Hanns Graaf
Die Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 besiegelte das Ende der Nazi-Diktatur. Der größte Krieg der Weltgeschichte war beendet (in Asien dauerte er noch bis August 1945). Er forderte über 50 Mill. Tote, darunter über 20 Mill. Sowjetbürger und 6 Mill. Juden. Ganze Regionen und Länder, v.a. Polen, die westliche Sowjetunion, Deutschland und Japan, waren verwüstet.
Angesichts der Opfer und Zerstörungen, angesichts der ungeheuren Dimensionen der Inhumanität v.a. des deutschen Faschismus ist es nur allzu verständlich, wenn der 8. Mai als Tag der Befreiung gefeiert wird. Doch die Geschichte wird bekanntlich von den Siegern geschrieben, die ihre eigene Rolle in der Geschichte verklären, ja oft genug umlügen.
In diesem Beitrag gehen wir v.a. auf die Rolle des Stalinismus vor, während und nach dem 2. Weltkrieg ein.
Sieger Stalin
Der Sieg über Hitler-Deutschland hat das Prestige Stalins und der UdSSR gewaltig gesteigert. Das Selbstbild des Führers aus Moskau als Heilsbringer der Welt und „guter Vater der Menschheit“ und die Überlegenheit seines „Sozialismus“ schienen endlich historisch bewiesen zu sein. Viele Länder in Ost- und Mitteleuropa, aber auch in Asien (China, Nordkorea) wurden „sozialistisch“. In den 1950er/60er Jahren schüttelten viele „links-nationalistische“, oft an Moskau orientierte Bewegungen ihr koloniales Joch ab und wurden selbstständig. In Europa und in Asien gab es mehrere Länder, wo zwischen 1944 und 1948 eine (vor)revolutionäre Situation entstanden und der Sturz des Kapitalismus möglich war: z.B. in Italien, Griechenland oder in Vietnam.
Heute, 80 Jahre später, fällt die Bilanz des siegreichen Stalinismus trotzdem verheerend aus: der „Ostblock“ (mit den Ausnahmen China, Nordkorea und Kuba) ist kollabiert, der politische Stalinismus siecht vor sich hin, hat sich der Sozialdemokratie angepasst oder dümpelt als Sektiererklub dahin. Stalins Sieg über die stärkste imperialistische Macht Europas und die Schaffung des Ostblocks haben sich nicht als Schritte zu einer sozialistischen Welt erwiesen, sondern als historische Sackgasse. Der Imperialismus hat über den stalinschen „Sozialismus“, der in Wahrheit Staatskapitalismus war, triumphiert. Die revolutionäre Linke ist – über 100 Jahre nach ihrer Entstehung – kein starker Faktor mehr, sondern nur noch ein Trümmerhaufen.
Angesichts dieser ernüchternden Bilanz müssen wir uns fragen, wie es dazu kommen konnte? Gab es grundsätzliche Fehler in Stalins Politik? Waren der Aufstieg Hitlers, waren seine anfänglichen Siege, war der Weltkrieg (in Europa) unvermeidbar?
Das deutsche Fiasko 1933
Die Machtergreifung Hitlers 1933 war v.a. deshalb möglich, weil sich die Führungen von SPD, KPD und Gewerkschaften als unfähig erwiesen, die antifaschistische Einheitsfront zu schaffen. Die KPD blockierte das z.B. dadurch, dass sie die unsinnigen Thesen von der SPD als „Sozialfaschismus“ und „nach Hitler kommen wir“ verbreitete. Demgegenüber vertraten v.a. Trotzki, tw. aber auch die KPD(O) und die SAP bessere Positionen, die aber von der KPD ignoriert wurden. Selbst nach 1933 weigerte sich die Komintern, ihr Versagen aufzuarbeiten. War deren Politik bis 1933 zwar untauglich, aber zentristisch (zwischen revolutionären und reformistischen Positionen schwankend) und hielt abstrakt noch am Ziel des Sturzes des Kapitalismus fest, so ging sie danach zur „Volksfrontpolitik“ über, der jede revolutionäre Qualität abging.
