Hannah Behrendt
Seit ihrer Gründung betont die deutsche Politik die Unterstützung Israels als zentrales Element ihrer Außenpolitik. Diese Position gilt als „deutsche Staatsräson“, wie jüngst Bundespräsident Steinmeier erneut betonte. Die These, dass „die Deutschen“ eine historische Schuld gegenüber den Juden abzutragen hätten, dient dabei als wesentliche Begründung dieser Politik. Schauen wir uns dieses u.a. „offizielle“ Argumente genauer an.
Wenn Deutschland „an der Seite Israels“ steht, unterstützt es damit die Existenz eines Brückenkopfes des westlichen Imperialismus in der Region. Dabei geht es v.a. um die Kontrolle von Ressourcen. Es geht um imperialistische Interessen, nicht um Werte oder Moral. Die Mantra-artige Betonung der historischen Schuld der Deutschen gegenüber „den Juden“ lenkt von den realen Macht- und Klasseninteressen westlicher Politik ab.
Die Deutschen als Antisemiten?
Es ist eine verbreitete These dass „die Deutschen“ – Klassen gibt es in dieser Betrachtung nicht – besonders reaktionär und antisemitisch wären. Es stimmt sicher, dass die Deutschen nie eine siegreiche Revolution zustande gebracht haben und der deutsche Imperialismus als „zu spät gekommener“ besonders aggressiv auftrat. Das ist aber etwas anderes als ein „Nationalcharakter“, der „den Deutschen“ angedichtet wird. Dabei wird z.B. ausgeblendet, dass in Deutschland 1875 die erste Arbeitermassenpartei der Welt entstand und dass die SPD die stärkste Kraft der 2. Internationale war. Genauso wird „übersehen“, dass die KPD die stärkste revolutionäre Partei nach den Bolschewiki war. Ignoriert wird auch, dass das Gros der Arbeiterklasse nicht Hitler gewählt hat, sondern SPD und KPD. „Vergessen“ wird auch, dass nach 1945 die angeblich so reaktionäre, vom Faschismus „verseuchte“ Arbeiterklasse wie ein Phönix aus der Asche wiedererstanden war und in kürzester Zeit ihre Organisationen (DGB, SPD, KPD) wiederaufgebaut hat, die sogar größer waren als vor 1933. All das sind nicht gerade Merkmale eines besonders reaktionären „Nationalcharakters“ der Deutschen.
Die These von der „Kollektivschuld der Deutschen“ ist nicht nur historisch unhaltbar, sie verdeckt v.a. die Schuld der deutschen Bourgeoisie, des reaktionären Junkertums und ihrer diversen politischen Helfer wie der NSDAP (und der fatalen Führungen der SPD bzw. später der stalinisierten KPD) an zwei Weltkriegen, der Niederschlagung der Novemberrevolution und am Sieg des Hitler-Regimes. Sie dient dazu, die Lohnabhängigen an das Kapital und die bürgerliche Politik zu binden.
Auch hinsichtlich der besonderen deutschen Judenfeindlichkeit erweist sich die Schuld-These als falsch. Sicher gab es auch in Deutschland wie in jedem anderen Land Antisemitismus. Dieser wurde aber v.a. den Herrschenden, vom Kleinbürgertum und ihren konservativ-klerikalen und nationalistischen Parteien getragen, sie war weit weniger in der Arbeiterklasse verbreitet.
Noch 1938 war eine von den Nazis inszenierte Aktion, die „Reichskristallnacht“ notwendig, weil es einen realen anti-jüdischen „Volkszorn“ nicht gab. Natürlich hinterließ die massive anti-jüdische Propaganda der Nazis ihre Spuren im Massenbewusstsein, doch das ist nicht dasselbe wie ein a priori vorhandener, besonders ausgeprägter Antisemitismus „der Deutschen“. Auch im Vergleich zu anderen Ländern war Deutschland vor 1933 nie ein besonderer Hort des Antisemitismus.
Mit der – von den Bürgerlichen wie auch von den Stalinisten vertretenen – These der „Kollektivschuld der Deutschen“ werden die extreme Rechte (zu der nicht nur die Nazis zählen) und die deutsche Großbourgeoisie, die Hitlers Aggressionspolitik nicht nur unterstützte, sondern besonders von ihr profitierte, aus dem Fokus genommen. „Den Deutschen“ wurde ein besonders rassistischer und aggressiver „Charakter“ angedichtet: eine „völkische Eigenart“ trat an die Stelle von Klassentheorie und konkreter historischer Beschreibung des Phänomens „Faschismus“. Diese kruden Anschauungen beeinflussten dann später auch die „Antideutschen“ und das von ihr geprägte Antifa-Milieu, die heute die zuverlässigsten Sachwalter des Imperialismus in der Linken sind.
Ideologische und politische Trends müssen immer im Zusammenhang mit der allgemeinen sozialen und Klassenkampfsituation gesehen werden. Ideologische Einstellungen primär auf einen „Nationalcharakter“ zurückzuführen, ist absurd und dient bewusst oder unbewusst dazu, die konkreten historischen Umstände, die handelnden Kräfte und den Klassenkampf auszublenden.
Die Juden = Israel?
Ein weiterer Punkt der ideologischen Irreführung ist die faktische Gleichsetzung der Juden und Israels. Doch die meisten Juden leben nicht in Israel und haben dies aus guten Gründen auch nicht vor – obwohl die Zionisten nicht müde werden, für das Projekt Israel zu werben und jüdische Zuwanderer in Israel Vorteile genießen. Trotzdem ist die Bereitschaft von Juden außerhalb Israels, in Israel unter den Bedingungen eines permanenten Bürgerkriegs zu leben und einen mehrjährigen Militärdienst zu leisten, nicht sehr ausgeprägt.
Vor 1945 war der Zionismus nie die Ideologie der Mehrheit der Juden Europas und Nordamerikas. Selbst nach 1933 wurde der Zionismus von den meisten Juden abgelehnt. Erst der Holocaust machte ihn zu einer einflussreichen Ideologie.
Dass die Nazis einen großen Teil der jüdischen Bevölkerung Europas auslöschten, stellt eine einzigartig grausame Art von Völkermord dar – einzigartig hinsichtlich der großen Anzahl von Menschenleben, die in derart kurzer Zeit vernichtet wurden. Ansonsten jedoch war er alles andere als einzigartig. Der Holocaust steht in einer langen Reihe furchtbarer Verbrechen, die der Kapitalismus und der Imperialismus begangen haben – oft im Zusammenhang mit der Kolonialpolitik und mit Eroberungskriegen. Sogar bezüglich der Zahl der Opfer rangieren die sechs Millionen Juden noch nach der Zahl der Sowjetbürger – Soldaten wie Zivilisten -, die ab 1941 an der Front, bei Einsätzen von Sonderkommandos und der SS umkamen, die als Soldaten in den deutschen Gefangenenlagern verhungerten, in den KZs starben oder sich als Zwangsarbeiter zu Tode schuften mussten. Bei aller Berechtigung der Hinweise auf den millionenfachen Judenmord ist es kein Zufall, dass demgegenüber die sowjetischen Opfer und die Opfer unter den aktiven Antifaschisten oder Partisanen weit weniger offizielle Beachtung finden.
Der Holocaust wird als Tat von verrückten Rassisten dargestellt – was er auch ist -, doch v.a. ist er ein besonderer Ausdruck einer reaktionären bürgerlichen Ideologie, des Nationalismus, und mehr oder weniger „Begleiterscheinung“ imperialistischer Raub- und Eroberungspolitik im Interesse des Kapitals.
Der Holocaust ist jedoch kein besonderes oder gar typisch deutsches Verbrechen. So etwas wie der deutsche Faschismus, der besonders rassistisch und judenfeindlich war, ist prinzipiell auch jeder anderen imperialistischen Nation zuzutrauen – wenn die historische Konstellation dafür genügend Druck erzeugt. Jede Kolonialmacht hat die Schuld für unendlich viele Opfer auf sich geladen. Erst die besondere Verquickung bestimmter historischer Faktoren führten letztlich zum deutschen Faschismus und dessen besonderer Ausprägung: die verspätete Nationswerdung, die zu besonders ausgeprägter Aggressivität nach außen und innen führte; das Scheitern der 1848er Revolution und die unheilige Allianz von Bourgeoisie und Junkertum, eine schnell sehr stark werdende Arbeiterbewegung und deren reformistische Fehlentwicklung; der verlorene 1. Weltkrieg und die Knebelpolitik von Versailles, die Entartung und die Spaltung der Arbeiterbewegung vor 1933 und die extrem angeheizte politische und soziale Lage durch die Weltwirtschaftskrise ab 1929 – diese u.a. Faktoren gingen dem Sieg der Nazis 1933 voraus. Es waren bestimmte Konstellationen und Folgen der Weltökonomie und des Klassenkampfes und nicht irgendwelche „nationalen Eigenarten“ der Deutschen, die zu Faschismus und Holocaust geführt haben.
Der Holocaust und die Entstehung Israels
Ein verbreitetes Argument für die Unterstützung Israels ist die These, dass Israel die Heimstatt der von den Nazis terrorisierten Juden sei. Das stimmt aber nur zum Teil. Vor und ab 1933 ging nur eine sehr sehr kleine Zahl der deutschen Juden nach Palästina. Ab Ende der 1930er konnten Juden Deutschland nicht mehr verlassen, mit der Politik der „Endlösung“ ab 1942 begann die massenhafte Vernichtung der europäischen Juden – sie konnten dann nicht mehr auswandern.
