.

Diese Tatsachen verweisen darauf, dass der Staat keineswegs nur Interessenvertreter einer Klasse ist (was er natürlich auch ist), sondern auch eine Vermittlerfunktion zwischen verschiedenen Klassen – ausbeutenden wie ausgebeuteten – hat. Dazu kommt noch, dass es innerhalb der Klassen, z.B. innerhalb der Bourgeoisie, verschiedene Fraktionen gibt, deren gegenläufige Interessen ausgeglichen werden müssen. So standen etwa hinter der faschistischen Bewegung in Deutschland anfangs v.a. die Mittelschichten und das Kleinbürgertum, nicht das mittlere und das Großkapital. Erst Anfang der 1930er schlug sich das Gros des Rüstungs-affinen Kapitals der Montanindustrie, der Chemie u.a. Bereiche auf die Seite der Nazis (Harzburger Front). Mit der Machtergreifung Hitlers 1933 diktierten dann die Interessen dieses Großkapitals die Regierungspolitik und die Interessen der Mitte wurden ihr untergeordnet.

Veränderungen nach 1945

Nach Ende des 2. Weltkriegs begann v.a. in Europa die Ära der „sozialen Marktwirtschaft“. Die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse nahmen zu, tw. durch den Klassenkampf bzw. durch die potentielle Gefahr, die er für das System darstellt, tw. durch Zugeständnisse an die Arbeiterklasse (auch aus Angst vor einer Ausbreitung des „Kommunismus“). Ökonomische Grundlage dieser Strategie war der lange Boom, der einerseits durch die enorme Kapitalvernichtung im 2. Weltkrieg und die niedrigen Löhne, andererseits durch die Kapitalspritzen aus den USA (Marshallplan) bedingt war. Die hohen Wachstums- und Profitraten ermöglichten höhere Löhne und umfangreichere Sozialleistungen, die wiederum die Nachfrage nach Konsumgütern antrieben.

Der Staat war der wesentliche Faktor dieser Politik, sowohl hinsichtlich enormer Infrastrukturinvestitionen als auch hinsichtlich der Etablierung des „Sozialstaats“. Der Aufschwung des Reformismus in Westeuropa damals war aber nicht etwa einer „neuen Qualität“ des Reformismus geschuldet, sondern v.a. dem damals größeren Verteilungsspielraum. Immerhin gelang es so – und bis heute – den Klassenkampf und revolutionäre Erschütterungen deutlich zu begrenzen und im Rahmen des Systems zu halten. Der „Sozialstaat“ geriet aber ab den 1980ern nach dem Ende des langen Booms, mit der Globalisierung und dem stark vom Finanzmarkt getriebenen Neoliberalismus immer stärker unter Beschuss.

Der Charakter des Staates hat sich gewandelt und wird sich auch künftig weiter wandeln. Zweifellos ist der bürgerliche Staat immer noch wesentlich Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie, doch seine Mittel und Methoden haben sich zum Teil geändert. Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte der Staat eine Hauptaufgabe: die Sicherung der Kapitalherrschaft gegen innere Feinde (Proletariat) und äußere Konkurrenten (andere Kapitalgruppen und Staaten). Daher war die Repressionsfunktion des Staates besonders ausgeprägt und der Staatsapparat bestand v.a. aus Armee, Polizei und Justiz. Mit dem Aufkommen des Proletariats als „Klasse an sich“ und als „Klasse für sich“ und mit der steigenden Technisierung, Verwissenschaftlichung und der zunehmenden Komplexität der kapitalistischen Gesellschaft nahmen jedoch die verwaltenden, organisierenden, vermittelnden Funktionen des Staates zu. Der größte Teil des Staatsapparates war nun mit der Verwaltung der Gesellschaft befasst.

Verwaltung vs. Repression?