Volksfrontpolitik in den 1930ern
Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 ging die kurze Stabilisierungsphase des Kapitalismus zu Ende. In Frankreich und Spanien kamen sog. Volksfronten an die Macht: strategische Regierungsbündnisse zwischen bürgerlichen und Arbeiterparteien. Moskau drängte die KPen dazu, diese Volksfronten zu unterstützen (Frankreich) bzw. in diese einzutreten (Spanien). In diesen (vor)revolutionären Situationen wäre es dem Proletariat möglich gewesen, die Macht zu ergreifen und den Kapitalismus zu stürzen.
In Spanien spitzte sich die Lage besonders zu: die Generalität um Franco putschte gegen die Volksfrontregierung und entfesselte einen Bürgerkrieg. Dieser hätte von der Volksfront gewonnen werden können, wenn sie eine Politik verfolgt hätte wie 1917 die Bolschewiki in Russland. Diese hatten die bürgerliche Kerenski-Regierung gestürzt, während die spanische KP die bürgerliche Regierung unterstützte. Die Volksfront trat weder für die Unabhängigkeit der spanischen Kolonie Marokko ein, noch entwaffnete sie die Generalität vor dem Putsch. Sie blockierte die Landreform und bremste die Umstellung der Wirtschaft auf den Krieg. So blieben die Bauern passiv, anstatt sich gegen Franco zu stellen. Die Marokkaner bildeten sogar den Kern der Franco-Truppen. Die stärkste Kraft auf Seiten der Republik waren die Anarchisten, die 2 Mill. Mitglieder zählten (bei ca. 21 Mill. Einwohnern). Doch auch sie tolerierten die Volksfront, anstatt sie zu stürzen und eine revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung zu bilden. Doch der Hauptfaktor der Volksfront war die KP, die mittels Terror gegen Linke und gegen Selbstverwaltungsprojekte vorging. Auch die militärische Hilfe Stalins (die er sich mit den enormen Goldreserven Spaniens gut bezahlen ließ) war relativ gering.
Hintergrund der Politik Stalins war die Absicht, eine „Sicherheitspartnerschaft“ mit dem britischen und französischen Imperialismus zu erreichen. Dafür verzichteten die Moskau treuen KPen darauf, den Kapitalismus zu stürzen, um ihre bürgerlichen „Partner“ nicht zu verschrecken.
Hätte die Spanische Revolution gesiegt – wofür es objektiv bessere Bedingungen gab als in Russland 1917 -, hätten die Flammen der Revolution mindestens auch Frankreich in Brand gesetzt. Einen Arbeiterstaat Frankreich aber hätte Hitler 1940 nicht so einfach überwinden können – damit wäre auch der 2. Weltkrieg in Europa so nicht möglich gewesen. Er wird meist als Krieg zwischen Staaten verstanden, aber er war auch ein Klassenkrieg und nur deshalb möglich, weil die Arbeiterklasse den Imperialismus nicht gestürzt hat bzw. ihn nicht konsequent bekämpft hat. Nur deshalb war der Faschismus in der Lage, die Welt ins Chaos zu stürzen. Nicht Abrüstung und Diplomatie konnten den Krieg verhindern, sondern nur die proletarische Revolution. Gerade die aber wurde durch die Politik der sozialdemokratischen und stalinistischen Führungen verhindert.
Der Hitler-Stalin-Pakt
Ende August 1939, wenige Tage vor dem Überfall der Wehrmacht auf Polen, schlossen die UdSSR und Nazideutschland ein Geheimabkommen. Dieses sah die Aufteilung Polens und Osteuropas zwischen ihnen vor. Ergänzt wurde der Vertrag sogar noch durch einen offiziellen „Freundschaftsvertrag“. Erst die Zusicherung Stalins ermöglichte es Hitler, Polen zu überfallen, ohne einen Zweifrontenkrieg gegen Polen (und seine Westalliierten) und die Sowjetunion zu riskieren, den Deutschland 1939 nie hätte gewinnen können. Selbst ohne das Eingreifen des Westens hätte die Wehrmacht gegen Polen und die UdSSR verloren. Vielleicht wäre der Krieg dann schon 1940 beendet gewesen … Unabhängig vom militärischen Aspekt stürzte der Hitler-Stalin-Pakt die „kommunistische“ Bewegung in eine tiefe Krise.
