ABC des Marxismus XXIV: Was ist Reformismus?

Unter Reformismus wird meist eine Politik verstanden, die auf Reformen zielt. Oft wird reformistische Politik einer konservativen Politik, die eher das Bestehende erhalten will, gegenübergestellt.

MarxistInnen meinen mit Reformismus hingegen eine politische Strömung bzw. Organisationen innerhalb der Arbeiterbewegung, die grundsätzlich im Rahmen des Kapitalismus verbleiben und dessen revolutionäre Überwindung ablehnen oder auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben, d.h. eine revolutionäre Zuspitzung von Klassenkämpfen verhindern wollen.

Die Strategie des Reformismus beruht auf drei zentralen Annahmen: 1. der Idee, dass der Fehler des Kapitalismus in der ungerechten Verteilung liege; 2. dass politische Reformen eine Umverteilung des Reichtums bewirken und den Kapitalismus in eine Gesellschaft frei von Ungerechtigkeit, Krisen und sozialen Konflikten verwandeln könnten und 3. dass diese Veränderungen in einer Demokratie über Gesetze und ohne Gewalt mittels des bürgerlichen Staatsapparats durchsetzbar wären.

Alle diese Annahmen sind falsch. Ungleiche Verteilung ist das Ergebnis des ungleichen, privaten Besitzes an Produktionsmitteln. So lange dieser besteht, werden Versuche, den Reichtum umzuverteilen, durch das Kapital, das die Macht hat, vereitelt: u.a. durch Entlassungen, Lohnkürzungen oder Firmenschließungen. Die Annahme, den Kapitalismus durch Reformen in eine gerechte Gesellschaft verwandeln zu können, ist lächerlich und ohne jeden historischen Beweis. Noch nie hat das Kapital weitreichende Reformen zugelassen, welche die Grundlagen des Systems verändert hätten. Im Gegenteil: der Faschismus zeigt, wozu die Bourgeoisie fähig ist, wenn sie ihr System durch eine Revolution bedroht sieht. Schließlich ist auch die Annahme, dass das Kapital seinen Reichtum freiwillig als Folge einer Parlamentswahl aufgeben würde, ein schlechter Scherz.

Ein Beispiel von vielen: Anfang der 1970er versuchte die Allende-Regierung in Chile, soziale Reformen durchzusetzen. Die – nicht enteigneten – Kapitalisten und der US-Imperialismus bekämpften die Regierung und stürzte sie schließlich 1973 durch einen Militärputsch. Die Arbeiterbewegung und die Massen bezahlten für die illusionäre reformistische Strategie, das Kapital nicht enteignet und den bürgerlichen Staatsapparat nicht zerschlagen und durch Räte und Arbeitermilizen ersetzt zu haben, mit ihrem Blut.

Der Unterschied zwischen reformistischer und revolutionärer Politik besteht nicht darin, ob man für Reformen kämpft oder für die Revolution, sondern darin, ob man nur für Reformen eintritt oder aber diese als Zwischenschritte, als zeitweilige Übereinkommen im Klassenkampf versteht, um in geeigneten Momenten – einer revolutionären Situation – den Sturz des Kapitalismus durchzuführen und die Arbeiterklasse grundsätzlich darauf zu orientieren. In diesem Sinn meinte schon Karl Marx, dass die Weiterentwicklung des Bewusstseins und der Organisierung der ArbeiterInnen im Klassenkampf perspektivisch wichtiger ist, als bestimmte zeitweilige „reformerische“ Errungenschaften.

Der Reformismus hat sich – in seinen verschiedenen Formen – seit der Entstehung der Arbeiterbewegung als vorherrschende Form von Bewusstsein und Organisation der Arbeiterklasse erwiesen. Die Mehrzahl der Arbeiterparteien und Gewerkschaften waren und sind reformistisch orientiert und dominieren in der Arbeiterklasse. Diese Organisationen knüpfen daran an, dass die ArbeiterInnen dazu gezwungen sind, für konkrete Verbesserungen bzw. gegen Angriffe und Verschlechterungen zu kämpfen. Das betrifft v.a. Löhne und soziale Leistungen, also ökonomische Fragen, die aber für sich genommen noch nicht mit dem Lohnsystem und dem Kapitalismus brechen.

Dieser „spontane Reformismus“ der Klasse kann nun aber von den Organisationen der Arbeiterklasse, Parteien und Gewerkschaften, auf verschiedene Art „verarbeitet“ werden. Revolutionäre Organisationen werden an den konkreten Bedürfnissen der Klasse, an ihrem Bewusstsein und an ihren Kampf- und Organisationsformen anknüpfen und diese mit einer antikapitalistischen Ausrichtung verbinden; reformistische hingegen werden genau dieses verhindern wollen.

