1921: Revolution am Wendepunkt

Zur Geschichte der Russischen Revolution

Hanns Graaf

Die Russische Revolution befand sich nach ihrem Sieg im Oktober 1917 in einer sehr prekären Situation. Schon Anfang 1918 begann der Bürgerkrieg, der bis 1921 andauerte. Er wurde von allen Seiten sehr brutal geführt. Erhebliche Teile der ohnehin schlechten Infrastruktur wurden zerstört. Mehrere Millionen Bewaffnete und Zivilisten kamen durch Kampfhandlungen, durch Hunger und Epidemien um. Der Weltkrieg war für Sowjetrussland zwar im März 1918 durch den Friedensvertrag von Brest-Litowsk beendet, doch es verlor dadurch große Gebiete und viele Ressourcen.

Die Industrieproduktion war stark gesunken und lebte von Improvisationen. Zudem wurde fast nur noch für die Rote Armee produziert. Durch den Mangel Industriewaren gab es für die Bauern wenig Äquivalent für ihre Produkte. Der Rubel verlor dramatisch an Wert. Die Folge war, dass die Bauern ihre Produktion reduzierten bzw. (v.a. die reicheren) das Getreide horteten, um den Preis hoch zu treiben. Um die Versorgung der Städte und der Armee sicherzustellen, begann die Zwangseintreibung von Getreide, was zu großem Unmut bei den Bauern führte und viele in große Not stürzte. Obwohl die ärmere Dorfbevölkerung durch die Revolution Land erhalten hatte und v.a. deshalb auf Seiten der Bolschewiki gegen die weiße Konterrevolution kämpfte, unterminierte die Beschlagnahme-Politik der Bolschewiki objektiv das für die Revolution grundlegende Bündnis zwischen dem städtischen Proletariat und der armen Bauernschaft.

Das Proletariat, das ohnedies nur ein kleine Minderheit der Bevölkerung stellte, erlebte während des Bürgerkriegs eine dramatischen Erosionsprozess. Die Krise der Industrie erhöhte die Arbeitslosigkeit und die Reallöhne fielen. Hunderttausende ArbeiterInnen verließen die Betriebe und zogen wegen des Hungers aufs Land. Städte wie Petrograd oder Moskau verloren zeitweise ca. ein Drittel ihrer Einwohner. Der in kürzester Zeit enorm wachsende Staats- und Parteiapparat sog zudem große Teile der bewusstesten ArbeiterInnen auf, zudem dienten sehr viele in der Roten Armee oder in der Sicherheitspolizei (Tscheka).

Die Revolution lebte von der Begeisterung der Massen, den Massenaktionen und ihren direkten Vertretungsorganen, den Arbeiter- und Soldatenkomitees und den auf ihnen basierenden Sowjets, sowie von der politischen Führung durch die bolschewistische Partei. Durch die prekäre Gesamtlage und die Auszehrung der Arbeiterklasse verlor das Sowjetsystem jedoch immer mehr an Dynamik und Substanz, die Sowjets wurden zunehmend zu einer „leeren Hülle“. Doch diese Entwicklung war nicht nur der objektiven Lage geschuldet, sondern auch dem Vorgehen der Bolschewiki selbst. Sie verfolgten von Beginn an eine extreme Politik der Verstaatlichung und Zentralisierung. Die Sowjets und die Selbstverwaltungsorgane der Klasse wurden durch das Administrieren von oben immer mehr eingeschränkt. Auch die Ansätze von Arbeiterkontrolle und Selbstverwaltung in der Industrie wurden im Zuge des Kriegskommunismus wesentlich beschnitten. Das alles stellte durchaus eine Form der sozialen Entmachtung, der Enteignung des Proletariats dar – auch wenn Maßnahmen wie die Einführung der kommissarischen Einzelleitung der Betriebe oft durch die Umstände erzwungen waren.

 Die neue Lage

Im Frühjahr 1921 war endlich eine neue Situation entstanden. Der Bürgerkrieg war gewonnen, die Bolschewiki hatten ihre Macht gefestigt. Fast jede Opposition war ausgeschaltet. Das Rätesystem war durch das Prinzip des Ernennens der Funktionäre von oben faktisch entdemokratisiert und der Kontrolle durch die Basis entzogen. Alle wesentlichen Entscheidungen wurden in einem sehr kleinen Führungsgremium der Partei und oft von Regierungschef Lenin persönlich getroffen. Ein unerhört großer und komplizierter bürokratischer Apparat – faktisch eine Symbiose aus Staats- und Parteiorganen – versuchte (oft vergeblich), die soziale und wirtschaftliche Misere zu beheben. Die wirkliche Macht lag längst nicht mehr bei den Sowjetorganen der Massen, sondern beim Apparat und der schon damals fast allmächtigen und nahezu unkontrollierten Tscheka. Die direkten Anweisungen Lenins zu oft willkürlichen massenhaften Liquidierungen nahmen den späteren, ins Gigantische gesteigerten Terror auf Geheiß Stalins durchaus vorweg – auch wenn daraus nicht einfach gefolgert werden darf, dass Lenin wie Stalin die allgemeine Repression als „Normalität“ ansah.

Industrie, Transport und Landwirtschaft lagen am Boden. Es herrschten Hunger und allgemeiner Mangel. Die Bevölkerung und besonders die Arbeiterklasse waren ausgelaugt. Über drei Jahre lang konnten die großen Versprechungen der Revolution für die Massen – Brot, Land und Frieden – nicht nur nicht erfüllt werden, die Lage hatte sich sogar noch deutlich verschlechtert. Freilich trugen daran die Bolschewiki am wenigsten Schuld. Im Gegenteil: Sie waren die einzige konsequente Kraft, um die Revolution zum Sieg zu führen und zu verteidigen.

Doch der Sieg der Bolschewiki war ein Pyrrhus-Sieg, der nicht nur unerhörte personelle und materielle Opfer gefordert, sondern die Massen und auch das Proletariat der Partei Lenins zunehmend entfremdet hatte. Das fand deutlichen Ausdruck darin, dass große Teile der Bevölkerung – auch der Arbeiterklasse – sowie ein Teil der Bolschewiki selbst sich von der Partei abgewendet hatten, v.a. wegen des undemokratischen und brutalen Vorgehens gegen wirkliche und vermeintliche Gegner und der Aushebelung der Rätedemokratie. So war z.B. die Vernichtung der Machno-Bewegung, die effektiv gegen die „weiße“ und „grüne“ Konterrevolution gekämpft hatte, nichts anderes als ein (zudem unnötiges) Verbrechen.

Ende 1920/Anfang 1921 prägten mehrere markante Ereignisse die politische Szenerie Sowjetrusslands: eine große Zahl von Bauernaufständen gegen die Requisitionen, Massenstreiks von ArbeiterInnen, der Aufstand in Kronstadt und der zeitgleich in Moskau tagende 10. Parteitag der Bolschewiki.

Die neue allgemeine Lage und die aktuellen politischen Zuspitzungen riefen nach grundsätzlichen Antworten. Es war klar, dass der Parteitag so oder so eine Weichenstellung darstellen würde.

Die Streiks in Petrograd

Im Februar 1921 begannen zuerst in Moskau und dann Ende des Monats auch in Petrograd massive Proteste und Streiks, an denen viele Tausende beteiligt waren. Im Kern waren es politische Streiks. Die ArbeiterInnen waren unzufrieden mit der Gängelung der Betriebsführung von oben und forderten die Wiedereinsetzung der direkten Leitung der Betriebe durch die Belegschaften. Viele ArbeiterInnen hatten noch enge Verbindungen zum Land und sahen, dass die bisherige Politik der Beschlagnahme von Getreide zwar eine Hungerkatastrophe der Städte abgewendet hatte, aber zugleich das Interesse der Bauern an der Produktion untergrub, langfristig das Versorgungsproblem nicht lösen konnte und das Bündnis zwischen Proletariat und armen Bauern zerstörte.

Das erste „Programm“ der Streikenden in Petrograd lautete: „Eine vollständige Änderung der Regierungspolitik ist notwendig. Zu allererst brauchen die Arbeiter und Bauern Freiheit. Sie wollen nicht nach den Dekreten der Bolschewiki leben, sie wollen selbst über sich verfügen. Genossen, bewahrt revolutionäre Ordnung! Verlangt entschieden und auf organisierte Weise:

  • Freilassung aller verhafteten Sozialisten und parteilosen Arbeiter.
  • Abschaffung des Kriegsrechts; Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit für alle Arbeitenden.
  • Freie Wahl von Werkstatt- und Fabrikkomitees (sawkomi) und von Arbeitergesellschafts- und Sowjetvertretern.

Beruft Versammlungen ein, schickt eure Delegierten an die Behörden und seid für die Durchsetzung eurer Forderungen tätig.“

Bezeichnend für die Veränderungen seit 1917 war auch die oft laut werdende Kritik an den Privilegien und der „ausschweifenden Lebensweise“ von Teilen der Bürokratie.

Die Streiks weiteten sich schnell aus und standen davor, zu einem Generalstreik in ganz Petrograd anzuwachsen. Das motivierte die politische Führung Petrograds um Sinowjew dazu, repressiv gegen die Streikenden vorzugehen. Zuerst wurden streikende ArbeiterInnen ausgesperrt, was bedeutete, dass sie automatisch auch keine Lebensmittelrationen mehr erhielten. Anstatt zuerst mit den unzufriedenen ArbeiterInnen zu sprechen, wurde ein „Verteidigungskomitee“ (Komitet Oborony) unter dem in der Bevölkerung sehr unbeliebten Petrograder Parteichef Sinowjew eingesetzt. V.a. mittels des Einsatzes von Tscheka-Einheiten und Offiziersschülern gelang es innerhalb weniger Tage, viele ArbeiterInnen als Rädelsführer zu verhaften, die Straßen zu kontrollieren und die Wiederaufnahme der Arbeit zu erzwingen. Das gleiche Vorgehen erlebte auch Moskau. Etliche Streikende wurden erschossen und verletzt. Neben der Peitsche kam aber auch das Zuckerbrot zum Einsatz: es wurden tausende Tonnen Getreide importiert und verteilt – nachdem das angeblich vorher unmöglich gewesen wäre.

Als Reaktion auf die ignorante Haltung der Regierung gegenüber den Forderungen der Streikenden und auf die Repressionen schlug die Stimmung schnell nach rechts um, reaktionäre Slogans nahmen zu. Am 28. Februar erschien eine Proklamation der „Sozialistischen Arbeiter des Newsky-Distrikts“: Wir wissen, wer sich vor der Konstituierenden Versammlung fürchtet. Das sind die, die nicht länger imstande sein werden, das Volk zu plündern. Statt dessen werden sie sich vor den Volksvertretern zu verantworten haben für ihren Betrug, ihre Räubereien und all ihre Verbrechen.