Zwar hatte die UdSSR ihre strategische Situation durch die Annektion Ostpolens, des Baltikums und der Bukowina verbessert, doch der Preis dafür war der Hass der Bevölkerungen dieser Länder auf Russland wegen der von Stalin befohlenen Säuberungen und Unterdrückungsmaßnahmen. In den neuen Sowjetrepubliken wurde auch keineswegs der Sozialismus eingeführt, sondern ein staatskapitalistisches, terroristisch-undemokratisches Regime nach Moskauer Vorbild.
Das Jahr 1941
Deutschland und seine Verbündeten hatten zur Eroberung der UdSSR über 3,5 Mill. Mann zusammengezogen. Dieser gewaltige Aufmarsch konnte nicht geheim gehalten werden. Es gab es zahlreiche, tw. sehr genaue Warnungen vor dem bevorstehenden Überfall, u.a. von Dr. Richard Sorge. Trotzdem war die UdSSR vom Angriff am 22. Juni 1941 völlig überrascht. Warum?
Stalin wusste, dass Deutschland irgendwann angreifen würde, aber er wollte Hitler keinen Vorwand liefern und Zeit für die Stärkung der Roten Armee gewinnen. „Gerüchten“ über die aggressiven Absichten Deutschland trat er scharf entgegen. Das allein war schon schädlich genug und unterminierte die Verteidigung. Stalins Haltung entsprang dem Wunsch nach einem strategischen Kompromiss mit dem Imperialismus – doch schon Frankreich und England hatten ihm die kalte Schulter gezeigt, Hitler zeigte ihm die Faust.
Monatelang konnte die UdSSR sich in jeder Hinsicht auf die Verteidigung vorbereiten. Zwar fuhr man die Rüstungsindustrie hoch – doch das war alles. Als die Wehrmacht angriff, waren viele Truppenteile der Roten Armee im Manöver, verfügten tw. über keine Munition und keinen Treibstoff, die Flugplätze waren oft ungeschützt und der deutschen Aufklärung bestens bekannt. Auch von einem Überraschungseffekt der Wehrmacht kann keine Rede sein. Der Hauptschlag konnte nur zwischen der Ostsee (Königsberg) und den Pripjatsümpfen (Brest), also auf einer Frontbreite von 5-600 Km, erfolgen. Nur von dort aus konnte das Hauptziel Moskau in einem schnellen Vorstoß erobert werden, bevor Russland seine Ressourcen hätte mobilisieren können.
Die von Stalin geschwächte Verteidigungsbereitschaft der Streitkräfte hatte zur Folge, dass die Soldaten der Roten Armee tw. im Schlaf überrascht wurden. Schon in den ersten zwei Wochen gingen tausende Panzer, Flugzeuge und Geschütze verloren – oft durch Mangel an Benzin oder Munition. Eine organisierte Abwehr kam kaum zustande, nur im Süden, wo man sich trotz der Anweisungen von oben auf eine Invasion besser eingestellt hatte, war die Lage anfangs besser. Obwohl die eigene Verteidigung im Chaos versank, gab Stalin den irrwitzigen Befehl, anzugreifen, was das Desaster noch verstärkte. In großen Kesselschlachten gerieten viele Hunderttausende Rotarmisten in Gefangenschaft.
Eine besser vorbereitete Rote Armee wäre der Wehrmacht nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen gewesen. Sie verfügte über ein Mehrfaches an Panzern und Flugzeugen, die z.T. sogar moderner waren, und sie besaß eine qualitativ bessere Artillerie, hätte Verteidigungsanlagen lange vorbereiten können, hatte die bessere Geländekenntnis und größere Reserven. Der Vorteil der Wehrmacht bestand in ihrer Kriegserfahrung, besserer Nachrichtentechnik und überlegenen taktisch-operativen Grundsätzen. Stalin hatte in den 1930ern fast die gesamte höhere militärische Führung eliminiert. Die übrig gebliebenen, oft unerfahrenen Kommandeure hatten panische Angst vor Bestrafung und waren in ihren taktischen Entscheidungen, anders als die Offiziere der Wehrmacht, sehr eingeschränkt. Auch daraus erklären sich die unerhörten Verluste der Roten Armee von 1941/42 durch Kesselschlachten, aber auch durch oft unsinnige und verlustreiche Frontalangriffe.
Blitzkrieg?