Oft wird diese Verwaltungsfunktion mit der Vorstellung verbunden, dass der Staat a) unverzichtbar und b) sein Handeln letztlich im Interesse Aller läge. Auch der Reformismus vertritt diese Ansicht. Doch diese Vorstellungen von der Rolle des bürgerlichen Staates sind falsch. Erstens ergeben sich die Kompliziertheit und die widerstreitenden Interessen des Kapitalismus zum großen Teil nicht aus der “modernen Gesellschaft“ an sich, sondern aus der Spezifik der bürgerlichen Gesellschaft: dem Privateigentum und der Konkurrenz. Werden diese nicht „reguliert“, würde der Kapitalismus ins Chaos abgleiten. Gerade eine Gesellschaft mit verallgemeinertem Warentausch und massenhafter Lohnarbeit (die ja selbst nur eine besondere Form des Warentausches ist) braucht allgemeine Regeln. Das ist der tiefere Grund dafür, dass es den „Rechtsstaat“, dass es die relativ separaten Sphären der Politik, der Juristerei und der Verwaltung gibt und nicht mehr die Rechtsnormen und die autokratischen Herrschaftsformen des Feudalismus.

Würden Privateigentum und Konkurrenz verschwinden, würde also die Verwaltung der Gesellschaft wesentlich einfacher und damit auch unaufwändiger werden können; der Staat könnte tatsächlich absterben. Lt. Engels wäre er dann nur noch zur Verwaltung von Sachen, nicht mehr zur Unterdrückung von Menschen notwendig. Wir können hier ergänzen, dass der Staat auch zur Verwaltung von Sachen weitaus weniger nötig wäre.

Der zweite Irrtum der „Staatsanbeter“ aber liegt darin, dass der Staat auch dann repressiv ist, wenn er „managt“ und dass er „managt“, wenn er repressiv ist. Das staatliche Verwalten ist nämlich immer damit verbunden, dass nicht „die Gesellschaft“ diese Verwaltung durchführt, sondern eine besondere, sozial abgehobene, privilegierte Gruppe von Spezialisten (Beamtentum). Selbst die Kontrolle staatlichen Handelns (ganz abgesehen vom Handeln des Kapitals) ist der Allgemeinheit weitgehend verwehrt.

Im Kapitalismus ist es von wesentlicher Bedeutung, dass die Bevölkerung davon abgebracht wird, sich selbst demokratisch zu organisieren und ihr soziales Leben selbst, d.h. ohne Staat und Kapital, zu bestimmen. Lediglich in Teilbereichen (Politik, Medien, Kultur usw.), die weniger direkt mit dem Herrschaftsapparat und dem Verwertungsmechanismus zu tun haben, wird ein größerer Spielraum gewährt. Das führt dazu, dass die staatliche Bürokratie als jene Spezialistin anerkannt wird, die in der Lage sei, das „Chaos“ zu beherrschen. Repression und Vermittlung von Gruppeninteressen gehen Hand in Hand. Insgesamt gibt es bzw. gab es dabei auch keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Struktur und Funktion des Staates im westlichen Privatkapitalismus und im östlichen Staatskapitalismus, eher war der östliche noch repressiver.

Der bürgerliche Staat erweist sich also durchaus nicht als unverzichtbares Attribut jeder modernen Gesellschaft, sondern nur als unverzichtbares Attribut der (kapitalistischen) Klassengesellschaft.

Staatskapitalismus

Während die Bürokratie im Privatkapitalismus – trotz einer gewissen Eigenständigkeit – letztlich Diener der Bourgeoisie ist, verfügt sie im Staatskapitalismus selbst über die Produktionsmittel. Die Bürokratie avanciert im Staatskapitalismus zur herrschenden Klasse. Das ist der zentrale Unterschied zwischen Etatismus und Staatskapitalismus.

Im Zuge der Entwicklung des Kapitalismus werden dessen gesellschaftlichen Strukturen nicht nur immer komplexer, sondern auch immer konfliktreicher. Allein schon das Anwachsen der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung sorgt dafür. Die Folge davon sind einerseits eine erhebliche Ausdehnung staatlicher Bereiche (sowohl des „eigentlichen“ Staatsapparats wie auch privater Bereiche mit staatlichen Funktionen), die sich dem sozialen „Management“ widmen, und andererseits eine Zunahme der Bedeutung des Staates in Bezug auf die Wirtschaft. Staatliche Maßnahmen, Regulationen, Investitionen usw. – der Etatismus – werden immer unverzichtbarer und bedeutsamer.