Nieder mit den verhaßten Kommunisten! Nieder mit der Sowjetregierung! Es lebe die Konstituierende Versammlung!“

Wenn vom März 1921 die Rede ist, dann v.a. vom Aufstand in Kronstadt. Doch der letzte Impuls für die Kronstädter waren eben die Streiks gewesen. Die Streiks zeigten zweierlei: einerseits wollten die ArbeiterInnen die Errungenschaften der Revolution bewahren, andererseits wollten sie die – teils notwendigen, teils übertriebenen oder gar schädlichen – Entwicklungen unter dem „Kriegskommunismus“ der Bürgerkriegsphase korrigiert sehen. Der schnelle Umschwung der Stimmung der Streikenden ist zugleich Ausdruck des tiefen Zerwürfnisses zwischen den Massen und der bolschewistischen Regierung, das über Monate und Jahre entstanden war. Noch hätte ein klares Signal der Partei an die Massen und ein energisches Herumreißen des Steuers die Kluft wieder schließen und die Massen erneut aktivieren können – allein, die Bolschewiki taten das Gegenteil, wie die Diskussionen und Beschlüsse des X. Parteitages im März 1921 zeigen. Und es war noch nicht einmal „die Partei“, die für die Beibehaltung der restriktiven, bürokratischen Linie und gegen jede Demokratisierung stand. Es war das Gros der Parteiführung, v.a. Lenin und Trotzki, die diese Linie vertraten und sich dabei auf die inzwischen schon starke Schicht von Bürokraten im Parteiapparat stützten, die auch einen immer größeren Teil der Parteitags-Delegierten stellte.

Die Streiks verweisen auf die Grundfrage des „nach“-revolutionären Regimes: Wer herrscht, die Arbeiterklasse oder die Bürokratie? Die Streiks vom März 1921 waren auch in anderer Hinsicht eine Zäsur: sie waren der letzte aktive Versuch der Arbeiterklasse, als politisches Subjekt aktiv zu werden. Ab da war sie gebrochen, desillusioniert und unfähig, politisch kollektiv zu handeln. Nicht zuletzt Trotzki musste später feststellen, dass seine „Linke Opposition“ wenig Widerhall, geschweige denn direkte Unterstützung durch die ArbeiterInnen fand. Die revolutionäre Klasse verharrte in skeptischer Passivität. Letztlich gelang es dann mit der NÖP und später unter Stalin, mit einer Mischung aus Terror, Demagogie und sozialen Zugeständnissen, das Proletariat zu „befrieden“.

Kronstadt

Kronstadt ist eine Petrograd vorgelagerte Insel mit einer Festung, einer großen Marinegarnison und  zahlreichen Reparatur- und Werftanlagen. Die Bevölkerung und die Matrosen Kronstadts waren bereits vor 1917 sehr politisch, den stärksten Einfluss hatten die Bolschewiki und die AnarchistInnen. Die Matrosen von Kronstadt gehörten während der Revolution und im Bürgerkrieg zur Vorhut der Revolution. Allerdings war auch der Aderlass, den der Bürgerkrieg von ihnen forderte, sehr hoch. Die Garnison verlor viel von ihrem revolutionären Kader und wurde, da sie nicht im Kampfgebiet lag, mit weniger zuverlässigen Rekruten ergänzt.

Jedoch ist die Behauptung Trotzkis, dass die Garnison von 1921 nicht mehr dieselbe gewesen wäre wie 1917 und davon, dass die revolutionären Roten Matrosen sich gegen die Revolution gewandt hätten, keine Rede sein könne, wenig glaubhaft. Die Mehrzahl der EinwohnerInnen Kronstadts waren in der Stadt geblieben, darunter die Familien der Marineangehörigen und der Werftarbeiter. Auch die Besatzungen der Kriegsschiffe waren großteils noch die alten. Das konnte auch kaum anders sein, denn Matrosen wie Werftarbeiter waren technische Spezialisten, die nicht so einfach ersetzt werden konnten.

Über Monate hatten v.a. die Berichte über das Vorgehen gegenüber den Bauern und zuletzt gegen die Streikenden in Kronstadt für Empörung gesorgt. Und nicht nur das: Matrosen, ArbeiterInnen und EinwohnerInnen schickten Delegationen aufs Land, die mit den Bauern redeten und ihnen dringend benötigte Dinge brachten, die sie in ihren Werkstätten für die Bauen hergestellt hatten. Den KronstädterInnen war klar, dass es einen politischen Kurswechsel geben musste. Letztlich erfolgte in Kronstadt dieselbe politische Radikalisierung wie unter den Petrograder ArbeiterInnen.

Am 1. März wurde in Kronstadt eine öffentliche Versammlung abgehalten, an der 16.000 Matrosen, Soldaten und ArbeiterInnen anwesend waren. Den Vorsitz hatte der Chef des Exekutivkomitees des Kronstädter Sowjets, der Bolschewik Wassiliew. Anwesend waren auch der Präsident der Russischen sozialistischen Föderativrepublik Kalinin und der Kommissar der Ostseeflotte Kusmin, die zu den Versammelten sprachen. Als Zeichen der freundlichen Einstellung der Massen zur Regierung war Kalinin bei seiner Ankunft mit allen militärischen Ehren empfangen worden.

Zum politischen Programm der Kronstädter wurde die Resolution der Mannschaften des 1. und 2.  Geschwaders der Ostseeflotte vom 1. März 1921. Das Versammlungsprotokoll vermerkt: Resolution der allgemeinen Versammlung der Mannschaften des ersten und zweiten Geschwaders der Ostseeflotte, abgehalten am 1. März 1921.

Nach Anhörung des Berichts der von der allgemeinen Versammlung der Schiffsmannschaften nach Petrograd zur Untersuchung der dortigen Lage geschickten Vertreter wird beschlossen:

  1. Angesichts der Tatsache, daß die gegenwärtigen Sowjets den Willen der Arbeiter und Bauern nicht ausdrücken, sofort neue Wahlen mit geheimer Abstimmung abzuhalten, wobei die vorherige Wahlkampagne volle Agitationsfreiheit unter den Arbeitern und Bauern haben muß.
  2. Rede- und Pressefreiheit einzuführen für Arbeiter und Bauern, Anarchisten und linksstehende sozialistische
  3. Versammlungsfreiheit für Arbeitergesellschaften und Bauernorganisationen zu
  4. Eine parteilose Konferenz der Arbeiter, Soldaten der Roten Armee und Matrosen von Petrograd, Kronstadt und der Petrograder Provinz für nicht später als den März 1921 einzuberufen.
  5. Alle politischen Gefangenen der sozialistischen Parteien und alle in Verbindung mit Arbeiter- und Bauernbewegungen eingesperrten Arbeiter, Bauern, Soldaten und Matrosen zu
  6. Eine Kommission zu wählen zur Revision der Fälle der in Gefängnissen und Konzentrationslagern
  7. Alle politotdell (politischen Büros) abzuschaffen, weil keine Partei spezielle Privilegien zur Propagierung ihrer Ideen besitzen oder zu solchen Zwecken finanzielle Regierungshilfe erhalten An deren Stelle sollten erzieherische und kulturelle Kommissionen errichtet werden, lokal gewählt und von der Regierung finanziert.
  8. Sofort alle sagryadltelniye otryadi (Anm.: Das sind bewaffnete, von den Bolschewiki organisierte Formationen zur Unterdrückung des privaten Handels und zur Konfiskation von Lebensmitteln.)
  9. Die Rationen aller Arbeitenden gleichzumachen, mit Ausnahme der in gesundheitsschädlichen Beschäftigungen Tätigen.
  10. Die kommunistischen Kampfabteilungen in allen Zweigen der Armee und die Kommunistischen Wachen, die in Werken und Fabriken Dienst tun, Sollten solche Wachen oder militärische Abteilungen sich als notwendig herausstellen, sind sie in der Armee aus der Mannschaft zu ernennen und in den Fabriken nach der Wahl der Arbeiter.
  11. Den Bauern volle Aktionsfreiheit in bezug auf ihr Land zugeben, ebenso das Recht, Vieh zu halten, unter der Bedingung, daß sie mit ihren eigenen Mitteln auskommen, das heißt ohne gedungene Arbeitskräfte zu
  12. Alle Zweige der Armee und unsere Kameraden, die militärischen Kursanti zu ersuchen, unseren Beschlüssen
  13. Zu verlangen, daß die Presse unsere Beschlüsse in vollstem Umfang an die Öffentlichkeit
  14. Eine Reisende Kontrollkommission zu
  15. Freie Kustar-Produktion (individuelle in kleinem Maßstab) durch individuelle Arbeit zu

Resolution einstimmig von der Brigadeversammlung angenommen bei Stimmenthaltung von zwei Personen.

Petritschenko, Vorsitzender der Brigadeversammlung. Perepelkin, Sekretär.

Resolution von der Kronstädter Garnison mit überwiegender Majorität angenommen.

Wassiljew, Vorsitzender. Mit Genossen Kalinin zusammen stimmt Wassiljew gegen die Resolution.“

In derselben Versammlung wurde beschlossen, ein Komitee nach Petrograd zu schicken, um den ArbeiterInnen und der dortigen Garnison die Forderungen der Kronstädter zu erklären und die Entsendung parteiloser Delegierter durch das Petrograder Proletariat nach Kronstadt zu ersuchen, um diese mit den Forderungen der Matrosen bekanntzumachen. Das aus 30 Mitgliedern bestehende Komitee wurde von den Bolschewiki in Petrograd sofort verhaftet, ihr Verbleib ist unbekannt, kann aber erahnt werden.

Da die Amtsdauer der Mitglieder des Kronstädter Sowjets endete, wurde für den 2. März eine Delegiertenkonferenz einberufen zur Vorbereitung von Neuwahlen. Die Konferenz sollte aus Vertretern der Schiffe, der Garnison, der verschiedenen Sowjetinstitutionen, der Arbeiterkomitees und Fabriken bestehen. An der Konferenz nahmen über 300 Delegierte teil, darunter auch Bolschewiki.

Die Konferenz trat für Sowjets ohne „Einmischung“, d.h. ohne Sonderrechte für eine politische Partei (praktisch betraf das nur die Bolschewiki) ein. Diese Position ist v.a. Ausdruck der Ablehnung des Einflusses der von oben eingesetzten politischen Kommissare, weniger der Ablehnung gegenüber der bolschewistischen Partei insgesamt.

Die Bolschewiken Kusmin und Wassiljew wurden aus der Versammlung vom 2. März entfernt und unter Arrest gestellt, weil sie die Resolution abgelehnt hatten. Es ist jedoch auch bezeichnend für die Stimmung der Konferenz, dass der Antrag, alle anwesenden Bolschewiki zu verhaften, mit großer Mehrheit abgelehnt wurde. Die Delegierten meinten, dass die KommunistInnen den Vertretern anderer Organisationen gleichgestellt seien und gleiche Rechte beanspruchen könnten. Dieses Verhalten drückt die grundsätzliche Absicht der KronstädterInnen aus, zu einem Übereinkommen mit den Bolschewiki und ihrer Regierung zu kommen.

Die zentrale – und berechtigte – Kritik der Bolschewiki richtete sich gegen die von der Opposition in Petrograd und Kronstadt erhobene Forderung nach „Sowjets ohne Bolschewiki“. Damit waren die berechtigten Forderungen nach Demokratisierung nämlich mit dem Makel behaftet, selbst eine massive Einschränkung der Demokratie vorzunehmen. Mehr noch: das Hinausdrängen der Bolschewiki aus den Sowjets hätte bedeutet, dass die einzig relevante organisierte Kraft zur Verteidigung der Revolution faktisch entmachtet worden wäre. Natürlich war das für die Bolschewiki nicht hinnehmbar oder verhandelbar. Andererseits war aber auch klar – jedenfalls der Opposition -, dass eine Wiederherstellung der Sowjetdemokratie unmöglich war, wenn die „Vorrechte der Bolschewiki“, u.a. das Kommissar-Regime und die willkürlichen Verhaftungen nicht abgeschafft würden. Das Heft des Handelns lag bei Lenins Partei, nicht zuletzt, weil auch die Opposition nicht den Sturz der Regierung anstrebte, sondern einen Dialog mit ihr und eine Kurskorrektur.

