ABC des Marxismus XX: Was ist die anti-imperialistische Einheitsfront?

Unter „Einheitsfront“ verstehen MarxistInnen das auf ein konkretes Ziel bezogene gemeinsame Handeln von linken und Arbeiterorganisationen, bei dem die Freiheit von Propaganda und Kritik gegeben sein muss.

Neben dem Klassenwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit gibt es aber besonders seit der imperialistischen Epoche auch jenen zwischen den kapitalistischen Zentren, den Großmächten, und der Peripherie, den Ländern der sog. „Dritten Welt“. Diese Staaten nennen wir „halbkolonial“, weil sie keine Kolonien mehr sind, aber innerhalb der Weltordnung eine untergeordnete und abhängige  Stellung einnehmen. Diese führt einmal dazu, dass das Proletariat und die Massen dieser Länder unter der doppelten Ausbeutung ihrer eigenen Bourgeoisie und jener der imperialistischen Zentren leiden. Zum anderen ist die Bourgeoisie der halbkolonialen Länder gegenüber dem imperialistischen Großkapital benachteiligt und versucht daher, seine Stellung zu verbessern. Das bringt sie oft nicht nur dazu, das eigene Proletariat besonders stark auszubeuten und zu unterdrücken, es bringt sie zuweilen auch offen in Konflikt mit dem Imperialismus.

Diese „besonderen“ Widersprüche bedürfen einer speziellen Taktik für den Klassenkampf in halbkolonialen Ländern – aus zwei Gründen: erstens ist die Arbeiterklasse in vielen Halbkolonien meist zahlenmäßig kleiner als in den großen Industriestaaten, zweitens kann es eine – kurzfristige und partielle – Überschneidung der Interessen von nationaler Bourgeoisie und Proletariat geben, z.B. den Einfluss des Imperialismus zu beschränken.

Die nationale Unterdrückung ist ein besonderer Aspekt der allgemeinen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse im Kapitalismus. So richtig es ist, davon auszugehen, dass mit der Überwindung des Kapitalismus auch die nationale Unterdrückung beseitigt werden kann, so kurzschlüssig ist es aber, daraus zu folgern, dass RevolutionärInnen den Kampf für nationale Befreiung nicht unterstützen müssten; schon deshalb, weil der nationale Kampf immer auch mit sozialen Fragen und Forderungen verbunden ist. Die Ignoranz oder Ablehnung gegenüber den nationalen Bestrebungen der Massen würde bedeuten, dass RevolutionärInnen von den Massen isoliert blieben und die Bewegung dem Einfluss bürgerlich-nationalistischer Kräfte überlassen würde. Stattdessen müssen RevolutionärInnen innerhalb von nationalen Bewegungen für eine sozialistische und internationalistische Orientierung eintreten. Eine solche Stoßrichtung befürworteten auch Lenin und Trotzki gegenüber Rosa Luxemburg.

Nicht jede nationale Bewegung entspringt wirklicher Unterdrückung. Oft wird sie von den Herrschenden auch nur initiiert, um eigene reaktionäre Interessen zu verfolgen oder davon abzulenken und andere Bevölkerungsgruppen zu benachteiligen. MarxistInnen sind keine UnterstützerInnen von Separatismus und Kleinstaaterei. Solche Bewegungen oder Tendenzen innerhalb der nationalen Befreiungsbewegung müssen von der Linken konsequent bekämpft werden. Die Arbeiterbewegung innerhalb der Unterdrückernation muss fortschrittliche Kämpfe gegen ihr eigene Bourgeoisie unterstützen. Schon Marx wies angesichts der Unterdrückung der Irlands durch Britannien darauf hin, auf sich auch das britische Proletariat nicht befreien kann, solange es die Unterdrückung anderer Nationen akzeptiert.

Obwohl der grundsätzliche Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit damit natürlich nicht aufgehoben oder auch nur abgeschwächt ist, entsteht doch die Möglichkeit einer – begrenzten – Kooperation zwischen dem Proletariat und den Unterdrückten mit der nationalen Bourgeoisie im Kampf gegen den Imperialismus.