Die v.a. auf soziale und ökonomische Fragen und den Rahmen des Nationalstaats ausgerichtete Reform-Politik scheitert allein schon daran, dass viele Fragen des Klassenkampfes nicht direkt aus nationalen Verhältnissen resultieren, sondern aus globalen, z.B. Kriege, die nicht durch nationale Reformpolitik gelöst werden können. Der Reformismus schwächt sich gewissermaßen auch selbst bzw. die Kampfkraft der Klasse, weil er ihre Selbstorganisation und die Kontrolle der Basis über ihre Aktionen und Organisationen permanent untergräbt. Das Ergebnis dieser bürokratischen „Stellvertreterpolitik“ ist ein schwächer ausgeprägtes Klassenbewusstsein und geringere Fähigkeiten und Erfahrungen der ArbeiterInnen, Klassenkämpfe erfolgreich zu führen und das Kapital zu stürzen.

In „normalen Zeiten“, wenn der Klassenkampf kein höheres Level erreicht, werden in der Regel reformistische Organisationen in der Klasse dominieren. Spitzen sich Krisen und Klassenkämpfe jedoch zu, bricht der potentielle Widerspruch zwischen den Interessen der Klasse und den „Rezepten“ des Reformismus offen. Dann können revolutionäre Kräfte die reformistische Vorherrschaft aufbrechen und die Mehrheit der Klasse für sich gewinnen. Das war z.B. 1917 in Russland der Fall. Doch der Aufstieg des Stalinismus zerstörte damals die noch junge revolutionäre Weltbewegung (Kommunistische Internationale). Das Fehlen einer revolutionären Führung der Arbeiterklasse – national wie international – seit nunmehr fast einem Jahrhundert ist ein wichtiger Grund dafür, dass der Reformismus ideell wie organisatorisch die Arbeiterklasse immer noch derart beherrschen und revolutionäre Möglichkeiten vereiteln kann. Leo Trotzki sprach deshalb völlig zu recht von einer „historischen Führungskrise des Proletariats“.

Zwei Beispiele aus Deutschland sollen zeigen, wie Reformismus in der Praxis „funktioniert“. Als die rot/grüne Bundesregierung Anfang des Jahrhunderts die „Hartz-Reformen“ der Agenda 2010 einführte, war es gerade die SPD, die diese Attacke auf den „Sozialstaat“ führte und den Billiglohnsektor enorm ausweitete. Die Gewerkschaften, der „ökonomische Arm“ des Reformismus, sorgten ihrerseits dafür, dass die Massenproteste gegen die Agenda kanalisiert und Massenstreiks abgewendet wurden.

Als sich unter dem Eindruck dieser neoliberalen Politik massenhaft Mitglieder und WählerInnen von der SPD abwandten, entstand 2005 die WASG als Alternative zur SPD. Doch auch dort wirkten von Beginn an ReformistInnen – unter Mithilfe vieler „radikaler Linker“ – dafür, dass auch diese Formation nicht über den Rahmen des Reformismus hinausging. Letztlich landete die WASG dann im Schoß der PDS und fusionierte mit ihr zur Linkspartei, der etwas linkeren Variante der SPD.

Diese Ereignisse zeigen, dass der Reformismus oft gerade dann die größten Probleme bekommt und sich Brüche zwischen dem Reformismus und der Klasse ergeben, wenn er selbst regieren muss und sich nicht in der Opposition als „sozial“ und „links“ geben kann.

Marx ging davon aus, dass die Krisen des Kapitalismus immer dramatischer werden würden und das Proletariat dadurch gezwungen wäre, sich zunehmend revolutionär zu organisieren. Doch die Entwicklung verlief zum Teil anders; das Lebensniveau der ArbeiterInnen stieg, anstatt das System zu stürzen, wollten und konnten sie es in ihrem Sinne verbessern – ohne freilich sein Wesen (Ausbeutung von Lohnarbeit, Krisen, Kriege, Unterdrückung usw.) zu ändern. Die Dynamik der Produktivkraftentwicklung und der Klassenkampf führten dazu, dass erhebliche Teile des Proletariats ihren Lebensstandard erhöhen konnten. So entstand auch eine breitere soziale Basis für den Reformismus.