Die politischen Ziele der Kronstädter kommen auch in einer Radiobotschaft vom 6. März – nach den ersten Repressionen und nach Beginn der Propaganda-Kampagne der Regierung – zum Ausdruck: „Unsere Sache ist eine gerechte: wir treten ein für die Macht der Sowjets, nicht die der Parteien. Wir treten ein für freigewählte Vertreter der arbeitenden Massen. Die Ersatzsowjets, die von der Kommunistischen Partei betrieben werden, blieben immer unseren Bedürfnissen und Forderungen gegenüber taub; die einzige Antwort, die wir je erhielten, war schießen Genossen! Man täuscht euch nicht nur, man verdreht mit voller Absicht die Wahrheit und bedient sich der verächtlichsten Ehrabschneidung. In Kronstadt ist die ganze Gewalt ausschließlich in den Händen der revolutionären Matrosen, Soldaten und Arbeiter, nicht in denen der von irgendeinem Koslowsky geführten Gegenrevolutionäre, wie das lügnerische Moskauer Radio euch glauben machen will Zögert nicht, Genossen! Schließt euch uns an, tretet in Verbindung mit uns. Verlangt Zulassung nach Kronstadt für eure Delegierten. Nur diese werden euch die ganze Wahrheit sagen und die teuflische Verleumdung über Brot von Finnland und Entente-Angebote bloßstellen.

Es lebe das revolutionäre Proletariat und Bauerntum! Es lebe die Macht freigewählter Sowjets!“

Gegen die These von der „konterrevolutionären Verschwörung“ steht auch, dass das „Revolutionäre Komitee“ v.a. aus Proletariern und Matrosen bestand, deren revolutionäre Verdienste bekannt waren. Seine 15 Mitglieder waren: Petritschenko (Oberbeamter, Flaggschiff Petropawlowsk), Jakowenko (Telefonist), Ossossow (Maschinist), Archipow (Ingenieur), Perepelkin (Mechaniker), Patruschew (Chefmechaniker), Kupolow (ärztlicher Oberassistent), Werschinin (Matrose), Tukin (Elektromechaniker), Romanenko (Aufseher im Dock), Oreschin (Vorsteher einer Industrieschule), Walk (Holzfabrikarbeiter), Pawlow (Seeminenarbeiter), Baikow (Fuhrmann) und Kilgast (Hochseematrose).

Die Kronstädter Zeitung „Iswestia“ bemerkte zu den Vorwürfen, Kronstadt stehe in Verbindung zu zaristischen Generalen ironisch: „Dies sind unsere Generale, meine Herren Trotzki und Sinowjew, während die Brussilows, die Kamenews, die Tuchatschewskis und die anderen Berühmtheiten des zarischen Regimes auf Ihrer Seite sind.“

Die Propaganda der Bolschewiki

Die Bewertung des „Aufstands von Kronstadt“ durch die Bolschewiki (she. dazu v.a. Trotzkis Schrift „Das Gezeter um Kronstadt“) beinhaltet v.a. folgende Thesen (neben der schon behandelten fraglichen Behauptung, dass die Garnison eine ganz andere gewesen wäre als 1917): 1. Kronstadt wäre ein Aufstand gewesen; 2. das Programm der Kronstädter sei konterrevolutionär; 3. die Führung stünde in Verbindung mit der ausländischen Konterrevolution und wäre von ihr (in Gestalt eines ehemaligen zaristischen Generals) infiltriert; 4. wäre es nötig gewesen, den Aufstand schnell niederzuschlagen, weil Kronstadt ansonsten zum Ausgangspunkt einer imperialistischen Aggression geworden wäre.

Um es gleich vorweg zu nehmen: alle diese Vorwürfe sind falsch und widersprechen sowohl den historischen Fakten und Zeugnissen wie auch der Logik und stellen nichts anderes dar als Vorwände, um die Opposition niederzuschlagen, die Macht der Partei zu sichern und einen Kurswechsel in Richtung Reorganisation des Sowjetsystems und der Gesellschaft zu verhindern.

Zur ersten These: Kronstadt war zunächst nichts anderes als eine organisierte politische Opposition, die formell nicht verboten war. Es gab anfangs weder eine Entmachtung der örtlichen militärischen und zivilen Machtorgane noch einen Aufruf zum Aufstand, zum Sturz der Regierung o.ä. Die Absicht der Kronstädter – wie auch der Streikenden in Petrograd – bestand darin, eine Korrektur der Politik der Bolschewiki zu erreichen und darüber mit der Führung zu diskutieren. Die offizielle Reaktion der Bolschewiki darauf war (parallel zur Niederwerfung der Streiks) die Entsendung einer Delegation nach Kronstadt. Diese agierte ausgesprochen dumm und anmaßend – ein unmissverständliches Zeichen für das bereits fest etablierte „Selbstbewusstsein“ der herrschenden Bürokratie. Die Delegation forderte Kronstadt ultimativ zur Aufgabe auf und goss somit noch Öl ins Feuer. Sinowjew, der Parteichef von Petrograd, der ursprünglich selbst nach Kronstadt fahren sollte, hatte sich davor gedrückt.

Auf diese Episode folgte von Seiten der Bolschewiki eine massive Verleumdungskampagne gegen die Kronstädter und ihre Delegation aus Matrosen wurde sofort verhaftet. Erst danach, als klar war, dass ein „Dialog mit der Macht“ unmöglich und eine offene Konfrontation unabwendbar war, wurde aus der Kronstädter Opposition ein Aufstand.

Auch bei der letztlich erfolgreichen militärischen Niederschlagung des Aufstands zeigte sich die politische Dimension der Kronstädter Episode. Viele Rotarmisten, die gegen Kronstadt geschickt wurden, liefen über, so dass erst der massive Einsatz von Tscheka-Einheiten hinter den Angreifern, die mit MG-Salven die eigenen Truppen ins Feuer zwangen und jeden, der „schlapp machte“, erschossen, brachte den Umschwung. Kronstadt erlebte so zum ersten Mal diese „Repression von hinten“ durch die Geheimpolizei-Einheiten, die die Soldaten der Roten Armee im 2. Weltkrieg sehr häufig erleben mussten. Nach der Eroberung Kronstadts nahmen die Sieger blutige Rache an Soldaten und ZivilistInnen. Die für die Bolschewiki ärgerliche, für die Massen aber dafür umso „lehrreichere“ Episode Kronstadt war vorbei. Es war ein blutiges Exempel für alle, die ein andere Auffassung als die Bolschewiki davon hatten, wie ein Arbeiterstaat aussehen soll.

Die Behauptung vom konterrevolutionären Charakter des Programms der Kronstädter ist vollends unhaltbar – abgesehen von der schon erwähnten Forderung nach „Sowjets ohne Bolschewiki“ oder  „ohne Parteien“. Doch diese Forderung war nur eine unter vielen, auch nicht unbedingt die zentrale und wurde auch nicht von allen Oppositionellen mitgetragen. Im Grunde forderten die Kronstädter die Wiederherstellung und Reorganisation des politischen und administrativen Systems, das die Revolution getragen hatte und das unter den Bedingungen des Bürgerkriegs stark beschädigt worden war. Im Unterschied zu den offiziellen Statements etwa von Lenin, dessen Einschätzung des Zustands des Sowjetsystems jener der Opposition durchaus ähnlich war, schlug die Opposition jedoch konkrete und durchgreifende Maßnahmen vor, während sich die „offizielle Politik“ meist in Worthülsen erschöpfte, denen nichts folgte.

Dabei zeigt sich auch, wie einseitig die Auffassung Lenins von der führenden Rolle der Partei ist, denn – in Wirklichkeit auch schon während der Revolution – war die Partei weder fehlerfrei, noch einheitlich noch immer der treibende Faktor der Ereignisse. Vielmehr gab es eine Wechselwirkung von Partei und Klasse. Das vertrat ganz allgemein auch Lenin, doch für ihn resultierte daraus das Recht und die Pflicht der Partei, sich über die Klasse zu stellen und an deren Stelle zu regieren. Die Autorität – sprich die Macht – der Partei sollte unangefochten sein. In Ansätzen schien das bereits in „Staat und Revolution“ auf, in der Praxis war es vollends unübersehbar. Hier gibt es tatsächlich eine praktische wie konzeptionelle Schnittmenge mit dem späteren Stalinismus, ohne dass dieser jedoch aus dem „Leninismus“ folgen musste noch mit diesem identisch ist, wie viele Kritiker der Bolschewiki fälschlich behaupten.

Natürlich waren die Kronstädter wie auch die Streikenden in Petrograd politisch uneinheitlich und manche ihrer Vorstellungen waren diffus. Das war jedoch kein Wunder, da es keine legale oppositionelle Partei gab, die eine öffentliche Diskussion und eine politische Systematisierung hätte bewirken können und auch die Bolschewiki diese Aufgabe nicht ausfüllten. So gab es bei der Opposition neben richtigen und fortschrittlichen Vorstellungen auch falsche, unklare und reaktionäre. Das Bild ähnelte insofern durchaus dem, das die Sowjets 1917 boten.

Zum dritten Argument. Es stimmt, dass es in Kronstadt auch den ehemaligen Zarengeneral Koslowski gab. Doch dieser wurde an führender Stelle, als Artilleriekommandeur der Festung, von der Roten Armee eingesetzt und nicht von der Opposition. Eine bemerkbare Rolle in der Kronstädter Bewegung spielte er nicht. Es war auch nicht selten, sondern sogar häufig der Fall, dass Kader des alten Zaren-Regimes aus Opportunismus, aus Nationalismus o.a. Überzeugungen loyal zur Revolution standen. Insofern sagt die Tatsache, dass Koslowski ein Zaren-General war, nicht sehr viel aus.

Wie verschiedene Dokumente belegen, gab es tatsächlich informelle Beziehungen zwischen Kronstadt und der ausländischen Konterrevolution. Es ist schließlich auch nur normal, dass diese immer in den Startlöchern sitzt, um Konflikte und Opposition im Arbeiterstaat für sich auszunutzen. Aber auch in der Führung der Bolschewiki saßen seit ihrer Konstituierung 1903 immer Spitzel der zaristischen Geheimpolizei Ochrana, doch niemand kam je auf die Idee, die Bolschewiki deshalb „konterrevolutionär“ zu nennen. Genauso absurd ist es, von einer Verbindung „der Kronstädter“ zum Imperialismus zu schließen. Schon gar nicht kann ein einzelner General als Beleg dafür genommen werden. Auch wurden einzelne Verbindungen zu konterrevolutionären Exil-Kreisen erst nach der Niederschlagung Kronstadts und etliche Dokumente sogar erst Jahrzehnte später bekannt – Trotzkis konnte sei also gar nicht kennen. Seine „Verschwörungstheorie“ damals war reine Propaganda. Interessant ist zudem, dass nie ernsthaft behauptet wurde, dass die Streikenden in Petrograd, die ja dasselbe Programm hatten, Verbindungen zum Ausland gehabt hätten.

Zu Punkt 4. Der Angriff auf Kronstadt wurde auch damit begründet, dass es nach der Eisschmelze im März/April schwer möglich sei, die Seefestung Kronstadt einzunehmen, was zutrifft. Daraus wurde nun aber gefolgert, dass Kronstadt dem Imperialismus in die Hände fallen und für diesen als Stützpunkt für eine erneute Invasion genutzt werden könnte.