Als Israel gegründet wurde, war nur eine kleine Minderheit der dortigen jüdischen Bevölkerung vor den Nazis geflohen. Während des Krieges war eine Flucht nahezu unmöglich. Erst nach 1945 schwoll die Fluchtwelle nach Palästina an. Es war verständlich, dass viele Juden nach den Erfahrungen mit Pogromen und dem Faschismus nicht mehr in Deutschland u.a. Ländern Europas leben wollten. Die bürgerlichen Regierungen dieser Länder und die alliierten Siegermächte waren froh, die „jüdische Frage“ los zu sein. Das Problem bestand nun aber darin, dass die Juden in Palästina mit Hilfe des Imperialismus einen eigenen Staat kreierten, der auf der Unterdrückung und Vertreibung der dortigen arabischen Mehrheitsbevölkerung beruhte. Zwar hängt die Gründung Israels auch mit dem Holocaust zusammen, doch resultiert seine Gründung nicht wesentlich auf dem Holocaust, noch war sie zwangsläufig eine Folge davon.
Die große Mehrheit der Juden, die heute in Israel leben, ist in Israel geboren oder lange nach 1945 eingewandert. Das Existenzrecht Israels oder die Unterstützung seiner reaktionären Politik mit dem Holocaust zu begründen ist absurd.
Der Zionismus als Verteidiger der Juden?
Die Zionisten werden vom Westen oft als die Retter der Juden dargestellt. Auch diese These ist falsch. Zum einen hat der Zionismus nie einen Kampf gegen den aufkommenden Faschismus geführt, sondern dessen antijüdische Politik eher noch als Argument für ihr Auswanderungsprojekt gebraucht.
So stand der Zionistenverband Deutschlands noch nach 1933 mehrere Jahre in Direktverhandlungen mit den Nazis. Diese gestatteten den Zionisten Zeitschriften und sogar eine uniformierte Jugendbewegung, als schon alle anderen politischen Organisationen verboten waren. Während des Krieges verhandelte Rudolf Kastner, der Sekretär des Zionistenkomitees in Budapest, mit Eichmann über die Flucht von 1.000 reichen Juden in die Schweiz – als Gegenleistung für seine guten Dienste dabei, die 800.000 ungarischen Juden zu überreden, sich „friedlich“ deportieren zu lassen. So wurden etwa 200.000 ungarische Juden nach Auschwitz u.a. Vernichtungslager verschleppt und ermordet. Während des Krieges traten die Zionisten Europas und der USA auch nicht gegen die rassistischen Einwanderungsbeschränkungen in den imperialistischen „Demokratien“ auf, weil sie die Juden ja zur Auswanderung nach Palästina bewegen wollten.
Der Zionismus hat komplett dabei versagt, reaktionären Bewegungen und dem Faschismus entgegenzutreten. Dafür hätte er mit der Linken und der Arbeiterbewegung zusammen kämpfen müssen, was er nicht wollte. Stattdessen setzte er auf die Unterstützung des Imperialismus, um sein Projekt eines jüdischen Staates in Palästina auf Kosten der dortigen arabischen Bevölkerung umzusetzen.
Diese Einschätzung der Rolle des Zionismus wird auch nicht dadurch geändert, dass es natürlich auch Juden gab (wenn auch nur eine sehr kleine Minderheit), die aktiv gegen den (aufkommenden) Faschismus gekämpft haben: so etwa die Berliner Widerstandsgruppe um den Juden Herbert Baum oder die Juden, die im Warschauer Aufstand der SS Widerstand leistete. Doch von einer bewussten Politik des Widerstands des Zionismus gegen den Faschismus kann keine Rede sein.
Die Verteidigung der Demokratie
Ein weiteres Argument für die Unterstützung Israels ist die Behauptung, dass damit die „einzige Demokratie“ in der Region verteidigt würde. Diese Position ist doppelt falsch. Erstens ist Israel nicht die einzige Demokratie in der Region. Sicher kann man bei allen arabischen Staaten in Nahost die Frage stellen, wie demokratisch sie wirklich sind. Sicher haben all diese „Demokratien“ viele undemokratische Elemente, doch der Westen selbst kooperiert mit diesen Ländern und stützt(e) oft genug gerade jene Kräfte, die nicht demokratisch, sondern diktatorisch und repressiv sind. Ein Beispiel dafür ist Ägypten, wo der durch die ersten freien Wahlen ins Amt gelangte Präsident Mohammed Mursi 2013 durch einen Militärputsch gestürzt wurde. Seitdem regiert Abd al-Fattah as-Sisi.
Zweitens ist die Demokratie in Israel selbst mit dem Makel behaftet, dass die dort lebenden Araber faktisch Menschen zweiter Klasse sind, die in jeder Hinsicht gegenüber den Juden benachteiligt werden.
Wir sehen, dass die verschiedenen Argumente zur Unterstützung Israels einer empirischen und historischen Überprüfung nicht standhalten. Sie sind nichts anderes als ein ideologischer Schleier, der den reaktionären Charakter und die Verbrechen Israels verdecken soll.