Im Zuge des Übergangs zum Imperialismus am Ende des 19. Jahrhunderts veränderte sich auch die Struktur der Arbeiterklasse. Die lohnabhängigen Mittelschichten wuchsen gewaltig. Sie wurden zu einem wichtigen Faktor im Getriebe des kapitalistischen Systems. In der Arbeiterklasse entstand eine gehobene, innerhalb der Klasse privilegierte Schicht: die Arbeiteraristokratie. In Deutschland gehören dazu v.a. Millionen „deutscher“ FacharbeiterInnen. Aus ihr und aus den Mittelschichten wiederum rekrutiert sich die Arbeiterbürokratie, zehntausende Abgeordnete und (hauptamtliche) Betriebsräte, Funktionsträger der Gewerkschaften, der SPD und der Linkspartei, der Sozialverbände usw.

Diese Schichten bilden den entscheidenden Teil der sozialen Basis des Reformismus, der v.a. in Form von Gewerkschaften wie dem DGB und bürgerlichen Arbeiterparteien wie der SPD oder der Linkspartei strukturiert ist.

In der Linken ist die einseitige Vorstellung weit verbreitet, das Wesen des Reformismus bestünde darin, dass dieser für Reformen im Interesse der Lohnabhängigen kämpfen und diese als Weg zum Sozialismus ansehen würde. Ist dies bei Organisationen wie der SPD nicht der Fall, schließen sie daraus, dass diese keine reformistischen, sondern nur noch „normale“ bürgerliche Parteien wären. Diese Auffassung greift aber zu kurz, denn erstens hängt die Umsetzung der Reformpolitik nicht nur davon ab, was eine Partei subjektiv will, sondern auch davon, wie die allgemeine ökonomische und Klassenkampfsituation beschaffen ist. Oft ist Reformismus deshalb auch lediglich der Versuch (oder nur die erklärte Absicht), die Angriffe von Staat und Kapital zu mildern.

Zweitens ist der Reformismus immer dadurch gekennzeichnet, dass er zur Erreichung seiner Ziele die Klasse nicht oder nur unzureichend mobilisiert und sie letztlich den Interessen des Kapitals unterordnet. Nicht die konsequente Mobilisierung, sondern die Demobilisierung der Klasse und ihre Rolle als Unterpfand für Verhandlungen mit dem Klassengegner ist das entscheidende Merkmal des Reformismus als einer im Wesen bürgerlichen Politik.

Das unzureichende Verständnis des Reformismus in der Linken – das Kapital versteht dessen stabilisierende Funktion für das System hingegen sehr gut – führt oft dazu, dass der Klassencharakter reformistischer Organisationen falsch eingeschätzt und deshalb eine ungeeignete Politik im Kampf gegen sie vorgeschlagen wird. So glauben viele Linke, dass die SPD – im Unterschied zur Linkspartei – keine (reformistische) bürgerliche Arbeiterpartei mehr wäre, weil sie kaum noch vom Sozialismus redet und nicht konsequent für Reformen im Interesse des Proletariats kämpft. Diese Einschätzung übersieht jedoch, dass die SPD via Gewerkschaftsapparat und Betriebsräte das Gros der Arbeiterklasse „beherrscht“ und tagtäglich die Entfaltung von Widerstand behindert und kanalisiert und bürgerliches Bewusstsein in die Klasse trägt. In diesem Rahmen kommt es mitunter auch vor, dass einige „Brosamen“ an die Klasse verteilt werden, wie etwa die Einführung des Mindestlohns zeigt.

Eine zentrale Methode im Kampf gegen den Reformismus ist die Einheitsfrontpolitik, d.h. die  Aufforderung zum gemeinsamen Kampf aller Teile und Organisationen der Arbeiterklasse und der Linken bei gleichzeitiger Kritik an den unzureichenden Zielen und Methoden der Reformisten. Ausdruck dieser Methode sind z.B. die Übergangsforderungen bzw. das Übergangsprogramm. Dieses knüpft an den (meist reformistischen) Erwartungen und Strukturen der Massen an und verbindet sie mit Forderungen nach Selbstorganisation der Klasse, Arbeiterkontrolle und dem Aufbau proletarischer Machtorgane (Räte, Streikkomitees, Milizen usw.) bis hin zur Ergreifung der Macht durch die ArbeiterInnen, die Enteignung des Kapitals und die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparats.

Letzten Endes kann der Reformismus aber nur bekämpft und überwunden werden, wenn es gelingt, ein revolutionäre Partei als Alternative aufzubauen und Strukturen (z.B. Genossenschaften, Arbeiterkontrollkomitees, oppositionelle Strukturen in den Gewerkschaften usw.) zu schaffen, die nicht von reformistischen und bürokratischen Organisationen kontrolliert werden, sondern direkt von den ArbeiterInnen.

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