Zunächst spricht nichts dafür, dass die Kronstädter ihre Festung dem Imperialismus übergeben hätten. Doch selbst wenn, stellt sich die Frage, ob Kronstadt rein militärisch gesehen als Ausgangspunkt einer Invasion geeignet gewesen wäre, und ob der Imperialismus, gerade nachdem er den Bürgerkrieg gegen Sowjetrussland verloren hatte, bereit und in der Lage war, erneut zuzuschlagen – gegen eine der stärksten Militärmächte der Welt. Beides ist mehr als unwahrscheinlich.

Die zwei möglichen Varianten der Entwicklung – wenn die Rote Armee Kronstadt nicht besiegt hätte – waren hinsichtlich des Imperialismus folgende: entweder Kronstadt kämpft gegen den Westen, dann wäre ihm die Rote Armee zu Hilfe gekommen und die Chancen einer imperialistischen Invasion wären auf Null gesunken. Oder die Kronstädter hätten dem Imperialismus die Tore geöffnet, dann hätte sich das ganze Land gegen sie gestellt. Trotzkis These von einer drohenden Aggression steht also auf sehr schwachen Füßen.

Wie lautet das Fazit aus Kronstadt? Ohne zwingenden Grund forcierten die Bolschewiki die Repression sowohl gegen die Streiks in Petrograd als auch gegen die Kronstädter Opposition und lehnten jede Form von Dialog ab. Unter fadenscheinigen Vorwänden wurden damit alle Versuche der ArbeiterInnen und der Massen, auf Probleme hinzuweisen und entsprechende Korrekturen der Politik und der gesellschaftlichen Strukturen zu erreichen, unterbunden. Der Eindruck des rein repressiven Vorgehens der Staatsmacht gegen die Oppositionen in Petrograd und Kronstadt (und wenige Monate zuvor gegen die anarchistische Machnobewegung und die Liquidierung ihrer Sowjetstrukturen) war bei den Massen allerdings fatal und unterminierte ihr ohnehin durch den Terror der Tscheka und den Bürokratismus schon stark angegriffenes Vertrauen in die Lenin-Regierung noch weiter.

Trotzdem gab es neben aller Unzufriedenheit über das herrschende Regime immer noch eine starke Verbundenheit mit den Bolschewiki als den Führern und Verteidigern der Revolution und die Hoffnung, dass mit dem Ende des Bürgerkriegs eine Verbesserung der Verhältnisse eintreten würde. Zudem war den Massen durchaus klar, dass viele Maßnahmen der Bolschewiki auch durch die  außergewöhnlichen und dramatischen Umstände, sozusagen objektiv, bedingt waren.

Das alles wirft die zentrale Frage auf, welche Veränderungen diese Verbesserungen der sozialen Lage und des Sowjetsystems hätten bewirken können? Da die Mitwirkung der Massen bei der Umgestaltung der Gesellschaft offenbar nicht erwünscht war, hing nun alles davon ab, welchen Kurs der im März 1921 tagende X. Parteitag der Bolschewiki einschlagen würde.

Der X. Parteitag

Der Partei unter Führung Lenins und Trotzkis stellten sich damals objektiv folgende aktuelle Fragen:

  • Wie konnte die am Boden liegende Wirtschaft wieder flott gemacht werden?
  • Wie sollte der Widerstand der Bauern überwunden und das Versorgungsproblem gelöst werden?
  • Wie konnte das Sowjetsystem revitalisiert werden?

Dass das System des „Kriegskommunismus“ mit seinen Repressionen und dem Administrieren von oben so nicht weitergeführt werden konnte – zumindest nicht, wenn man eine Entwicklung Richtung Kommunismus anstrebt – war vielen Bolschewiki durchaus klar. Allerdings gingen die Meinungen darüber, wie ein neuer Kurs aussehen solle, weit auseinander. Es gab auch einen Flügel, der den Kriegskommunismus weiterführen wollte und ihn überhaupt als „den“ Weg zum  Sozialismus ansah.

Der Parteitag war von zwei dominanten Themen beherrscht: der Umgang mit der „Arbeiteropposition“, einer Oppositionsplattform in der Partei, und die Frage der Einführung der „Neuen ökonomischen Politik“ (NÖP), die Lenin vorschlug.

Die „Arbeiteropposition“

Die „Arbeiteropposition“ (AO) war schon 1919 als Tendenz innerhalb der Bolschewiki gegen den „Kriegskommunismus“ entstanden. Daneben gab es auch andere Oppositionsgruppen, z.B. die „Demokratischen Zentralisten“. Die wichtigsten ProtagonistInnen der AO waren Alexandra Kollontai und Alexander Schljapnikow. Ihre Kritik richtete sich v.a. gegen den aufkommenden Bürokratismus und gegen die Einschränkungen der Demokratie. Die AO war der Meinung, dass die Kontrolle über die Wirtschaft in die Hände der Gewerkschaft gelegt werden sollte. Einfluss hatte die Opposition v.a. in der KP der Ukraine und in den Gewerkschaften.

Alexandra Kollontai schrieb dazu 1921 in „Was bedeutet die „Arbeiter-Opposition?“: „Die Partei, die an der Spitze eines Sowjetstaates mit sozial gemischter Bevölkerung steht, muss gewollt oder ungewollt den Forderungen des „haushälterischen Bauern“ mit seinen Tendenzen zum Kleineigentum und seinem Ekel vor dem Kommunismus sowie auch der großen Schicht der kleinbürgerlichen Elemente des früheren kapitalistischen Russlands, d.h. den verschiedenen Aufkäufern, Vermittlern, Kleinhändlern, Verkäufern, Handwerkern und kleinen Beamten, die sich den Sowjetorganen schnell angepasst haben, Rechnung tragen. Sie sind es nämlich in der Hauptsache, die die Sowjetinstitutionen als „Agenten“ des Kommissariats für Volksernährung, Intendanten der Armee oder als die gerissenen „Praktiker“ der verschiedenen Zentralen füllen. Es ist kein Zufall, dass im Kommissariat für Volksernährung 17% Arbeiter, 13% Bauern, ungefähr 20% Spezialisten und die übrigen mehr als 50% ehemalige Handwerker und ähnliches sind – „kleine Leute“, zumeist sogar Analphabeten demokratischer Herkunft, die aber mit dem Klassenproletariat, dem Schöpfer von Werten, den Arbeitern der Fabriken und Betriebe, nichts gemeinsam haben.“

Und weiter: „Die Intelligenz, die Spezialisten, die Geschäftsleute und das ganze Spießbürgertum, Lügenspezies schlichen nun langsam, aber sicher die ganze Stufenleiter der Sowjetorgane hinauf, und zum Schein, unter dem Deckmantel als „Spezialisten“, stellten sie sich abwartend zur Seite und ließen der Gestaltungskraft, dem Schöpfermut der vorangehenden Arbeitermassen, freie Bahn.“ Doch nach und nach wurde der „Schöpfermut der Arbeitermassen“ vom Apparat ignoriert, verdrängt und schließlich fast erdrosselt. Nicht genug damit: die Bürokratie eignete sich immer größere soziale und politische Privilegien an. Die hektische, gleichwohl aber höchst ineffiziente  Betriebsamkeit des riesigen aufgeblähten Apparats war auch damit verbunden, dass die Interessen  der Massen nicht zum Ausdruck kamen, geschweige denn befriedigt werden konnten.

Kollontai führt dazu aus: „Die Sowjetpolitik hat sich bis zur allerletzten Zeit durch das Nichtvorhandensein eines bedachten und voraussehenden Plans zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen ausgezeichnet. Alles, was auf diesem Gebiete getan wurde, wurde zufällig, in ihren Mußestunden, unter dem von den Massen selbst auf die betreffenden örtlichen Verwaltungen ausgeübten Druck hin getan. (…) Wir haben nicht mehr zur Steuerung der Wohnungsnot getan, als die Arbeiterfamilien in die unbequemen und schlecht für sie angepassten bürgerlichen Wohnungen eingesiedelt; und was noch schlimmer ist, wir sind bis jetzt noch nicht an die praktische Ausarbeitung eines Planes zur Reorganisation des Wohnungswesens gegangen. Zu unserer Scham sei es gesagt, dass nicht nur in Gott verlassenen Provinzen, sondern auch im Herzen der Republik, auch in Moskau, bis jetzt noch die stinkenden, übervölkerten unhygienischen Arbeiterkasernen existieren. Wenn man dort hineingeht, so hat man das Gefühl, als ob die Revolution gar nicht gewesen wäre … Wir alle wissen, dass das Wohnungsproblem in ein paar Monaten oder sogar Jahren nicht gelöst werden kann und dass unsere Armut die Lösung sehr erschwert. Aber die Tatsache einer immer wachsenden Ungleichheit zwischen der Lage der privilegierten Gruppen der Bevölkerung Sowjetrusslands und der Massenarbeiter, des „Rückgrats der Diktatur“, des Proletariats, nährt die wachsende Unzufriedenheit. Der Massenarbeiter sieht, wie der Sowjetbeamte, der „Mann der Praxis“, lebt, und wie er, der die Stütze der Klassendiktatur ist, selbst leben muss.“

Die AO zeichnete ohne Frage ein reales Bild der Lage und war die einzige Strömung in der Partei, die in der entscheidenden Frage – wie und ob das Proletariat zum Subjekt der Gesellschaft werden kann – eine richtige Position einnahm. Sie waren die Ersten innerhalb der Bolschewiki, die auf die Entartungstendenzen hinwiesen und dagegen einen systematischen Kampf in der Partei führten. Allerdings war die Politik der AO auch nicht ganz frei von einem gewissen abstrakten „Maximalismus“, der die konkreten Umstände nicht immer genügend berücksichtigte.

Richtig an den Auffassungen der AO war, dass sie eine Änderung der bürokratischen Leitungsmethoden der Betriebe und eine Revitalisierung der direkten Einflussnahme der ArbeiterInnen auf die Betriebe forderten. Ein Mangel ihrer Auffassungen aber war u.a., dass sie den Begriff der „Arbeiterkontrolle“ selbst auch einengte. Die Gewerkschaften repräsentieren ja auch nur einen Teil der Arbeiterklasse und deren besondere Interessen als ProduzentInnen. Davon weichen die Interessen und sozialen Kompetenzen anderer Gruppen mehr oder weniger ab. So etwa das Interesse „des Staates“, also im Idealfall eines lebendigen Sowjetsystems, wo es um das Gesamtinteresse des Landes (oder gar der internationalen Revolution) geht. Auch die Interessen der  KonsumentInnen, die ja in Russland zu 90% Bauern waren, wichen von denen der ProduzentInnen bzw. der Betriebe ab, ja standen zu diesen tw. im Widerspruch.

Wenn es in einer nachkapitalistischen Wirtschaft v.a. darum geht – wie es Marx postulierte – , eine an den Interessen der Massen, also der KonsumentInnen, orientierte Gebrauchswert-Produktion zu etablieren, so konnte das kaum unter der „Allein-Regie“ der Gewerkschaften gelingen. Sinnvoller wäre ein Modelle der „Gewaltenteilung“ der Wirtschaftsverwaltung gewesen, das die Organe der Belegschaften („Betriebsräte“), die Gewerkschaften, Organe der KonsumentInnen und Organe der Sowjets (v.a. auf der höheren administrativen Ebene) miteinander verbindet, wie es tw. in der ungarischen Räterepublik versucht wurde. Doch abgesehen von solchen „Details“ gingen die Vorschläge der AO nicht nur in die richtige Richtung, sie waren in dieser Situation, nach Beendigung des Bürgerkriegs, auch objektiv realisierbar.

