Als Materialist leitete Marx die Welt der Ideen aus der realen Welt, aus den sozial-ökonomischen Verhältnissen ab. Er betrachtete die Religion als eine spezifische Ideologie, wobei er unter „Ideologie“ falsches Bewusstsein verstand, das die Realität nicht adäquat, sondern „verkehrt“ abbildet. In „Die deutsche Ideologie“ schrieben Marx und Engels: „Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewusstsein kann nie etwas Andres sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess.“ In „Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie“ erklärt Marx: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.“
Wenn sich die Unterdrückten aus ihrer Lage befreien wollen, müssen sie jeden Glauben an eine höhere, außer ihnen existierende Autorität überwinden. Ihre Hoffnung muss sich vom Jenseits ab- und sich der gesellschaftlichen Praxis zuwenden. Insofern war für Marx die Kritik der Religion Grundlage jeder Kritik – an der Ideologie und den dahinter stehenden Verhältnissen.
Religiöse Vorstellungen waren ursprünglich Ausdruck der Macht der nicht verstandenen Natur über den Menschen. Wetter und Jahreszeiten, Krankheit und Tod, Feuer oder der Jagderfolg waren Phänomene, denen mystische Erklärungen entsprachen, daher waren die ersten „Götter“ Naturgötter des Windes, der Tiere, des Meeres, des Donners, der Fruchtbarkeit usw. Mit dem Übergang der Gentilgesellschaft zur Klassengesellschaft und der Verbindung von Herrschaft, Privateigentum und Staat mit der Religion und der Herausbildung einer religiösen Kaste bzw. der Kirche als Institution entstanden die monotheistischen Religionen wie das Christentum. Mit Kaiser Konstantin wurde das Christentum zur Staatsreligion und die christliche Kirche wurde Teil des Unterdrückungs- und Herrschaftsapparates.
In diesem Prozess wandelte sich auch der Charakter des Christentums als einer Ideologie der Unterdrückten, die auf Erlösung hoffen und sie in ihren eigenen Strukturen in Form von Eigentumsfreiheit, Gleichheit, Barmherzigkeit usw. praktisch vorwegzunehmen suchten, zu einer quasi-staatlich und hierarchisch organisierten Kirche, welche die reale Unterdrückung sanktionierte. Das Urchristentum hatte noch einen „revolutionären“ Charakter, während die christliche u.a. Staatskirchen grundsätzlich reaktionär waren und sind. Mit der Etablierung des Christentums als Staatskirche unter Konstantin wurde auch ihre Doktrin so umgestaltet, dass sie ihrem neuen Zweck als Instrument und Legitimation von Herrschaft gerecht werden konnte. Dazu wurden unpassende Teile der christlichen Glaubenslehre eliminiert und ein modifizierter Glaubens-Kodex festgelegt. Gleichwohl blieben bestimmte „humanistische“ Elemente des Glaubens-Kodex erhalten, um die Bindung der Gläubigen an die „gute Kirche“ zu erhalten. Dazu zählten etwa Gebote nicht zu töten, nicht zu stehlen, dem Feind zu verzeihen usw.
Karl Marx schrieb dazu: „Die sozialen Prinzipien des Christentums haben die antike Sklaverei gerechtfertigt, die mittelalterliche Leibeigenschaft verherrlicht und verstehen sich ebenfalls im Notfall dazu, die Unterdrückung des Proletariats, wenn auch mit etwas jämmerlicher Miene, zu verteidigen. Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Notwendigkeit einer herrschenden und einer unterdrückten Klasse und haben für die letztere nur den frommen Wunsch, die erstere möge wohltätig sein.“
Mehr als 1.000 Jahre lang war die katholische Kirche die wichtigste Stütze der feudalen Gesellschaft und behinderte durch ihren Dogmatismus den wissenschaftlichen Fortschritt. Zahllose Verbrechen wurden durch und im Namen der Kirche verübt. Als Grundeigentümerin und durch Steuern (Kirchenzehnt) beutete die Kirche das Volk aus. Das Aufkommen des Bürgertums und seiner Produktionsweise ab dem 15./16. Jahrhundert erschütterte in Form der Renaissance und der Reformation (Zwingli, Calvin, Luther) die Herrschaft des Katholizismus. Die Reformation griff Ideen des Humanismus auf und richtete sich tw. gegen die Einmischung der Kirche in weltliche Dinge, gegen das Papsttum, gegen Prunksucht und Bestechlichkeit von Würdenträgern, den Ablasshandel usw.. Ideale wie Genügsamkeit, Fleiß usw. als ökonomische Notwendigkeiten des aufstrebenden Bürgertums wurden gepredigt. Doch die zentralen christlichen Dogmen wurden nicht in Frage gestellt. Der Deutsche Bauernkrieg (1525) offenbarte einerseits die Affinität der sozial-revolutionären Bewegung der armen Bauern und der Stadtbürger zur Reformation, andererseits aber (auch im Verhalten Luthers) deren reaktionäre, die bestehenden Verhältnisse verteidigende Rolle.
Vor allem die Französische Revolution von 1789 erschütterte dann die Stellung der Kirche wesentlich. Es erfolgte eine weitgehende Trennung von Kirche und Staat, Religion sollte hauptsächlich Privatsache sein. In der ökonomischen Sphäre und im Staat sollte nur die Bourgeoisie herrschen – ohne Einfluss er Kirche. Doch in fast allen Ländern ist diese demokratische Forderung der bürgerlichen Revolution bis heute nur unzureichend umgesetzt, nicht zuletzt, weil die Bourgeoisie den Wert von Religion und Kirche für die Aufrechterhaltung auch ihrer Herrschaft erkannt hat.
Eine konsequentere anti-religiöse Orientierung brachte erst das Auftreten des Proletariats als selbstbewusste Kraft im Klassenkampf. Die Oktoberrevolution 1917 setzte die Trennung von Kirche und Staat und die Beendigung der Privilegien der Kirche konsequent um. Jedoch wurde auch diese Errungenschaft tw. im Stalinismus wieder untergraben. Zwar wurde einerseits die ideologische Rolle der Kirche in der Gesellschaft sehr stark eingeschränkt, weil die Herrschaft der Bürokratie auch auf ihrer uneingeschränkten politisch-ideologischen Macht beruhte, andererseits nahmen die politischen Strukturen und die Ideologie des Stalinismus selbst quasi religiös-kirchliche Züge an.
Die Arbeiterbewegung sah es immer als wichtiges Ziel an, den Einfluss von Religion und Kirche zu bekämpfen. Doch im Zuge der Etablierung des Reformismus verlor sie diese Qualität immer mehr. In Deutschland erfolgte die Trennung von Kirche und Staat, v.a. aufgrund der gescheiterten Revolution von 1918, nur sehr inkonsequent. Heute genießen die christlichen Kirchen nicht nur viele Privilegien, sie erhalten auch enorme direkte und indirekte Zuwendungen (z.B. Einziehung der Kirchensteuer durch den Staat) und bekommen öffentlichen Einfluss und Ämter zugeschanzt, so z.B. in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkräten. Für kirchliche Einrichtungen gelten tw. Ausnahmereglungen, z.B. für sog. Tendenzbetriebe.