Dieser Kampf kann sich an verschiedenen Problemen entzünden. Er kann sich gegen nationale Unterdrückung richten, gegen Verschuldung und wirtschaftliche Benachteiligung, gegen militärische Angriffe des Imperialismus oder gegen dessen Besatzungsregime. Unter der Herrschaft des Imperialismus leiden nicht nur die Lohnabhängigen und Unterdrückten der „Entwicklungsländer“, sondern in gewissem Maße auch die Bourgeoisie dieser Länder, indem auch sie eine benachteiligte Stellung im Weltgefüge inne haben. Zudem hat die einheimische Bourgeoisie (oder Teile von ihr, z.B. oft national-liberale Offiziere) meist die Führung in anti-imperialistischen Bewegungen inne.

Das alles sind Gründe, warum die Interessen und die Kämpfe der Unterdrückten wie der Herrschenden in den Staaten der „3.Welt“ sich bisweilen „überschneiden“. Trotz dieser partiellen Gemeinsamkeiten existiert der Klassenwiderspruch zwischen diesen Kräften aber weiter. Das wirft die Frage auf, welche Taktik des Kampfes diesen besonderen Bedingungen angemessen ist?

Auch die Kommunistische Internationale (Komintern) hat sich dieser Frage Anfang der 1920er zugewandt, als sie noch nicht durch den Einfluss des Stalinismus politisch degeneriert war. Die Komintern entwickelte das Konzept der anti-imperialistischen Einheitsfront. Es besagt im Grunde, dass in halbkolonialen Ländern die Arbeiterklasse u.a. unterdrückte und ausgebeutete Schichten ein – in jeder Hinsicht begrenztes – Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie eingehen können, falls sich diese in einem offenen Konflikt mit dem Imperialismus befindet.

Die Gemeinsamkeit kann darin z.B. bestehen, dass Unternehmen, die imperialistischem Kapital gehören, enteignet werden. Dann muss aber, im Unterschied zum Interesse der einheimischen Kapitalisten, gefordert werden, dass diese Unternehmen von den ArbeiterInnen selbst verwaltet werden bzw. diese so viel Kontrolle wie möglich darüber ausüben. Dasselbe gilt auch für die Streichung der Schulden an den Imperialismus. Auch hier müssen die Massen dafür kämpfen, dass sie die größtmögliche Kontrolle über das Finanzwesen erlangen.

Die historische Erfahrung zeigt, dass die anti-imperialistische Einheitsfront v.a. in Situationen eines militärischen Konfliktes mit dem Imperialismus von praktischer Relevanz ist. Immer wieder erweist sich, dass der Imperialismus nicht nur politisch und ökonomisch sein Interessen durchsetzt, sondern auch militärisch. Er mobilisiert den Geheimdienst oder er schickt Truppen, wenn ihm die Entwicklung eines Landes nicht gefällt, z.B. wenn eine Regierung an die Macht kommt, die sich gegen ihn stellt oder imperialistische Konzerne enteignen will. Oder er greift militärisch ein, wenn sich eine Lokalmacht anschickt, die Region neu zu ordnen, ohne dass es dem Imperialismus genehm ist. So wurde 1973 die links-bürgerliche Volksfrontregierung Allendes in Chile mit Hilfe der CIA weggeputscht. So marschierten imperialistische Koalitionsstreitkräfte unter Führung der USA im Irak und in Afghanistan ein, um unbotmäßige Regime zu stürzen und den eigenen Einfluss wieder herzustellen.