Wie reagierte die Partei darauf? Der entschiedenste Antipode der AO war Trotzki. Er plädierte dafür, das bürokratisch-administrative Vorgehen noch auszubauen und eine – wie er es selbst nannte – „Militarisierung der Arbeit“ einzuführen. Lenin und die Mehrheit des Parteitags lehnte dies zwar ab, jedoch stellten auch sie sich mehrheitlich gegen die AO. Auch die Vorschläge zu einer Demokratisierung wurden abgelehnt: demokratische Wahlen zu den Sowjets, Beendigung des Ernennungswesens, Pressefreiheit, Einführung rechtsstaatlicher Normen anstelle des Tscheka-Terrors usw. V.a. auch Lenin selbst forderte immer wieder rücksichtslose Härte. Diese weitgehende Außerkraftsetzung jeder Form von Demokratie zugunsten eines unkontrollierbaren allmächtigen bürokratischen Partei-Staates konnte und musste letztlich zu jenen Strukturen führen, die unter Stalin „normal“ wurden und ein Zerrbild des „Sozialismus“ schufen. Das Wesentliche daran war jedoch nicht das Fehlen von Demokratie „an sich“, sondern die Tatsache, dass damit die schöpferische Entfaltung der Arbeiterklasse als Subjekt der Entwicklung – die entscheidende Grundlage jeder Entwicklung zum Kommunismus – unmöglich gemacht wurde.

Der Parteitag lehnte nicht nur die Vorschläge der AO brüsk ab, auf Initiative Lenins wurde zudem noch ein Fraktionsverbot beschlossen. Auch wenn dieses nur eine vorübergehende Maßnahme sein sollte, diente sie objektiv der Verfestigung des Bürokratismus und der Ausschaltung der Massen als eines aktiven und selbstständigen Faktors der Gesellschaft. Das Fraktionsverbot offenbarte erneut die Einseitigkeit und den Formalismus des Leninschen Verständnisses vom Verhältnis Partei-Klasse-Staat. Trotz aller Bekenntnisse zur Sowjet-Demokratie bestand die Auffassung Lenins und der Bolschewiki immer darin, dass die Führung in den Händen der Partei und des mit ihr quasi verwobenen, extrem zentralisierten Staates liegen sollte, den die Massen aktiv unterstützen sollten.  Dieses „patriarchalische“ System degradiert die Massen tendenziell zum Objekt, während der Partei-Staat zum eigentlichen Subjekt wird. Hier finden wir einen entscheidenden Unterschied zu Marx. Immer wieder wies Lenin darauf hin, dass es die Aufgabe sei, in Russland einen Staatskapitalismus – freilich unter Kontrolle eines „proletarischen“ Staates – zu schaffen. Diese Aufgabe wurde erfüllt – wobei sich das „Proletarische“ sehr bald verflüchtigte.

Das Proletariat als auch die Bourgeoisie waren mit der Oktoberrevolution nach und nach als gesellschaftliche Triebkräfte eliminiert worden. An deren Stelle etablierte sich die Bürokratie, zuerst als Kaste, dann als neue herrschende Klasse. Aus einem Arbeiterstaat mit Deformationen wurde schließlich am Ende der 1920er Jahre eine staatskapitalistische Ordnung, die wesentliche Merkmale einer kapitalistischen Produktionsweise aufwies:

  • Herrschaft einer Minderheit, welche die Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts bestimmt;
  • Ausbeutung und Entrechtung der Bevölkerung;
  • Dominanz der Produktion über die Konsumtion;
  • allgemeine Warenproduktion (mit starken staatskapitalistisch-planwirtschaftlichen Elementen);
  • Lohnarbeitsverhältnis;
  • Staat als „Regulator“ der Gesellschaft;
  • konterrevolutionäre imperialistische Außenpolitik.

Diese „Systemänderung“ lässt sich an mehreren Ereignissen festmachen, die nach einer Periode von quantitativen Verschiebungen schließlich zu einer neuen sozialen Qualität führten:

  • das Ende der NÖP und der Beginn des 1. Fünfjahresplans, der die Tendenzen zum bürokratischen Administrieren, zur völligen Ausschaltung des Proletariats als Subjekt der Wirtschaft und zur Tonnenideologie vollständig durchsetzte;
  • die Zwangskollektivierung, die eine Enteignung der Bauern und die Verstaatlichung des Agrarsektors (in der besonderen Form von Quais-Genossenschaften) brachte;
  • der verstärkte Terror inkl. der Schauprozesse, der jede tatsächliche oder vermeintliche Opposition vernichtete und die Allein-Herrschaft Stalins als notwendige Bedingung der Herrschaft der Bürokratie, die aus einer Kaste zu einer Klasse geworden war, absicherte.
  • die Etablierung einer konterrevolutionären und imperialistischen Außenpolitik ab Mitte der 1930er Jahre.

Weder in den Strukturen noch in der geschichtlichen Tendenz oder in der Politik wurden aber jene Elemente sichtbar, die mit dem Marxschen Kommunismus etwas zu tun hatten: Gebrauchswertproduktion auf Basis der „genossenschaftlich-assoziierten“ ProduzentInnen, Aufhebung der überkommenen Arbeitsteilung, grundsätzliche Verkürzung des Arbeitstages, Überwindung der Entfremdung, Absterben des Staates usw.

Die AO lehnte die „Neue ökonomische Politik“ (NÖP) ab. Darin äußerte sich die Illusion, dass die russische Arbeiterklasse sofort und vollständig Produktion und gesellschaftliche Verwaltung übernehmen könne. Seit 1917 hatte sich jedoch gezeigt, dass die ArbeiterInnen aufgrund ihrer mangelhaften Bildung und ihrer fehlenden Erfahrung in Organisations- und Verwaltungsfragen dazu nur partiell befähigt waren. Das war auch ein Grund, weshalb die kollektive Leitung der Betriebe im „Kriegskommunismus“, die oft schlecht funktionierte, durch die Einzelleitung abgelöst wurde. Das Dilemma war aber auch dadurch entstanden, dass die Bolschewiki in sehr kurzer Zeit – und zudem noch ohne ein Konzept dafür zu haben – massenhaft Enteignungen durchgeführt und viele  Strukturen des sozialen Lebens, z.B. den Handel und das Finanz- und Steuersystem, zerschlagen hatten. So wurden dem Proletariat schlagartig Aufgaben übertragen, die es einfach überfordern mussten.

Die bolschewistische „Lösung“, um das selbst organisierte Chaos zu managen, bestand zuerst darin, einen neuen bürokratisch-zentralistischen Staat aufzubauen. 1921 kam dann die andere „Lösung“ hinzu: eine partielle Rückkehr zur Privatwirtschaft. Hauptverantwortlich für diese Entwicklungen war Lenin, dessen Konzeption von Überzentralismus, Parteiherrschaft (nicht zu verwechseln mit Führung) und Staatskapitalismus der Politik der Partei allem zugrunde lag.

Anstelle dieser Mischung aus „Großem Sprung“ und Konservierung von Elementen der bürgerlichen Gesellschaft, v.a. der Rolle des Staates, wäre es weit besser gewesen gewesen, die Wirtschaft nach und nach umzuwandeln, d.h. in die wirtschaftlichen und sozialen Mechanismen Schritt für Schritt planerische Elemente und Formen proletarischer Selbstverwaltung zu implantieren. Die Gewähr dafür – die politische, administrative und militärische Macht des Proletariats – war gegeben. Auch Marx sprach im „Kommunistischen Manifest“ nicht davon, dass alles Kapital sofort enteignet werden müsse, ja Marx und Engels betonten auch in anderen Schriften mehrfach, dass dem Kapital die Produktionsmittel „nach und nach“ entrissen werden müssen.

Die Umgestaltung der Ökonomie

 Schon während der Revolutionsmonate waren in den Betrieben Strukturen der Beschäftigten entstanden: Abteilungsversammlungen, Betriebs“sowjets“, Kontrollorgane usw. In den großen Betrieben, z.B. den Petrograder Putilow-Werken, arbeiteten tw. über 10.000 ArbeiterInnen. Das Sowjetsystem umfasste in solchen Betrieben oft viele Strukturen, die vertikal und horizontal gegliedert waren. Diese Organe waren das eigentliche Herz des Sowjetsystems, nicht die „zentralen“ Sowjets, die eher dessen Kopf darstellten. In den Betrieben wurde diskutiert, organisiert und mobilisiert. Ähnlich war es bei den Soldatenräten in der Armee. Die zentralen Sowjets z.B. einer Stadt waren demgegenüber keine Basis- sondern reine Delegiertenstrukturen. Zudem waren sie viel stärker als die Organe in den Betrieben von den Parteien „beschickt“ und beeinflusst.

Die zentralen Sowjets waren v.a. politische Organe, sie beschlossen die allgemeine Linie und die Massenaktionen. Die betrieblichen Organe hatten dagegen stärker praktischen Charakter. So war die in vielen Betrieben etablierte Arbeiterkontrolle über Produktion, Entlohnung, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen, Personalpolitik usw. 1917 nicht von „oben“ angeleitet, sondern weitgehend autark. Diese Arbeiterkontrolle entwickelte sich vielerorts dazu, dass die Belegschaft überhaupt die Produktion als Eigentümerin de facto, später auch de jure übernahm. Das Vorgehen der Bolschewiki bezüglich der Eigentumsfrage war widersprüchlich. Zunächst wurde die Übernahme von Betrieben durch die ArbeiterInnen anerkannt. Die generelle Enteignung des Kapitals – des großen wie des kleinen – erfolgte dann relativ schnell bis Anfang/ Mitte 1918. Tatsächlich gab es bei den Bolschewiki Teile, die eine schnelle und allgemeine Enteignung befürworteten, während andere diese Umwälzung nach und nach vollziehen wollten, je nachdem, wie „reif“ die einzelnen Betriebe bzw. ihre Belegschaften ihrer Meinung nach waren. Auch über die Frage, ob die Betriebe verstaatlicht oder selbstverwaltet geführt werden, die Partei uneins.

Die Leitung der Betriebe lag zuerst in den Händen von Betriebskomitees, die von der proletarischen Belegschaft gewählt waren. Eine allgemeine Planung der Wirtschaft gab es nicht und konnte es auch nicht sofort geben. Dass diese aber die Konkurrenzbeziehungen ablösen soll, war in den Bolschewiki allgemeine Auffassung. So wurden auch erste Gremien geschaffen, welche die Wirtschaft allgemein koordinieren und leiten und den Übergang zu einer Planwirtschaft schaffen sollten. Diese Gremien entstanden nun aber von Beginn an eben nicht aus den betrieblichen Basisstrukturen als deren Verallgemeinerung, sondern in Form von oben eingesetzter Organe.

Das Problem besteht hier nicht nur darin, dass damit deren demokratische Legitimierung fraglich war, sondern v.a. darin, dass ein falscher Wirkungszusammenhang entstand: nicht die ProduzentInnen, d.h. die Belegschaften, in Kooperation mit den KonsumentInnen, sondern ein abgehobenes bürokratisches Gremium bestimmte über die Produktion. Solche Gremien verfügten aber weder über Kenntnisse über die konkrete Produktion, noch konnten sie die Interessen der VerbraucherInnen vertreten. Selbst von einem Überblick über die Gesamtwirtschaft konnte kaum die Rede sein. Die Voraussetzung dafür wäre nämlich gewesen, dass es eine reale wirtschaftliche Rechnungsführung gegeben hätte, mittels derer man eine genaue Quantifizierung der Produktion auf allen Ebenen hätte vornehmen können. Der Kapitalismus hat dafür ein doppeltes Wert-System entwickelt: einerseits plante und registrierte man Ressourcen (Material, Maschinerie, Arbeitszeit usw.), andererseits die Kosten dieser Faktoren. Diese doppelte Sach- und Wertplanung erlaubte eine sehr genaue Analyse und Steuerung der Produktion. Allerdings wurde das auf der Ebene der Makro-Ökonomie wieder unterlaufen, indem die Konkurrenz, die Krisen und überhaupt die Produktion für einen tw. unbekannten Markt die Planung konterkarierte.

Eine nachkapitalistische Wirtschaft hätte nun auf dieser bürgerlichen Sach- und Wertplanung aufbauen können und müssen, um auf dieser Basis nach und nach eine allgemeine Planwirtschaft zu etablieren. Dabei hätte man die Wertseite, das Geld, perspektivisch durch eine Arbeitszeitrechnung ersetzen müssen. Diese hätte leicht auf Basis der bereits vorhandenen bürgerlichen Sach- oder Ressourcenplanung erfolgen können. Alle ArbeiterInnen wissen genau, wie viel Material, Energie, Zeit usw. sie für einen Produktionsschritt benötigen. Von dieser Basis ausgehend – und nur so – ist es möglich, eine allgemeine Wirtschaftsplanung zu etablieren. Keine noch so gute Bürokratie kann diese Aufgabe erfüllen. Durch den weitgehenden Entzug der Verantwortlichkeit der Belegschaft über ihren Betrieb und dessen Produktion verlor sie auch das Interesse, die Produktion rationell zu organisieren und zu verbessern – und gerade dafür war die Bürokratie völlig ungeeignet.

Die Einführung der NÖP

In Folge der städtischen Hungerproteste und Bauernunruhen sowie wegen der darnieder liegenden Wirtschaft des Landes entschloss sich die Sowjetregierung am 23. März 1921, den „Kriegskommunismus“ zu beenden und die „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP) einzuführen.

Besonders bizarr erscheint nun die Einführung der NÖP angesichts der Forderungen der „aufständischen“ ArbeiterInnen und der Kronstädter. Während ihre Forderungen nach mehr Demokratie abgelehnt wurden, ja die Weiterführung des Terrors und des Administrierens von oben durch Lenin sogar noch betont wurde, wurden zugleich erhebliche Zugeständnisse an die Bauern und das Bürgertum gemacht. Die NÖP beendete die Zwangsrequirierungen von Getreide und ersetzte sie durch eine Naturalsteuer. Der private Handel mit Agrarprodukten wurde – neben, nicht anstatt des staatlichen Handels – wieder erlaubt. Auch das Privateigentum in der Kleinproduktion wurde wieder zugelassen. Der Bereich der staatlichen Wirtschaft freilich blieb bestehen – mitsamt der bürokratischen Wirtschaftsleitung.

Lenin bezeichnete die NÖP durchaus korrekt als zeitweiligen Rückzug, als Zugeständnis, als Kompromiss. Die Kurskorrektur der NÖP war zweifellos notwendig, um die Wirtschaft durch mehr private Eigeninitiative und Eigeninteresse anzukurbeln und das Hungerproblem zu lösen. Dass damit dem Privateigentum mehr Spielraum gegeben und die soziale Differenzierung zunehmen würde, war Lenin klar. Doch es gab keinen anderen Weg zur Sanierung der Wirtschaft, da das Proletariat ausgelaugt war und sich wenig in der Lage gezeigt hatte, Industrie und Gesellschaft sofort in Eigenregie zu übernehmen. Zudem war der „proletarische“ Staat offenkundig überhaupt nicht im Stande, auch nur irgend einen Bereich – von den militärischen und Sicherheitsfragen abgesehen – vernünftig und effizient zu regeln.

Der Verlauf der NÖP gab Lenin recht: die Wirtschaft erholte sich, der Hunger war fast binnen Jahresfrist besiegt. 1925 war das Konsumniveau des Vorkriegs wieder erreicht, auch wenn die Versorgungslage angespannt blieb. Die Bauern beendeten ihren Anbau-Boykott und konnten ihre Mehrproduktion über das Ablieferungssoll hinaus auf dem freien Markt verkaufen. Mit der NÖP entstand bzw. vergrößerte sich aber auch die Schicht von wohlhabenden Kleinbürgern, Mittelbauern – später Kulaken genannt -, Händlern und Kleinunternehmern, die „NÖP-Leute“.

Die NÖP bedeutete die Wiederzulassung von Privatwirtschaft, Privathandel und ausländischen Investoren. Doch während der Handel bald zu 80% wieder in privater Hand war, blieben ausländische Investoren aus. Die wenigen vergebenen Lizenzen dienten meist der Rohstoffausbeutung, v.a. dem Holzeinschlag. In den Fabriken und Industriebetrieben wurden unter der Aufsicht „roter Direktoren“, meist Revolutions- oder Bürgerkriegsveteranen, die alten Chefingenieure und das frühere technische Personal wieder eingestellt. Mehrere tausend, meist kleinere Betriebe wurden an die ehemaligen Besitzer verpachtet.

Die NÖP forcierte auch eine Reihe von Sozialprogrammen. Der Volkskommissar für Volksaufklärung A. Lunatscharski startete eine Kampagne gegen den Analphabetismus und es wurden Arbeiterfakultäten gegründet, wo ArbeiterInnen, die oft nur eine vierjährige Dorfschule besucht hatten, in zwei Jahren auf ein Hochschulstudium vorbereitet wurden. Die erste Volkskommissarin A. Kollontai initiierte u.a. ein Mutterschutzprogramm und die Gründung von „Frauenabteilungen“.

Konzeptionelle Fehler

Die politisch heikle, aber wirtschaftlich erfolgreiche NÖP offenbarte auch viele fragwürdige Aspekte, ja Fehler der Politik der Bolschewiki in den Jahren zuvor. So hätte eine klare Besteuerung der Bauern und der Verzicht auf die Zerschlagung des privaten Handels den Produktionsrückgang und die Zwangsrequirierungen vermindern können. Doch anstatt einer der Realität angemessenen, auf schrittweise Reformen setzenden Politik, handelten die Bolschewiki nach dem Motto „Alles sofort und so rigoros wie möglich“. Das galt auch für die Industrie. Der Niedergang der Industrie in Sowjetrussland von 1917-21 ist weltgeschichtlich fast ohne Beispiel – und er war nur teilweise durch den Bürgerkrieg verursacht. Schon 1917 begann die Enteignung der Bourgeoisie und die Übernahme der Kontrolle der Produktion durch die Beschäftigten. Letztere wurde allerdings bereits 1918 wieder massiv eingeschränkt, indem die Betriebsleitung weitgehend in die Hände von staatlichen Kommissaren gelegt wurde, um die Versorgung der Roten Armee abzusichern. Der Grund dafür war aber nicht etwa die Umstellung der Produktion auf Rüstungsgüter, denn diese war ja schon 1914 erfolgt. Der wirkliche Grund war die Tatsache, dass die gesamte Industrie, der gesamte wirtschaftliche Kreislauf stark gestört war. Dies resultierte tw. aus der Sabotage der Kapitalisten und des Managements, tw. aus der mangelhaften Erfahrung der ArbeiterInnen, den Produktionsprozess und v.a. die Beziehungen zwischen den Betrieben zu regeln und in starkem Maße aus den abrupten Versuchen, die Verwaltung wirtschaftlicher Prozesse durch einen politischen Apparat zu organisieren.

Die „Lieblingsidee“ Lenins – eine hoch zentralisierte Staatswirtschaft nach dem Vorbild der deutschen Kriegswirtschaft (oder der hochbürokratischen Deutschen Post) – wurde versucht zu verwirklichen. Oft genug betonte Lenin, dass es darum ginge, einen Staatskapitalismus, aber unter der Kontrolle eines proletarischen Staates, zu errichten. Doch leider „übersah“ Lenin dabei einige wichtige Probleme: 1. war die deutsche Kriegswirtschaft gar kein Staatskapitalismus, sondern „Etatismus“, d.h. eine auf Privateigentum beruhende Wirtschaft mit stärkerem Eingreifen des Staates. 2. basiert auch die etatistisch gesteuerte Wirtschaft wesentlich auf Marktbeziehungen. 3.   verfügte Deutschland über einen zwar bürokratischen, aber letztlich effektiv arbeitenden, historisch „bewährten“ Staatsapparat. 4. war der – zeitlich und in jeder anderen Hinsicht begrenzte – Etatismus im kaiserlichen (und später im faschistischen) Deutschland nur eine Modifikation des wirtschaftlichen Mechanismus, der keine einzige ihrer Grundlagen abschaffte.

Die Bolschewiki führten ihre wirtschaftlichen Operationen am offenen Herzen aus – ohne über Erfahrungen oder ein Konzept dafür zu verfügen. Leider haben weder Marx und Engels noch deren Nachfolger etwas Relevantes dazu beigetragen, welches Wirtschaftsprogramm der Arbeiterstaat verfolgen sollte bzw. welche Probleme sich dabei stellen. Während Marx akribisch noch der tausendsten Verästelung der ökonomischen Theorie des Kapitalismus nachging, interessierte ihn das Schicksal der Ökonomie der Ökonomie im Arbeiterstaat kaum. Die Bolschewiki waren nun die ersten, die dieses Versäumnis von Marx, aber auch der II. Internationale, büßen mussten. Immerhin war klar, dass die Wirtschaft der Übergangsgesellschaft das Privateigentum, die Konkurrenz und die Profiterzeugung als treibendes Motiv überwinden mussten. Doch wie dieser Übergang erfolgen kann, wodurch die alte Wirtschaftsweise ersetzt werden soll, blieb weitgehend im Nebel.

Die Bolschewiki zerschlugen mit einem gewaltigen Hieb das Privateigentum in Industrie und Handel und zugleich alle wirtschaftlichen Zusammenhänge. Das war leicht – eine neue Struktur aufzubauen, ist hingegen eine langwierige und komplizierte Sache – umso mehr in einem rückständigen Land, das von Rückständigkeit, Krieg und Bürgerkrieg gebeutelt ist. Von einem derart sprunghaften Übergang war Marx nicht ausgegangen. Schon gar nicht war er der Meinung, dass der Staat als Lenker oder gar Eigentümer der Wirtschaft auftreten solle. Diese durchaus unmarxsche Idee entstammt der II. Internationale. Diese glaubte nämlich, dass bestimmte Tendenzen der kapitalistischen Wirtschaft (Konzentration und Zentralisation des Kapitals, wachsender Einfluss des Staates) „objektiv Richtung Sozialismus“ weisen und eine Form der Vergesellschaftung darstellen würden. Doch tatsächlich war diese „Vergesellschaftung“ durch die noch stärkere  Herrschaft von wenigen riesigen Finanzmagnaten und Kapitalverbänden geprägt, während der Einfluss der lohnabhängigen ProduzentInnen und KonsumentInnen immer noch marginal war. Doch diese falsche Analyse brachte Leute wie Hilferding oder Kautsky dazu anzunehmen, dass die Übernahme der Banken und des Staates (durch die Funktionäre der Arbeiterbewegung) der Weg zum Sozialismus wäre. An diesen Auffassungen der „Renegaten“ der II. Internationale gab es von Lenin nie Kritik, im Gegenteil: er versuchte sie treulich auch in Sowjetrussland zu verwirklichen. Das Ergebnis war die Abschaffung des Kapitalismus in Industrie und Handel im Eiltempo – nur trat an dessen Stelle nicht eine andere Struktur, sondern das blanke wirtschaftliche Chaos.