Ein aktuell besonders krasser Ausdruck des reaktionären Charakters der Religion ist der Islam, v.a. dort, wo er eine enge Symbiose mit dem Staat eingegangen ist und eine wesentliche Stütze solcher reaktionärer Regime wie in Saudi-Arabien oder im Iran darstellt. Der militante Islamismus des IS oder von Al Quaida richtet sich gegen den Einfluss des „Westens“, sprich: des Imperialismus, zugleich aber auch gegen fortschrittliche demokratische bzw. sozial-revolutionäre Bewegungen der Massen wie im Arabischen Frühling. Doch selbst dort, wo der Islamismus „progressiv“ antiimperialistisch agiert, benutzt er verbrecherische, gegen die Massen gerichtete Methoden und versucht nur, seine eigene, noch reaktionärere Ordnung zu etablieren. Der militante Islamismus ist entweder Instrument der Expansionsbestrebungen reaktionärer islamischer Regionalmächte wie Iran oder Saudi-Arabien und/oder eine Kraft zur Bewahrung vorbürgerlicher reaktionärer Zustände (einflussreicher Grundbesitz, Kleinproduktion, Clanstrukturen, „offene“ Unterdrückung von Frauen und Minderheiten usw.). Der Islamismus repräsentiert eine Region und sozial-ökonomische Verhältnisse, die – nicht zuletzt durch den Einfluss des Imperialismus – durch einen Rückstand ihrer kapitalistischen Entwicklung und der Produktivkräfte geprägt sind, wozu auch die Entwicklung der Demokratie, des Proletariats und der Arbeiterbewegung gehören. Während Religion und Kirche im Westen die Aufklärung durchliefen und deren Macht dabei begrenzt wurde, fand diese Entwicklung in der islamischen Welt kaum statt.
Obwohl der Einfluss der Kirchen und ihrer Ideologie in den entwickelten Ländern zurückgeht, verschwindet damit das Phänomen Religion nicht einfach. An die Stelle oder an die Seite der „offiziellen“ Religion und der Kirche ist längst eine Konglomerat von Staat, Politik und Ideologiebetrieb getreten, das neue Dogmen und einen neuen „Glauben“ etabliert. Dazu zählen z.B. die Ideen von „der Demokratie“, vom „Sozialstaat“, von der „Sozialpartnerschaft“ usw. als besondere Formen von Nationalismus und u.a. bürgerlichen Ideologien. Politik, Medien und Wissenschaft (re)produzieren täglich „Wahrheiten“ und Meinungen, um die Massen zu manipulieren und besser beherrschbar zu machen. Die permanenten Umwelt-Untergangsszenarien (Klimakatastrophe, Peak oil, Waldsterben, Ozonloch usw.) und irrationale Heilsversprechen (Demokratie, Energiewende, Klimarettung) und die von „Experten“ gestützten neoliberalen Reformen sind Beispiele dafür.
Wie im Mittelalter immer neue Mystifikationen ersonnen wurden, um die Massen zu täuschen und zu beherrschen, setzen auch die modernen Ideologen auf reaktionäre wie utopische Erklärungen und Rezepte. Sie pervertieren die Wissenschaft, dieses entscheidende Instrument zu Welterkenntnis und -veränderung, um sie bornierten Verwertungsinteressen unterzuordnen und von der Notwendigkeit der revolutionären Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise abzulenken. Es muss deshalb (wieder) eine zentrale Aufgabe der Arbeiterbewegung werden, den Kampf gegen die alten und die neuen Religionen und deren Träger und für eine wissenschaftliche und materialistische Anschauung zu führen.
Der anti-klerikale Kampf richtet sich ebenso gegen die religiöse Ideologie wie gegen den Einfluss der Kirche als Institution. In Politik, Staat und Bildung hat die Kirche nichts zu suchen, jede Förderung der Kirche durch den Staat muss unterbleiben! Zugleich aber muss das Recht auf freie Ausübung der Religion verteidigt werden und jede Einmischung des bürgerlichen Staates darin abgelehnt werden. Letztlich können Religion und Aberglaube nicht dadurch überwunden werden, dass sie bekämpft werden, sondern nur dadurch, dass die sozial-ökonomischen Verhältnisse, aus denen sie entspringen, überwunden werden. „Lasst uns“, wie Heinrich Heine schrieb, „das Himmelreich auf Erden schon errichten.“