Es war klar, dass die Wehrmacht nur siegen konnte, wenn der Vormarsch schnell erfolgt, dabei sehr große Kontingente des Gegners vernichtet werden und verhindert wird, dass die UdSSR ihre riesigen materiellen und personellen Reserven mobilisieren kann. Dazu waren Deutschland bzw. die Achsenmächte aber zu schwach. Deutschland führte einen Mehrfrontenkrieg und war bei allen Ressourcen seinen Gegnern unterlegen, v.a. nach dem Eintritt der USA in den Krieg. Dieser grundlegende Widerspruch zwischen den begrenzten Möglichkeiten und den globalen Ambitionen Deutschlands zeigte sich auch an der Ostfront. Ein schneller Vorstoß und die Vernichtung des Gros der Roten Armee hätte eine klare quantitative militärische Überlegenheit erfordert, die es aber nicht gab – im Gegenteil. Vier Panzergruppen waren zu wenig, um den drei Heeresgruppen zwischen Ostsee und Schwarzem Meer parallel große Kesselschlachten zu ermöglichen. Das gelang nur der Heeresgruppe Mitte. Für die Einkesselung der Roten Armee bei Kiew musste eine Panzergruppe der Heeresgruppe Mitte zur Unterstützung nach Süden abdrehen, wodurch der Angriff auf Moskau einen Monat lang pausierte und Stalin Zeit verschaffte. Zur finalen Attacke auf Moskau im Herbst musste die Heeresgruppe Nord ihre Panzergruppe abgeben, was die Einnahme Leningrads unmöglich machte.
Der oft hartnäckige Widerstand der Soldaten der Roten Armee (und zunehmend auch der Partisanen), aber auch die unerhörte Weite der Kampfarena führten zu hohen Verlusten und Verzögerungen des deutschen Vormarsches. Etwa die Hälfte der Panzer fiel nicht durch Kampfhandlungen, sondern durch Motor- und Getriebeverschleiß aus. Wäre die Rote Armee besser vorbereitet gewesen, hätte der deutsche Vormarsch schon viel eher gestoppt werden können. So kam Hitler bis kurz vor Moskau und nur die Verlegung größerer Kontingente der Roten Armee aus dem Fernen Osten, weil Japan inaktiv blieb, rettete Stalin. Eine Rolle spielte auch, dass die Deutschen, die von vielen Sowjetbürgern, die unter dem Terror Stalins litten, anfangs als Befreier begrüßt worden waren, sich schon bald als noch brutalere Unterdrücker erwiesen. Hätte Hitler den eroberten Sowjetrepubliken im Baltikum, in der Ukraine usw. eine gewisse „Souveränität“ als Satellitenstaaten gewährt, hätten sich dort relevante einheimische Kräfte am Kampf gegen Stalin beteiligt. So blieb diese Unterstützung marginal.
Ende 1941 hing das Schicksal der UdSSR an einem seidenen Faden. Die Ursachen für die Niederlage der Wehrmacht im Winter 41 vor Moskau sind vielfältig: der (durch die Invasion auf dem Balkan) verschobene Angriffstermin, wodurch sich der Feldzug in die Schlamm- und Frostperiode ausdehnte, die schlechte logistische Vorbereitung auf das Klima, die Abnutzung der eigenen Kräfte, der Mehrfrontenkrieg usw. usw. Schon Ende 1941 war Hitlers Feldzug strategisch verloren.
Ganz anders als Hitler annahm, erwies sich die UdSSR auch nicht als „Koloss auf tönernen Füßen“, sondern als ein straff bürokratisch geführter Staat ohne Opposition. Letztere war durch Stalins Terror ausgeschaltet worden. Die Evakuierung großer Teile der Industrie in den Osten und die schonungslose Konzentration aller Kräfte auf die Landesverteidigung belegen, dass für diese Zwecke (!) das zentralistisch-staatskapitalistische System gut geeignet war – es war stark genug, die selbstverschuldete militärische Misere letztlich zu meistern.
Zugleich zeigte sich aber, wie wenig wert die absurden Rüstungsaufwendungen schon ab Ende der 1920er waren, die die Rote Armee zur damals stärksten der Welt gemacht hatten, wenn sie mit einer ansonsten falschen, oft irrationalen Politik verbunden sind, die alle Verteidigungsanstrengungen wieder zunichte macht. Insofern muss man klar sagen, dass die UdSSR den Krieg nicht wegen, sondern trotz Stalin gewonnen hat.
Der Preis für die Strategie des „genialen Führers“ konnte höher nicht sein: der Krieg dauerte mindestens zwei Jahre länger als es angesichts des Kräfteverhältnisses angezeigt war, über 20 Mill. Sowjetbürger kamen um: durch den Terror der Nazis, der aber in diesem Umfang nur möglich war durch die Besetzung großer Gebiete, durch schlechte Truppenführung, aber auch dadurch, dass die Zivilbevölkerung oft zu spät oder gar nicht evakuiert wurde, wie z.B. in Leningrad, was tw. die unerhört hohe Opferzahl von 800.000 Leningradern während der Belagerung erklärt.
Stalins Nachkriegspolitik
Schon 1943 stand fest, dass Deutschland den Krieg verlieren wird. Trotzdem löste Stalin in diesem Jahr die Kommunistische Internationale (Komintern) auf. Zur Erinnerung: 1919 war sie gegründet worden, um in den revolutionären Situationen der Nachkriegszeit eine internationale Führung zu haben. Es war klar, dass auch die Niederlage Deutschlands revolutionäre Krisen hervorrufen würde, was 1944-48 vielerorts auch der Fall war. Die Auflösung der Komintern zeigte, das Stalins Politik nicht auf die Überwindung des Kapitalismus zielte, sondern auf die imperiale Ausweitung der UdSSR und auf einen strategischen Kompromiss mit dem Imperialismus, der „Antihitlerkoalition“. Die imperialistische Politik Stalins war auch mit der Vertreibung und gewaltsamen Umsiedlung von Millionen aus den bzw. in die ehemaligen deutschen Ostgebiete verbunden – eine brutale rassistische „Neuordnung“.
Stalin wollte in Osteuropa und mit der ostdeutschen Besatzungszone (SBZ) eine Pufferzone zum Westen schaffen. Deutschland als ganzes (!) sollte neutral, entmilitarisiert und deindustrialisiert werden (ähnlich ausgerichtet war auch der amerikanische Morgenthau-Plan). Daher die Deindustrialisierung der SBZ. Eine auf den Sozialismus zielende soziale Umwandlung sah Stalin nicht vor. Doch das sich schnell verschlechternde Verhältnis zwischen West und Ost entzweite die Koalition der Sieger: Privatkapitalismus und Staatskapitalismus waren nicht versöhnbar. Die Aussicht auf Teilhabe am US-amerikanischen Marshallplan und die Reorganisation der bürgerlichen Kräfte in den osteuropäischen Ländern konfrontierten Stalin mit der drohenden Perspektive des Machtverlustes. Er bzw. die „Bruderparteien“ reagierten, indem sie die bis dahin sehr begrenzte Enteignung der Bourgeoisie forcierten und die gesamte Staatsmacht an sich rissen. Die Währungsreform von 1948 und die Gründung von BRD und DDR waren Ausdruck dieser Entwicklung und des beginnenden Kalten Krieges.
In mehreren Ländern hatte der Rückzug der Wehrmacht zu Situationen geführt, wo der Kapitalismus überwunden werden konnte: die KPen hatten großen Einfluss, die Partisanen waren bewaffnet und kontrollierten große Gebiete. Doch die Politik Moskaus zielte nicht auf die Revolution, sondern auf einen Staus quo mit der Bourgeoisie und den Westalliierten. In Griechenland beherrschten die KP-geführten Partisanen 1944/45 90% des Landes, doch auf Stalins Weisung verhandelten sie mit dem britischen Imperialismus, anstatt die gesamte Macht zu übernehmen. Das Ergebnis war die blutige Niederschlagung der Partisanen – denn Griechenland gehörte zum Einflussbereich des Westalliierten Britannien. In Italien und Frankreich traten die KPen in die bürgerlichen Nachkriegsregierungen ein. Als sie ihre Schuldigkeit bei der Stabilisierung des Kapitalismus getan hatten, wurden sie beiseite geschoben. Nur in Jugoslawien war Tito konsequent, übernahm die Macht und begann mit der antikapitalistischen Umwandlung des Landes. Doch wegen ihrer von Stalins Modell abweichenden Vorstellungen (Selbstverwaltung) verhängte Stalin den Bann über Tito, isolierte Jugoslawien und trieb Jugoslawien geradezu in die Abhängigkeit vom Westen.
Bilanz
Im Ergebnis des 2. Weltkriegs konnte Stalin zwar seinen Machtbereich und sein Ansehen stark vergrößern, doch das darf nicht mit einer Stärkung des Sozialismus oder der revolutionären Arbeiterbewegung verwechselt werden. Im Gegenteil: überall, wo das Proletariat versucht hatte, sich demokratisch, d.h. ohne und gegen die Bürokratie, zu organisieren und die Produktionsmittel in die eigene Hand zu nehmen, wurde das von Stalins Apparaten bekämpft. So wurde z.B. in der SBZ bzw. in der DDR ein erheblicher Teil der Wirtschaft entweder demontiert oder direkt in Eigentum der UdSSR (Sowjetische Aktiengesellschaften, SAGs) überführt. Die durchaus berechtigten Reparationen hätte man auch (und besser) als Entnahmen aus der laufenden Produktion leisten können, anstatt Demontagen vorzunehmen. In der CSSR hatten die Arbeiter große Teile der Industrie in Selbstverwaltung übernommen – sie wurden per Verstaatlichung von oben enteignet.
Mit Bajonetten, mit Lüge und Gewalt war es Stalin und seinen nationalen KPen zwar gelungen, nach der Niederlage der Nazis die eigene Macht zu etablieren und mit dem Warschauer Pakt und dem RGW den eigenen Block in der bipolaren Nachkriegswelt zu stärken. Doch es gelang nicht – und war auch gar nicht beabsichtigt -, eine Entwicklung einzuschlagen, die zum Kommunismus führt. 1989/90 schließlich brach der ineffiziente und undemokratische Staatskapitalismus zusammen und mutierte wieder zum Privatkapitalismus (mit den Ausnahmen Nordkorea und Kuba und tw. Russland und China). Die Bilanz des Stalinismus? Ein historischer Scherbenhaufen, die Diskreditierung des Sozialismus und die vollständige Zerstörung des einst revolutionären Flügels der Arbeiterbewegung.
Die „antifaschistische“ Volksfrontpolitik hat nicht nur den Faschismus nirgends verhindert, sie hat ihn tw. noch hofiert (Hitler-Stalin-Pakt) und sich lange als unfähig erwiesen, ihm militärisch Paroli zu bieten. Stalins Politik hat dem Faschismus objektiv – wenn auch ungewollt – den Weg bereitet, indem sie den einziger Faktor, der Faschismus und Krieg verhindern kann, die revolutionäre Arbeiterbewegung, ruiniert hat. Als Stalin dann nicht mehr umhin konnte, den Faschismus zu bekämpfen, tat er es, indem er ein strategisches (!) Bündnis mit dem westlichen Imperialismus einging und ab 1944 jede revolutionäre Dynamik verhinderte.
Diese historische Wahrheit, diese bittere Bilanz wird in den linken Feiern am 8. Mai oft ausgeblendet. Nicht besser sind die Vertreter des „Wertewestens“, die nicht nur den Zusammenhang von Kapitalismus, Faschismus und Krieg verwischen und den Nazismus, den Holocaust und zwei Weltkriege als „Unfälle“ der Geschichte oder als Taten von „Extremisten“ hinstellen. Sie gehen sogar so weit, Russlands Vertreter von den Feiern am 8. Mai oder zur Befreiung von Auschwitz auszuladen. Ein Prof. Axel Drecoll, Leiter der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, entblödetet sich nicht, die ihm unterstellten Gedenkeinrichtungen zu instruieren, den russischen Botschafter Sergei Netschajew gegebenenfalls unter Einsatz von Sicherheitskräften des Geländes zu verweisen. Das alles dient dazu, dem westlichen Imperialismus einen Glorienschein des „Antifaschismus“ zu verleihen.
Ja, der 8. Mai war eine Befreiung vom Faschismus, und die Soldaten der Alliierten, die Partisanen, die Kämpfer im Warschauer Ghetto und die Insassen der Zuchthäuser und KZs haben Dank und Anerkennung für ihren Kampf mehr als verdient; doch eine Befreiung vom Kapitalismus war es nicht. Deshalb ist der Krieg immer noch globaler Alltag. Wir sehen uns heute immer noch mit Nationalismus, Kriegstreiberei und Hochrüstung konfrontiert. Wie sagte Max Horkheimer doch schon 1939 ganz richtig: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen!“