Im Staatskapitalismus steigert sich diese Einflussnahme zum Extrem, indem „der Staat“, genauer: die Bürokratie, de facto die Produktionsmittel selbst verwaltet. Allerdings verfügt sie über kein Eigentumsrecht bzw. nur indirekt, indem die Ökonomie formell staatlich ist, jedoch konkret von der Bürokratie geführt wird. Im Grunde hat die Staatswirtschaft eine Art Aufsichtsrat, bestehend aus dem Kollektiv der Bürokratie. Das Problem des Staatskapitalismus – und der Grund seines Scheiterns – besteht darin, dass er das Agens des Kapitalismus, das Privateigentum und die daraus erwachsende Konkurrenz, ausgeschaltet hat, sie jedoch nicht durch eine andere Triebkraft, das sich schöpferisch entfaltende Proletariat, ersetzt hat. So versank der Ostblock in Stagnation und wies immer weniger Dynamik auf.

Die tendenzielle Verstaatlichung des Kapitalismus (die auch durch neoliberale Maßnahmen nicht aufgebrochen wird) äußert sich auch darin, dass immer größere Bereiche der Gesellschaft existieren, die für die kapitalistische Produktionsweise notwendig sind (Wissenschaft, Bildung, Verwaltung usw.), aber oft nicht direkt vom Kapital betrieben werden können oder wollen (Wissenschaft, Bildung, Verwaltung, Sozialfürsorge usw.). Manche Bereiche sind staatlich, andere wieder sind privat, haben aber eine quasi „staatliche“ Aufgabe, viele stellen ein Amalgam aus staatlicher und privater Einflussnahme dar. Man vergleiche den Kapitalismus zu Marx´ oder Lenins Zeiten mit der heutigen und man sieht diese etatistischen „Verstaatlichungstendenzen“ überall. Nicht zu vergessen ist dabei, dass die staatlichen bzw. „halbstaatlichen“ Sektoren auch zu ganz neuen Marktplätzen für das Kapital wurden, z.B. das Gesundheitswesen für das Pharma- und Medizinkapital.

Bedeutung der Mittelschicht

Hinsichtlich der Klassenstruktur geht damit einher, dass die lohnabhängige Mittelschicht massiv anwächst. Diese Schicht zeichnet sich dadurch aus, dass sie einerseits nicht über Produktionsmittel verfügt – weder über kleine wie das Kleinbürgertum, geschweige denn über große. Deshalb ist sie wesentlich lohnabhängig. Andererseits nimmt sie aber eine besondere Stellung als „Managerin“ im bürgerlichen Organisations- und Herrschaftssystem ein. So sind z.B. Lehrer, Journalisten oder Wissenschaftler nicht nur mit speziellen „Fachbereichen“ befasst, sie vermitteln auch wesentlich bürgerliche Ideologie. Eine solche Rolle hat weder die lohnabhängige Arbeiterschaft noch das Kleinbürgertum inne. Eine ähnliche Veränderung der Klassenstruktur innerhalb der Arbeiterklasse war die Entstehung der Arbeiteraristokratie und der Arbeiterbürokratie (wobei letztere nicht mehr zum Proletariat gehört).

Die lohnabhängige Mittelschicht erfüllt im heutigen Kapitalismus eine Scharnierfunktion zwischen Bourgeoisie und Proletariat dar und nimmt eine zentrale Stellung im sozialen Machtgefüge ein.

Die Notwendigkeit, das Chaos der Marktwirtschaft und die Konflikte zwischen den und innerhalb der Klassen zu regulieren, erzeugte nicht nur immer mehr Etatismus, sondern auch einen relativ selbstständigen Bereich der Politik und des Parlamentarismus. Letzterer erweist sich als die „normale“ Herrschaftsform im Kapitalismus, die meist nur in besonderen Krisen (Krieg, Klassenkampf, politisches Patt) beendet und durch diktatorische oder faschistische Maßnahmen oder Regime „ergänzt“ oder abgelöst wird. Doch auch die „normale“ bürgerliche Demokratie weist viele undemokratische Elemente auf und ist schon deshalb eher eine Scheindemokratie, weil sie kaum einen Zugriff auf die zentralen Bereiche bürgerlicher Herrschaft (Privateigentum, Staatsapparat usw.) ermöglicht und lediglich das Spitzenpersonal wechselt.