In solchen Situationen müssen die Arbeiterklasse und die Unterdrückten den militärischen Kampf gegen den Imperialismus unterstützen. Dabei dürfen sie aber die Ziele und Methoden „ihrer“ Regierung nicht einfach übernehmen oder ihre Kritik daran verschweigen. Sie müssen im Kampf möglichst unabhängig bleiben (eigene Kräfte, eigenes Kommando). Es muss immer wieder betont werden, dass die einheimische Bourgeoisie bzw. die „nationalen Kräfte“ den anti-imperialistischen Kampf nicht wirklich konsequent führen und einen faulen Kompromiss mit dem Imperialismus anstreben werden. Auf keinen Fall darf der Kampf für politische und soziale Forderungen, die sich gegen die eigene Bourgeoisie und deren Regierung richten, zurückgestellt werden, weil sie den Kampf gegen den Imperialismus angeblich schwächen oder spalten würden. Im Gegenteil: der einzige Faktor, der den Sieg über den Imperialismus erringen kann, ist die Mobilisierung der Massen; diese ist aber nur möglich, wenn die Massen auch für ihre direkten sozialen und politischen Interessen kämpfen.

Der Kampf um nationale Befreiung muss – wie jeder andere Krieg auch – in einen Bürgerkrieg zum Sturz der Unterdrücker im eigenen Land umgewandelt werden.

Diese von der Komintern ausgearbeiteten Prinzipien kamen jedoch kaum jemals zur Anwendung, weil schon ab Mitte der 1920er Jahre die Komintern und die „kommunistischen“ Parteien weltweit der stalinschen Doktrin angepasst wurden. Die Politik dieser (und auch der sozialdemokratisch oder „links-bürgerlich“ orientierten) Parteien zeichnete sich stattdessen dadurch aus, dass man sich den bürgerlich-nationalistischen Kräften unterordnete und jeden Angriff auf die bürgerliche Ordnung verhinderte. So wurde während des II. Weltkriegs z.B. der nationale Befreiungskampf in Indien gegen das britische Kolonialjoch von den Stalinisten abgelehnt, weil Britannien mit Stalin gegen Hitler verbündet war. Revolutionäre MarxistInnen wären hier für die Niederlage Britanniens in Indien eingetreten.

Genauso fatal war die Position der Stalinisten in den Kämpfen kolonialer (meist afrikanischer) Länder für nationale Befreiung nach 1945. Dort ordnete man sich politisch weitgehend den bürgerlich-nationalistischen Kräften und ihren Konzepten unter. Anstatt die anti-kolonialistische Dynamik mit einer antikapitalistischen Orientierung zu verbinden, beschränkte man sich auf die Etablierung eines zwar formal unabhängigen, jedoch bürgerlichen Regimes. Das war Ausdruck der stalinschen Etappentheorie, welche die revolutionäre Dynamik des Klassenkampfes auf eine selbstständige bürgerlich-demokratische Etappe begrenzt.

In Konflikten zwischen halbkolonialen Ländern und dem Imperialismus erleben wir oft eine Vielzahl von miteinander ringenden Kräften, die wechselnde Koalitionen eingehen. In Konflikten wie im Irak, in Afghanistan oder in Syrien ist der Kampf gegen den Imperialismus mit einem Bürgerkrieg verbunden. Verschiedene ethnische, religiöse und politische Gruppierungen wie die KurdInnen, der Islamische Staat (IS), SunnitInnen, SchiitInnen oder AlevitInnen, die von verschiedenen Mächten unterstützt werden, kämpfen miteinander. Für RevolutionärInnen ist es daher besonders wichtig, solche Konflikte genau zu analysieren und die eigene Politik exakt zu bestimmen bzw. zu präzisieren. Es gibt dafür kein Patentrezept, aber es gibt wichtige Prinzipien, die  für eine proletarisch-revolutionäre Politik von zentraler Bedeutung sind. Dazu zählen z.B. die Betonung der Eigenständigkeit des Proletariats in politischer und organisatorischer Hinsicht. Weder das Programm noch die Organisation dürfen mit anderen Klassenkräften vermischt werden. Immer  muss der Klassengegner – ob einheimische oder imperialistische Bourgeoisie – kritisiert und entlarvt werden und am Ziel des Sturzes des Kapitalismus festgehalten werden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert