Die Linke und die Arbeiterbewegung waren schon immer in verschiedene Strömungen geteilt. Seit Marx und Engels begannen, für die Arbeiterbewegung eine systematische wissenschaftliche Grundlage zu erarbeiten, war ihr Schaffen auch stark von der Auseinandersetzung mit nichtrevolutionären Strömungen geprägt. Schon im „Kommunistischen Manifest“ kritisierten sie andere „sozialistische“ Richtungen.
In der heutigen Linken ist es jedoch oft verpönt, die Konzeptionen anderer Organisationen oder die eigene zu diskutieren und den Begriff des „Zentrismus“ zu benutzen. Vielen muten die ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der radikalen Linken als „Hick-Hack“ an, als unnütze Kleinkriege von am Rande der Arbeiterbewegung stehenden „Sekten“. Dieses Unverständnis der Notwendigkeit, sich mit den Positionen anderer Gruppen auseinanderzusetzen, diese einer Kritik zu unterwerfen und politisch zu charakterisieren, stellt letztlich eine unpolitische Reaktion dar, ist Ausdruck politischer Rückständigkeit infolge des unterentwickelten Klassenkampfes oder Ergebnis der Vorherrschaft des Reformismus in der Arbeiterklasse, der nach Möglichkeit Alternativen zu seiner Politik totschweigen oder als „unrealistische Spinnerei“ abtun will.
Die Ablehnung von Kritik und Diskussion innerhalb der Arbeiterbewegung und der Linken dient – ob gewollt oder nicht – dazu, die Halbheiten oder Fehler der politischen Konzepte zu verbergen und deren Überwindung zu blockieren. Doch die Arbeiterklasse kann den Kapitalismus nur stürzen, wenn sie über ein klares und wissenschaftliches fundiertes System von Strategie und Taktik verfügt. Ein solches Programm entsteht aber nur durch die bewusste und konsequente Verarbeitung der historischen Erfahrungen des Klassenkampfes. Gerade das blockiert der Zentrismus. Oft drückt sich das darin aus, dass man sich einer bestimmten ideologischen Richtung zuordnet, die man kaum historisch-kritisch hinterfragt und wie ein Dogma verteidigt.
Sich mit dem Zentrismus zu beschäftigen und ihn zu kritisieren, dient in erster Linie der Klärung der Frage, welche Art von Partei und welches politische Programm nötig ist, um den Kapitalismus zu überwinden. Wenn wir von Zentrismus reden, wollen wir damit kein psychologisches Stigma kreieren, um andere Gruppen zu beleidigen. Zentrismus ist vielmehr die Charakterisierung für politische Strömungen, die ebenso wie sozialdemokratische und stalinistische Parteien Teil der Arbeiterbewegung sind, sich aber durch eine besondere politische Methode auszeichnen, die sowohl vom Reformismus als auch vom revolutionären Kommunismus unterschieden ist.
Den Klassencharakter einer Partei können wir u.a. danach bestimmen, ob sie das Privateigentum an Produktionsmitteln verteidigt oder nicht bzw. danach, welche Beziehungen sie zu den Hauptklassen der Gesellschaft (Bourgeoisie und Proletariat) hat. Von diesem Klassenstandpunkt ausgehend analysierten Trotzki und Lenin den Zentrismus als „Übergangsstufe“ zwischen Reformismus und Kommunismus, als Strömung, die zwischen Reform und Revolution schwankt und daher keine revolutionäre Kraft in der Arbeiterbewegung darstellt. Aber im Unterschied zum Reformismus, der sich v.a. auf die privilegierten Teile des Proletariats, die Arbeiteraristokratie, stützt, hat der Zentrismus lt. Trotzki „keine feste soziale Basis bzw. kann sie seinem Wesen nach gar nicht haben“. Theoretisch äußert sich das darin, dass er versucht, den Marxismus in Worten „mit der Unterwerfung unter den Opportunismus in Taten zu verbinden“, wie es Lenin ausdrückte. Ein Merkmal des Zentrismus ist also, Schwankungen der (zumeist) fortgeschritteneren Teile der Arbeiterklasse zu reflektieren, die sich – je nach Klassenkampfsituation – nach links oder rechts bewegen. Es gehört zum Wesen des Zentrismus, sich den jeweiligen „Massenstimmungen“ bzw. Tendenzen der fortschrittlichen ArbeiterInnen anzupassen.