Die Widersprüchlichkeit und Komplexität der spätbürgerlichen Gesellschaft erfordert permanentes politisch-staatliches Eingreifen. Politik und Staat sind insofern unverzichtbare Instrumente dieser Gesellschaft. Myriaden von Gesetzen, Verordnungen, Durchführungsbestimmungen und Normen sind Ergebnis wie Voraussetzung dieses Managements. Ganz anders als Lenin meinte, ist das Parlament keine „Schwatzbude“, sondern dort – und in den das Parlament umgebenden Gremien – werden Gesetze diskutiert und beschlossen. Die brüske Einschätzung Lenins mag für das damalige russische Parlament, die Duma, zugetroffen haben, ansonsten ist sie – selbst für den damaligen Kapitalismus und umso mehr heute – falsch. Daran ändern auch die allgegenwärtige Korruption, die Hinterzimmer-Treffen und die offenkundigen Fälle, in denen das Parlament hinter- und übergangen wird, wenig. Im Gegenteil: der heutige Parlamentarismus und der „Rechtsstaat“ mit ihrem Dickicht an verschiedenen Strukturen und Mechanismen auf allen Ebenen ist heute noch weit umfangreicher und bedeutsamer als früher. Mit der Ausweitung dieser „Management-Strukturen“ geht auch ein Prozess ihrer relativen Verselbstständigung einher. Der Vorteil des Staatskapitalismus ist ja, dass die politische Zentrale (das Politbüro) weitgehend „durchregieren“ kann, wie es heute in China gut beobachtet werden kann.

Medien, Bildung, Wissenschaft

Eine große und gegenüber früher weitaus wichtigere Rolle spielen im modernen Kapitalismus die Medien. Davon abgesehen, dass sie selbst ein Wirtschaftszweig sind, haben sie einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Gesellschaft – und zwar auf alle Klassen und Schichten. Dieser Einfluss besteht nicht nur darin, dass die Menschen heute jeden Tag mehrere Stunden von den verschiedenen Medien beeinflusst werden, wogegen das vor 100 oder 150 Jahren nur in einem Bruchteil der Zeit der Fall war. Zudem waren die Medien – v.a. Zeitungen und Bücher – und auch Kultur, höhere Bildung und Wissenschaft früher eher oder fast nur den höheren Schichten zugänglich, während sie heute weitaus mehr der Allgemeinheit zur Verfügung stehen. Das Internet, das inzwischen zum Hauptmedium geworden ist, hat noch den letzten Hauch von elitärer Exklusivität verloren.

Auch Bildung und Wissenschaft haben sich seit Bestehen des Kapitalismus enorm vergrößert. Diese Erweiterung erfolgte nicht nur insofern, als viel mehr Menschen in diesen Bereichen tätig sind, sondern auch insofern, als viel mehr Menschen (im Bildungsbereich im Grunde alle) von diesen Bereichen geprägt werden. Gingen vor hundert Jahren Kinder 6-8 Jahre zur Schule und nur eine sehr kleine Minderheit studierte, so erfolgt heute der Schulbesuch 10 Jahre und ca. 40% der Schüler gehen ans Gymnasium, wovon die Mehrzahl später auch studiert. Gegenwärtig studieren in Deutschland ca. 3 Millionen, noch vor 10 Jahren waren es nur 2 Millionen – eine Zunahme von 50%! Dieser Trend ist auch international zu beobachten.

2015/16 waren an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland ca. 750.000 LehrerInnen in Voll- oder Teilzeit beschäftigt. Zusammen mit LehrerInnen an anderen Schulen (z.B. Berufsschulen) sind damit 2-3% aller Beschäftigten in diesem Bereich tätig. Diese „kleine“ Schicht beeinflusst aber 100% der Bevölkerung, da jeder Mensch die Schule besucht. Neben vielen „sachlich-neutralen“ Inhalten (Lesen, Schreiben, Rechnen usw.) vermittelt die Schule aber sowohl ideologisch wie strukturell auch bürgerliche Werte und konditioniert die SchülerInnen gewissermaßen für den Kapitalismus. Das trifft umso mehr auf die „höhere“ gymnasiale, berufliche und universitäre Bildung zu.