Die Umstellung einer wirtschaftlichen Struktur kann nur langsam erfolgen, jeder Schritt muss darauf hin überprüft werden, ob er wirklich die angestrebten Effekte bringt und welche Auswirkungen er auf den wirtschaftlichen Gesamtmechanismus hat. M.a.W: es geht nicht um eine Revolutionierung der Wirtschaft, sondern um einen Reformprozess. Das unterscheidet die Wirtschaft – wie auch alle anderen Bereiche der Gesellschaft – von der politischen Ebene und der Staatsmacht. Der qualitative „revolutionäre“ Umschlag drückt sich darin aus, dass das Proletariat die bürgerliche Staatsmacht zerschlägt und selbst die Macht übernimmt. Wir sprechen hier bewusst nicht von der „Eroberung der Staatsmacht“ wie so viele MarxistInnen, da es ja gerade darum geht, den bürgerlichen Staat nicht zu übernehmen, sondern ihn zu zerschlagen und einen neuen, in Funktion und Struktur völlig anderen „Staat“ aufzubauen, der sich auf Räte, Milizen und Selbstverwaltungsorgane stützt und bürokratische Staatsstrukturen so weit wie möglich und immer weiter zurückdrängt.

Die Bolschewiki entschieden sich dafür, die Wirtschaft zu „revolutionieren“ anstatt sie zu reformieren. Natürlich ist die Enteignung des Kapitals dabei unabwendbar, jedoch betrifft das v.a. das Groß- und Finanzkapital und zentrale Bereiche der Wirtschaft wie Transport, Energie, Kommunikation usw. Es ist jedoch absurd, sofort jeden Kleinkapitalisten, Händler oder Handwerker zu enteignen. Auch Elemente der Planung können nur nach und nach in das Wirtschaftsgefüge implantiert werden. Das Management über die Betriebe und deren Zusammenwirken mit anderen  muss, ausgehend von Kontroll- und Vetorechten der Beschäftigten, zu einem ganzen System der ökonomischen Planung und Leitung ausgebaut werden. Es muss von unten nach oben wachsen. Diesen Weg haben die russischen ArbeiterInnen in und nach der Revolution auch beschritten. Es war der Einfluss der Bolschewiki und ihrer „Konzepte“, die schon sehr früh zu einem Abweichen von diesem Weg der Selbstorganisation, des Lernens und Hineinwachsens in die neuen Aufgaben führten. Zuerst neben, später gegen die Ansätze von Selbstorganisation übertrugen die Bolschewiki – genauer ihre Führung und insbesondere Lenin selbst – diese Aufgaben dem Staat und seinen hunderten Volkskommissariaten und Ämtern, die nicht oder kaum von unten gewählt, kontrolliert und mit einem bestimmten Auftrag versehen waren. Es erfolgte von oben: noch nicht einmal innerhalb der Partei, geschweige denn innerhalb der Klasse galten die Prinzipien der Arbeiterdemokratie oder des „Demokratischen Zentralismus“, sondern ein bürokratischer Dirigismus.

Der bolschewistische Staat

Der von den Bolschewiki in kürzester Zeit geschaffene neue Staatsapparat war – insbesondere die Verwaltung und die Tscheka – nicht nur viel größer als der zaristische, er hatte auch weit größere Vollmachten und war im Grunde für alle Bereiche der Gesellschaft zuständig. Es fand insofern eine weit umfangreichere Verstaatlichung statt als nur die in der Wirtschaft. Dieser neue, mit der Partei strukturell und personell eng verwobene Staatsapparat übernahm recht bald alle Zuständigkeiten und traf alle wichtigen Entscheidungen. Im Zuge dessen wurden wurden die Räte- und Selbstverwaltungsstrukturen immer unbedeutender, immer mehr an den Rand gedrängt und letztlich – lange vor der Diktatur Stalins – praktisch entmachtet.

Die innere Funktionsweise des Apparats war durch zwei Merkmale geprägt: die Disfunktionalität (um das Wort Chaos zu vermeiden) und den bürokratischen Zentralismus. Eine immer größer werdende Zahl von Ämtern, Behörden, Ausschüssen und Sonderkommissionen überzog das ganze Land wie ein Spinnennetz – nur dass sich die Spinnen in ihrem eigenen Netz verfingen. Ein erheblicher Teil des Apparats beschäftigte sich mit sich selbst und den vom Apparat erzeugten Problemen. Es war gerade Lenin, der den Aufbau dieses staatlichen Monsterapparates forcierte und zugleich am heftigsten und mit einem kaum zu überbietenden drastischen Ton den Bürokratismus und die Ineffizienz „seines“ Staates kritisierte, ja verurteilte.

Oft richtete sich die Kritik gegen die „alten Elemente“, die in den Staatsapparat übernommen worden waren. Doch diese arbeiteten nicht nur – mehr oder weniger gezwungen – durchaus loyal. Lenin selbst betonte oft, dass die Staats- und Parteifunktionäre „die besten Elemente des russischen Proletariats“ verkörperten. Diese Einschätzung stimmt sicher, sagt allerdings fast gar nichts darüber aus, welche Qualifikation sie für ihre gänzlich neue Aufgabe, die Entwicklung zum Sozialismus, haben. In der Tat sah es damit schlecht aus. Das Bildungsniveau war oft sehr niedrig und praktische „Verwaltungs-Erfahrungen“ waren fast nicht vorhanden. Hier zeigt sich, wie fatal sich das Fehlen bestimmter sozialer Fähigkeiten, über die das westeuropäische Proletariat in weit höherem Maße verfügte, auswirkt. Ein Problem des bolschewistischen Staatsapparates bestand also darin, dass man für den riesigen, überaus komplizierten Apparat schlicht kein geeignetes Personal fand.

Das zweite, vielleicht noch größere Problem, bestand darin, dass es objektiv gar nicht möglich war, die Wirtschaft von oben bürokratisch zu lenken. Das konnte umso weniger funktionieren, nachdem der gesamte „traditionelle“ Wirtschaftsmechanismus zerstört worden und zusätzlich durch den Bürgerkrieg beeinträchtigt war. Allenfalls hätte ein „vorsichtiges“, erst nach und nach erfolgendes Einfügen von Plan-Elementen funktionieren können.

De facto wurde der Staatsapparat von der Parteispitze und oft genug von Lenin, dem Staatschef,  persönlich angeleitet. Irgendein demokratisches Prozedere gab es nicht. Auch die Regierung, der „Rat der Volkskommissare“ (RdV), war nie gewählt worden. Er wurde als provisorisches geschäftsführendes Gremium von den Bolschewiki (anfangs mit den linken Sozialrevolutionären) eingerichtet, nachdem die Bolschewiki die Konstituante sofort nach dem Oktoberumsturz aufgelöst hatten. Der RdV unterstand immer der Partei bzw. der Parteiführung und gehorchte deren Ideologie, er war nie von der Arbeiterklasse bzw. deren demokratischen Organen gewählt oder auch nur kontrolliert.

Nun wird dazu oft von Verteidigern der Bolschewiki – weitgehend zu recht – eingewendet, dass unter den konkreten Bedingungen des „Kriegskommunismus“ im Bürgerkrieg ein anderes Vorgehen gar nicht möglich gewesen wäre. Tatsächlich mussten die ohnehin schwachen Ressourcen des Landes rigoros gebündelt werden, um den Bürgerkrieg zu gewinnen. Und der Sieg der Roten Armee spricht durchaus dafür, dass das relativ effizient erfolgte. Doch nach dem Sieg, Anfang 1921, änderten sich die Bedingungen und die Aufgaben grundsätzlich.

Der X. Parteitages hat die Probleme Sowjetrusslands durchaus intensiv und kontrovers diskutiert, ganz im Unterschied zu späteren Parteitagen in der Stalin-Ära, die eher dafür da waren, dem großen Führer Ovationen zu bringen und ein Zerrbild der Realität zu vermitteln.

Wenn wir uns jedoch die Beschlüsse des Parteitags und die praktische Politik der folgenden Monate und Jahre anschauen, dann wird klar, dass es gerade in der Frage der Revitalisierung des Sowjetsystems und der Demokratie keinen Schritt nach vorn gab – im Gegenteil: der praktischen Niederschlagung jeder linken Opposition und jedes eigenständigen Agierens der Klasse folgte die politische Fortsetzung in Gestalt des Verbots der Fraktionen, der weiteren Einschränkung, wenn nicht Ausmerzung der Demokratie und des „Rechtsstaates“.

In den wenigen verbleibenden Monaten bis zu seinem gesundheitsbedingten Ausscheiden aus der Politik ab Mitte 1923 und seinem Tod im Januar 1924 war es auch wieder Lenin, der nicht müde wurde, auf das Problem der zunehmenden Bürokratisierung hinzuweisen und Maßnahmen dagegen vorzuschlagen. Doch vieles davon ähnelt den verzweifelten späteren Versuchen Gorbatschows, den Apparat mittels des Apparats zu heilen. Immer wieder beklagte Lenin das mangelnde Kulturniveau der Klasse, der Partei und der Gesellschaft insgesamt. Als jedoch z.B. Kautsky auf dieses Problem (und die fehlende objektive Basis einer sozialistischen Revolution) hinwies, beschimpfte ihn Lenin nicht ganz zu unrecht als konterrevolutionären Renegaten – um später selbst zumindest in Teilen dessen Diagnose zu teilen. Kautsky irrte sich darin, dass er aus dem mangelhaften „Kulturniveau“ des russischen Proletariats und dem niedrigen sozialen Level Russlands den Schluss zog, dass deshalb ein sozialistische Revolution nicht möglich wäre. Lenin wiederum irrte darin, dass er glaubte, man könne diese Probleme quasi in einem großen Sprung lösen, der unter der Regie des Staates erfolgt. Das Marxsche „Nach und nach“ der gesellschaftlichen Entwicklung in der Übergangsgesellschaft wäre genau das Rezept gewesen, mit dem die Veränderung der Verhältnisse mit der Veränderung der Klasse, seiner Entwicklung zum Subjekt hätte verbunden werden können. Statt spielten die Bolschewiki die Rolle der „rabiaten Umstürzler“ und versuchten, dass entstandene Tohuwabohu mittels des Staates zu lösen – ein tragischer Irrtum!

Auch Lenins (zu) späte Erkenntnis der Bedeutung des Genossenschaftswesens verweist darauf, dass er sich unter dem Eindruck der „verkorksten“ Situation des nachrevolutionären Sowjetrusslands weit von einigen seiner ursprünglichen Auffassungen entfernt hatte.