Ein Beispiel dafür war die 1916 gegründete Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), die ein Produkt der wachsenden Opposition von Teilen der deutschen Arbeiterklasse gegen den Krieg und die reformistische Führung der SPD war. Ein anderes ist das sich auf den Trotzkismus berufende Vereinigte Sekretariat (VS), welches sich in den 1950ern an die damals vorherrschenden Strömungen der Arbeiterbewegung – Stalinismus und Sozialdemokratie – anpaßte. Das VS verzichtete in einigen Ländern darauf, eine eigene revolutionäre Partei aufzubauen, indem es darauf verwies, dass der „historische Prozeß stärker als die bürokratischen und reformistischen Apparate“ wäre, wie der 4. Weltkongreß 1954 postulierte. Ende der 60er Jahre paßte sich das VS in Westeuropa an die „neue Avantgarde“ (StudentInnen) und in Lateinamerika an die Guerillabewegungen an. Deshalb beschrieb Trotzki den Zentrismus auch als eine politische Methode, welche die Beziehung zwischen Führung und Avantgarde nicht versteht: „Wenn Zentristen das Verhältnis zwischen den ‚Massen‘ und der Avantgarde, zwischen dem ‚historischen Prozeß‘ und der Politik einer revolutionären Minderheit begreifen würden, würden sie keine Zentristen sein.“
Der Zentrismus weigert sich, die spezifische Rolle der Partei anzuerkennen, die u.a. darin besteht, einerseits die revolutionäre Theorie und Programmatik weiter zu entwickeln und in die Klasse und ihre Kämpfe zu tragen und anderseits deren Erfahrungen in sich aufzunehmen und zu verallgemeinern. Zentrismus ist dagegen immer von der Anpassung an das vorherrschende Bewußtsein – ob halb-reaktionär oder ultralinks – geprägt.
Zugleich war bzw. ist das Aufkommen einer zentristischen Massenpartei wie der USPD oder die Herausbildung zentristischer Organisationen wie der POUM während des Spanischen Bürgerkriegs auch der Schwäche oder gar dem Fehlen des subjektiven Faktors – einer revolutionären Partei – geschuldet. Die POUM wuchs 1936 angesichts der Linksentwicklung der Arbeiterklasse binnen weniger Monate von einer kleinen Gruppe zu einer Partei von ca. 40.000 Mitgliedern an. In Bolivien spielte der POR sowohl 1952 (damals noch als Mitglied der 4. Internationale) als auch 1971 eine entscheidende Rolle in der von den Minenarbeitern dominierten bolivianischen Gewerkschaft (COB), die in diesen revolutionären Situationen eine Schlüsselrolle einnahm. Ein Sturz der Bourgeoisie wäre beide Male objektiv möglich gewesen, kam jedoch aufgrund der zentristischen Führung der Bewegung nicht zustande.
Die Beispiele, in denen der Zentrismus zu einem wichtigen Faktor in der Massenbewegung wurde, sind Belege, dass er keine revolutionäre, sondern eine links vom sozialdemokratischen Reformismus stehende Strömung ist. POUM und POR, die sich formal auf den Marxismus bzw. den Trotzkismus beriefen und in der Revolution die „radikale Linke“ bildeten, betrieben in der Praxis eine linksreformistische Politik. Sie traten in bürgerliche Volksfront-Regierungen ein, welche die Arbeiterklasse entwaffneten, die Landbesetzungen zurücknahmen usw. Ihre Beteiligung an bürgerlichen Regierungen – anstatt sie zu stürzen – führte objektiv dazu, der Reaktion den Weg zu ebnen.
Die Radikalisierung der Massen und ihre Linksentwicklung wird oft als Begründung benutzt, um den Aufbau einer revolutionären Organisation zu Gunsten eines zentristischen Projektes aufzugeben oder zu vertagen. Doch in einer zugespitzten Klassenkampfsituation kommen objektive Tendenzen und Widersprüche zum Ausdruck, die auch grundsätzliche Lösungen erfordern und ermöglichen und keine „halben“. Eine Partei muss zwar an das gegebene Bewusstsein der Arbeiterklasse und der Massen anknüpfen, doch nicht, um sich daran anzupassen, sondern um es auf ein revolutionäres Niveau zu heben.
All dies zeigt, dass es nicht ausreicht, subjektiv die Revolution zu wollen und antikapitalistisch zu denken, sondern dass es auch notwendig ist, mit dem Zentrismus als politischer Methode zu brechen, um künftige Niederlagen zu vermeiden. Es zeigt die Notwendigkeit und Dringlichkeit des Aufbaus einer konsequent revolutionären Partei!