Die Ausweitung von Bildung und Wissenschaft hat das Wissensniveau der Gesellschaft ohne Frage gewaltig erhöht, doch zugleich ist damit auch deren Ideologisierung gestiegen. Es ist auch zu bedenken, dass früher das reale Erleben und das direkte soziale Umfeld für die Konstituierung von Bewusstsein bedeutsamer war als heute, wo ein großer Teil unseres Wissens und unserer Erfahrungen indirekt zu uns kommen, per Bildung und Medien.
Die Konstituierung von Klassenbewusstsein ist also stärker als früher von „ideologischen Strukturen“ geprägt. Für das Proletariat im 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren die industrielle Arbeitswelt und das „proletarische Milieu“ prägend. Auch heute ist dieser Faktor immer noch bedeutsam, ja vielleicht zentral, doch andere Faktoren wie Bildung, Wissenschaft, Kultur usw. sind weit wichtiger als früher. Wenn wir also das Klassenbewusstsein im revolutionär-kommunistischen Sinn beeinflussen wollen, so kommen wir nicht umhin, diesen Faktoren mehr Aufmerksamkeit zu widmen und dem bürgerlichen Bewusstsein etwas entgegenzusetzen. Damit ist auch die Aufgabe verbunden, sich stärker der (lohnabhängigen) Mittelschicht zu widmen.
Die großen Veränderungen bei den Faktoren, die das (Klassen)bewusstsein beeinflussen, werden vom „Marxismus“ und der Linken aber zu wenig zur Kenntnis genommen, ganz zu schweigen davon, dass konkrete Folgerungen für die Programmatik erfolgen würden.

Kapitale Macht

Wenn wir uns die Frage stellen, wer oder was die heutige kapitalistische Gesellschaft bestimmt, so wollen wir hier zunächst zwischen der ökonomischen Basis und dem Überbau (Staat, Ideologie, Politik, Justiz) unterscheiden.

Gemäß der Methode der materialistischen Weltbetrachtung bestimmt – trotz aller Wechselwirkungen – die Basis den Überbau. Engels meinte dazu etwa algebraisch, dass sich diese „in letzter Instanz“ durchsetzen würde. Die Ökonomie des Kapitalismus wird wesentlich vom Privateigentum an den Produktionsmitteln, von der Konkurrenz und der Erzeugung von Profit geprägt und – da dieser nur durch menschliche Arbeit hervorgebracht werden kann – von der Ausbeutung von Lohnarbeit. Natürlich gibt es dabei einen großen Spielraum von Varianten, die durch verschiedene Bedingungen (darunter den Klassenkampf) beeinflusst werden. So kann etwa der Staatskapitalismus sogar das Privateigentum und die Konkurrenz stark beschränken, er hebt jedoch die Lohnarbeit und die Enteignung, die Ausbeutung und Unterdrückung der ProduzentInnen nicht auf.

Klassenkampf ist immer auch ideologischer Kampf. Wir sollten uns an die Anfänge des Marxismus erinnern, als dieser noch fast nur als Theorie, als Propaganda auftrat und erst später zur realen sozialen Kraft wurde: seine ersten Siege waren Siege der Gedanken. Dem heutigen „Marxismus“ fehlt diese gedankliche Sprengkraft weitgehend, er ist zu einem Dogma erstarrt und vielen realen Anforderungen der heutigen Gesellschaft und des Klassenkampfes nicht gewachsen, obwohl er – und nur er – das Potential dazu hätte. Doch dieses Potential muss erst wieder von seinen vielen historischen Verkrustungen befreit werden!

Lenin sprach davon, dass Politik „konzentrierte Ökonomie“ sei. Sicher ist diese Formulierung – wörtlich genommen – übertrieben, doch sie verweist zu recht auf den Zusammenhang zwischen ökonomischer Basis und Überbau. Allerdings sagt das noch nichts darüber aus, wie der Überbau funktioniert. Die Beziehung zwischen Ökonomie und Überbau manifestiert sich am deutlichsten im Staatsapparat, v.a. in der Regierung als dem geschäftsführenden Ausschuss des Kapitals. Doch sind Staat und Regierung nicht einfach Erfüllungsgehilfen oder verlängerte Arme der Bourgeoisie. Entgegen solchen, tw. auch in der Linken verbreiteten Auffassungen, haben wir es vielmehr mit einem System von Wechselwirkungen zwischen Kapital, Politik, Staat, Medien und Wissenschaft bzw. deren verschiedenen Fraktionen zu tun.

Diese Strukturen, ihre Interaktionen und Widersprüche bilden ein „Machtkonglomerat“, das die Geschicke der Gesellschaft bestimmt. Dieses Konglomerat umfasst mehr als nur den „Staat an sich“.

Auf diese Macht-Struktur wirken alle Klassen, aber auch deren verschiedene Fraktionen ein. Sicher ist der Staat v.a. Interessenvertreter des Kapitals, sicher handelt er als „ideeller Gesamtkapitalist“, doch konkret zeigt sich immer wieder – und zunehmend – auch, dass es bestimmte Kapitalgruppen sind, welche das staatliche Handeln bestimmen. Dazu bedienen sie sich heute weit stärker als früher der Medien, bestimmter Parteien, politischer Bewegungen und Teilen „der Wissenschaft“, welche die gewünschten Argumente und „Expertisen“ liefern, die einer bestimmten Ideologie entsprechen.

Medien, Wissenschaft, Politik und Verwaltung spielen heute eine wichtigere und relativ eigenständigere Rolle als früher. Ihr Einfluss (und der Einfluss der Mittelschichten) auf die Beziehung Wirtschaft (Kapital) – Staat ist weitaus größer als früher.

Immer wieder können wir beobachten, dass es Änderungen in der Gesellschaft, in Politik und Ökonomie gibt, die durchaus nicht im Interesse „des Kapitals“ liegen, sondern nur im Interesse einiger ihrer Sektoren. Die Energiewende (EW) ist ein Beispiel dafür. Es ist völlig klar, das die EW nicht durchführbar wäre, wenn sie sich nicht auf die These von der drohenden Klimakatastrophe stützen könnte. Diese wiederum wurde aber nicht vom Kapital „erfunden“, sondern von einer „Allianz“ von Wissenschaftlern (ursprünglich einer kleinen Minderheit der Klimaforschung), der „grünen“ Bewegung, Teilen des Staatsapparates („Öko“-Steuern) und der Ökoindustrie „installiert“. Das erfolgte wesentlich über die UNO und das IPCC (Weltklimarat).

Ähnlich ist es bei Corona. Es ist völlig klar, dass die Gefährlichkeit von Corona durch Politik, Medien und einige „Experten“ absurd übertrieben wird und durch die Lockdowns mehr Schaden als Nutzen entsteht (davon abgesehen, dass die Art und Weise der Lockdowns oft mehr an absurdes Theater erinnert, als an seriöses Krisenmanagement). Durch Massentests werden die „Fallzahlen“ nach oben getrieben, Gesunde zu Kranken erklärt und „normale“ Kranke oder Tote zu Corona-Opfern deklariert. Würde es eine ernsthafte Bedrohung der Gesellschaft – nicht nur bestimmter Gruppen – geben, müsste die Gesamtsterbezahl deutlich ansteigen; das ist aber insgesamt nicht der Fall.

Wenn wir das Auf und Ab, das Hin und Her, wenn wir die Konflikte und die Dynamik des heutigen Kapitalismus verstehen und eine revolutionäre Alternative dazu schaffen wollen, müssen wir das Funktionieren dieses „Machtkonglomerats“ begreifen. Das komplizierte Wechselspiel zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen, der Politik, den Medien, der Wissenschaft und dem Staatsapparat muss konkret analysiert werden. Nur so kann man die heutige Realität, kann man Ideologien, wirtschaftliche und staatliche Entscheidungen verstehen und eine Alternative aufzeigen. Die Linke ist leider weit davon entfernt. Es ist geradezu peinlich, wie sie auf jede mediale Kampagne hereinfällt und den „links-grünen“ Mittelschichtsbewegungen hinterher läuft.

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