Eine ernüchternde Bilanz

Im Frühjahr 1921 stand Sowjetrussland an einem Scheideweg. Die inneren Widersprüche in Gestalt von Bauernaufständen, Massenstreiks und der Revolte von Kronstadt brachen offen aus – und wurden von den Bolschewiki mit Gewalt unterdrückt. Eine Lösung der angestauten Probleme brachte es nicht, das konnte und musste konzeptionell der 10. Parteitag im März 1921 erledigen. Mit dem Sieg im Bürgerkrieg und der Ausschaltung jeder gesellschaftlichen Opposition war die Machtstellung der Bolschewiki so stark und alternativlos wie seit dem Oktober 1917 nicht mehr. Jedoch bestand ihre Stärke im Oktober in der Unterstützung durch die revolutionären Massen, während diese 1921 in Folge von Hunger, Not und Repressionen zu den Bolschewiki auf Distanz gegangen waren, ja sich  tw. gegen sie gestellt hatten. Die Macht der Partei lag nunmehr weitgehend darin, dass Lenins Partei alle staatlichen Machtpositionen besetzte und über einen riesigen Militär- und Sicherheitsapparat verfügte. Letzteres war in einer Situation, wo es um die Verteidigung der Macht ging, entscheidend.

Doch ab Frühjahr 1921 begann eine neue Periode: der wirtschaftliche Wiederaufbau und die Entfaltung der schöpferischen Potenzen der Gesellschaft für den Aufbau des Sozialismus. Diese Entwicklung konnte zwar nur auf Grundlage einer „schlagkräftigen“ Landesverteidigung durchgeführt werden, doch für die eigentliche soziale Entwicklung brauchte es die Schöpferkraft von Millionen von ArbeiterInnen, Bauern, TechnikerInnen und WissenschaftlerInnen. Soziale Kreativität kann aber nicht erzwungen oder administriert werden – sie setzt ein hohes Maß an Freiheit, an demokratischen Möglichkeiten und Freiräumen voraus. Die Revolution hatte mit den proletarischen Basisstrukturen, mit den Sowjets und diversen Selbstverwaltungsstrukturen schon viele – nicht alle – Elemente hervorgebracht, die dafür notwendig sind. Allerdings war dieses „Rätesystem“ noch wenig entwickelt und brach zudem noch unter dem unerhörten Druck des Bürgerkriegs und der Krise fast zusammen.

Die Aufgabe bestand nun wesentlich darin, das Sowjetsystem wieder zu reaktivieren und die – teilweise objektiv bedingten – Fehlentwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft nach und nach zurückzudrängen. Das war sicher leichter gesagt als getan, doch der Parteitag hätte zumindest ein klares politisches Signal an die Massen geben müssen. Doch was waren die Signale des Parteitags in dieser Hinsicht? Reden über das revolutionäre Proletariat, während gleichzeitig jede selbstständige politische und soziale Regung in Blut erstickt wird. Mit dem Beschluss der NÖP wurden zudem noch Maßnahmen eingeleitet, die zuvor von den „konterrevolutionären“ Kräften in den Betrieben Petrograds und Moskaus und in Kronstadt gefordert worden waren. Ja, man ging noch über deren wirtschaftliche Forderungen hinaus. Doch die politischen Forderungen der Massen nach mehr Demokratie, nach einem Kampf gegen die aufkommende Bürokratie und deren Methoden wurden nicht aufgenommen. Im Gegenteil: die Notwendigkeit einer „harten Linie“ wurde erneut betont, keine einzige konkrete Maßnahme wurde beschlossen, um die bürokratischen Entartungen zu bekämpfen und die Einflussmöglichkeiten der Massen zu verbessern.

Der Parteitag hatte zwar einige Erwartungen der Massen hinsichtlich der wirtschaftlichen Veränderungen erfüllt, jedoch alle politischen Hoffnungen enttäuscht. Die Folge war, dass das Proletariat in passivem Gehorsam verharrte. Das schloss oftmals echten Enthusiasmus beim wirtschaftlichen Aufbau nicht aus, jedoch war dieser Enthusiasmus nie wieder damit verbunden, für Räte-demokratische Strukturen zu kämpfen. Die Arbeiterklasse war von der politischen Bühne die sie 1917 selbst errichtet hatte, vertrieben worden – von der Partei, die sie auf die Bühne gestellt hatte.

Die folgenden 1920er Jahre sahen dann – notwendigerweise – die Kräfte gestärkt und selbstbewusst voran schreiten, denen der X. Parteitag den Weg bereitet hatte: die Bürokraten im Staats- und Parteiapparat. Nachdem 1917 der Zarismus, der Adel und gleichzeitig die Bourgeoisie entmachtet worden waren, erfolgte nach 1917 ein Prozess der Entmachtung des Proletariats durch die neue Bürokratie. Diese Entmachtung war nicht nur eine politische, sie war auch und – vor allem – eine soziale Enteignung. Nachdem das Proletariat gerade begonnen hatte, seine neue Rolle als Eigentümer der Betriebe auszufüllen und die Position des Subjekts der Gesellschaftsentwicklung auszufüllen, wurde sie von Beginn an immer stärker von der neuen Bürokratie aus ihren gerade erreichten Positionen wieder vertrieben bzw. die Entscheidungsgewalt aus den Sowjetstrukturen in den Staatsapparat verlegt. Das entscheidende Subjekt der Sowjetunion, dem Land ohne Sowjets, wurde die Bürokratie.

Heute, 100 Jahre nach der Revolution, beweist das komplette Scheitern dieses Systems, dass der Sozialismus nicht aufgebaut werden kann, ohne dass die Arbeiterklasse die wirkliche Eigentümerin, das wirkliche Subjekt aller sozialen Prozesse ist. Die Bürokratie ist dazu unfähig. Sie konnte diese Rolle im Alten Ägypten spielen, als es um Bewässerung und Pyramidenbau ging; im Zeitalter der hochkomplexen Industrieproduktion, der Wissenschaft und des Internets ist das ein Anachronismus.

1921 stand die grundlegende Frage auf der Agenda, wer die Geschicke der Gesellschaft lenkt: das Proletariat und die Massen oder die Staats- und Parteibürokratie? 1921 und sogar noch bis Ende der 20er Jahre war diese Frage noch nicht endgültig entschieden, doch die einzigen Faktoren, welche den Aufstieg der Bürokratie zu einer neuen herrschenden Klasse noch hätten stoppen können, spielten keine Rolle mehr: das Proletariat und die internationale Revolution, die in Westeuropa für viele Jahre ausblieb und erst in den 1930ern wieder auf die Tagesordnung rückte. Doch da hatte die Bürokratie in der UdSSR längst gesiegt. Der X. Parteitag hatte, nach den Niederlagen des Proletariats in Petrograd und Kronstadt, die Weichen so gestellt, dass die Bürokratie sich endgültig durchsetzen konnte, ja musste. Der X. Parteitag der Bolschewiki war einerseits vom ehrlichen Ringen um den besten Weg zu Sozialismus geprägt, andererseits von fehlerhaften oder fehlenden Konzeptionen und von der aufkommenden Bürokratie. Nur wenige Jahre später saß die Bürokratie hoch zu Ross im Sattel – auf dem Rücken der proletarischen und bäuerlichen Massen und alle aufrechten RevolutionärInnen unter sich zertrampelnd.

2 Gedanken zu „1921: Revolution am Wendepunkt“

  1. Danke für den Kommentar. Im Artikel wird durchaus eingeräumt, dass die Maßnahmen der Bolschewiki bis 1921 weitgehend durch den Bürgerkrieg bestimmt und insofern oft gerechtfertigt waren. Aber nach dem Bürgerkrieg war ein andere Situation entstanden. Natürlich ging es ab da v.a. darum, den „Sozialismus“ bzw. Grundlagen dafür zu schaffen. Die zentrale Grundlage dafür aber ist die Machtausübung und die Möglichkeiten der sozialen Entfaltung für die Arbeiterklasse. Und gerade hinsichtlich dessen waren die Entscheidungen des X. Parteitags falsch. Die NÖP war ökonomisch notwendig, aber parallel hätte die Vitalisierung des Sowjetsystems und der -demokratie erfolgen müssen – es erfolgte nicht! Der X. Parteitag war der entscheidende Wendepunkt: die Entwicklung konnte bzw. musste so zum Stalinismus führen.

    Zur Frage der Isolation. Der Sieg im Bürgerkrieg und die Industrialisierung beweisen, dass die UdSSR auch ohne sofortige (Welt)revolution Bestand hatte. U.a. auch deshalb, weil Russland nicht irgendein Land war, sondern aufgrund seiner Größe objektiv über alle Ressourcen verfügte, die nötig waren, um Richtung Kommunismus ein gutes Stück voran zu kommen. Über ein Ressource verfügten sie leider nicht: über eine brauchbare Konzeption dafür.

  2. Kommentar zu: 1921 Revolution am Scheideweg.
    Zitat: “ 100 Jahre nach der Revolution beweist das komplette Scheitern dieses Systems, dass der Sozialismus nicht aufgebaut werden kann, ohne dass die Arbeiterklasse…das wirkliche Subjekt aller sozialer Prozesse ist.“ Dies ist selbstverständlich eine unumstößliche Tatsache, pardon, unter Marxisten eine Binsenwahrheit. Nur, in der jungen UDSSR ging es nicht um den „Aufbau des Sozialismus“, sondern um das verzweifelte Überleben der Revolution. Ein Kampf um Leben und Tot, in einem isolierten und rückständigem Land. Um den Sozialismus aufzubauen bedarf es zuerst der Weltrevolution. Insofern greift der Artikel zu kurz. Lenin betonte, dass die Revolution ohne einen Sieg in Deutschland verloren sei. Deshalb war und ist der Aufbau einer kommunistischen Internationalen von entscheidender Bedeutung, siehe hierzu die ersten Kongresse der III. Internationalen. Dieser zentrale Aspekt, das A und O von wirklichen Marxisten, wird leider nicht heraus gearbeitet. Statt dessen werden die Schwächen und Fehler der jungen Sowjetmacht aufgelistet. Korrekt, die Niederschlagung des Aufstandes in Kronstadt war m.E. ein trauriger Höhepunkt. Dem kann nicht widersprochen werden. Problematisch und falsch ist die Benennung der Ursache. Zitat: „Leider haben weder Marx und Engels noch deren Nachfolger etwas Relevantes dazu beigetragen, welches Wirtschaftsprogramm der Arbeiterstaat verfolgen sollte bzw. welche Probleme sich daher stellen“. Und: „Marx …interessierte …das Schicksal der Ökonomie im Arbeiterstaat kaum“.
    Erstens sind diese Aussagen falsch und zweitens unrichtig! Marx und Engels haben den Kampf der Pariser Arbeiter der Commune 1871 analysiert – auch kritisiert – und die Wirtschaftsdekrete (Brotpreis bsw.) ausdrücklich begrüßt. Eine universale Anleitung für zukünftige revolutionäre Wirtschaftspolitik ist daraus selbstverständlich nicht abzulesen, erst recht nicht für eine kommende Revolution, die im XX. Jahrhundert, d.h. fast 50 Jahre später stattfand. Oder beklagt der Autor Marx mangelnder Hellseherei? Marx hat „lediglich“ einige grundlegende Schlussfolgerungen gezogen bezüglich der Schwäche der Arbeiter, es gab in Paris noch kein modernes Industrieproletariat und der vollkommenden Isolation in einer Stadt.( Erhebungen wie bsw. in Lyon hier jetzt ausgeblendet.) D.h. Marx hat aufgrund der Erfahrung der 1. siegreichen Revolution in Paris das Programm modifiziert, sinngemäß: „seht her, das ist die Diktatur des Proletariats“. Das war die große Leistung von Marx. Die Lehren aus den Klassenkämpfen zu ziehen, sowie seine Nachfolger Lenin und Trotzki! Als polemische Überspitzung könnte man analog Hannes G. auffordern ein Wirtschaftsprogramm für eine siegreiche zukünftige Revolution in der BRD oder den USA zu formulieren.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert