Der Begriff bzw. das Problem der Entfremdung taucht bei Marx schon in den Jugend- und Frühschriften auf und durchzieht sein Werk wie ein roter Faden. Ganz allgemein versteht Marx unter Entfremdung, dass Menschen durch die Gesellschaftsverhältnisse, insbesondere die ökonomischen, daran gehindert werden, sich „menschlich“ zu verhalten oder – anders ausgedrückt – glücklich zu sein.
Marx sieht das Problem der Entfremdung v.a. im Kapitalismus enorm verstärkt, da erst in der kapitalistischen Produktionsweise mit deren umfänglicher Durchsetzung der Warenproduktion, der Arbeitsteilung und des Privateigentums an den industriellen Produktionsmitteln die Bedingungen dafür ausgeprägt waren.
Im Unterschied zur kleinen Warenproduktion der Handwerker oder der weitgehend auf den eigenen Verbrauch ausgerichteten Wirtschaft der Bauern bedeutete das Aufkommen der Industrie, dass die Produkte der FabrikarbeiterInnen nur noch für einen „fremden“ Markt hergestellt werden, nicht mehr für sich selbst. Die Bestimmung der Arbeit – was und wie produziert wird – oblag nicht mehr wie noch weitgehend zuvor direkt den ProduzentInnen, sondern einer „fremden Macht“: dem Kapitalisten, dem die Produktionsmittel gehören und der die Produktionsbedingungen bestimmt – soweit diese nicht überhaupt durch die ebenfalls „fremde“ und äußerliche Macht des Marktes beeinflusst sind.
Die Arbeiterklasse, die ProduzentInnen, arbeiten quasi auf Befehl, sie sind lediglich ein – wenn auch besonderes – Rädchen im wirtschaftlichen Getriebe. Wenn der Mensch aber nach Marx ein schöpferisches Wesen ist, das seine Individualität letztlich auch in seinen Arbeitsprodukten und in seinen Bedürfnissen ausdrückt, so ist er durch die Fremdbestimmung seiner Arbeit im Kapitalismus von seinen eigenen Hervorbringungen, den Produkten, entfremdet. Aber auch als KonsumentInnen haben die ArbeiterInnen nahezu keinen Einfluss darauf, was produziert und ihnen als Waren angeboten wird. Die Aufhebung dieser Entfremdung erfolgt dadurch, dass ProduzentInnen und KonsumentInnen im Zuge des Aufbaus des Kommunismus nach und nach eine demokratisch geplante Gebrauchswert-Wirtschaft errichten.
Doch für Marx hat die Entfremdung noch andere Aspekte. Die ArbeiterInnen, die als Individuen in Konkurrenz zu anderen, ihre Arbeitskraft verkaufen, sind so auch anderen Menschen gegenüber entfremdet. Die Notwendigkeit, dass sich die ArbeiterInnen in Gewerkschaften, in der Partei oder in Genossenschaften zusammenschließen, ist daher nicht nur eine Notwendigkeit im Klassenkampf, sondern zugleich auch ein Mittel, die entfremdende Vereinzelung wenigstens partiell zu überwinden.
Marx hat die sich mit dem Kapitalismus deutlich vertiefende Arbeitsteilung als eine Hauptursache der Entfremdung angesehen. Diese Trennung in Ausführende und Befehlende, in Kopf- und HandarbeiterInnen usw., diese einseitige Zuordnung der Menschen zu einem Beruf, zu einem Stand, zu einer Tätigkeit gab es zwar auch schon in vorkapitalistischen Gesellschaften, doch der Kapitalismus hat die Situation v.a. für große Teile des Proletariats noch verschärft. Diese spezifisch kapitalistische Arbeitsteilung verhindert, dass die Menschen ihre kreativen Fähigkeiten umfänglich entwickeln können. Sie verhindert zugleich, dass sich die Menschen als Teil der Menschheit, als Gattungswesen verstehen und sich um die Belange der Gesellschaft aktiv und direkt kümmern können. Stattdessen werden der Egoismus, die Borniertheit, das „Funktionieren“, der Fachidiotismus“ gefördert.
Marx und Engels bemerkten dazu: „Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“ (Die deutsche Ideologie)
Insofern der Mensch von den Dingen und Menschen entfremdet ist, entfremdet er sich damit auch sich selbst, denn er ist nicht nur ein Individuum sondern auch, wie Marx es ausdrückt, das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“, die sich in ihm quasi fokussieren.
Die Entfremdung bezieht sich aber nicht nur auf die ökonomische Ebene. Einen wichtige Rolle in der entfremdeten Gesellschaft spielt der Staat. Als Repressivorgan der herrschenden Klasse(n) ist er nicht nur unterdrückerisch, er verhindert auch, dass die Gesellschaft als Gesellschaft sich selbst um ihre Angelegenheiten direkt kümmert. Die russische Revolutionärin Alexandra Kollontai schrieb dazu einmal: „Irgendeine dritte Person entscheidet Euer Schicksal – das ist das Wesen des Bürokratismus.“ Wir könnten hinzufügen: jeder Klassengesellschaft. Das dramatische Scheitern des Stalinismus, wo die Bürokratie als Klasse die Macht hatte, beweist, dass der Staat, egal welche Form dieser hat, keine humanen Zustände bewirken und als Subjekt der Geschichte untauglich ist. Marx selbst war daher dem Staat gegenüber nicht nur ablehnend eingestellt, er vertrat auch die Ansicht, dass der Staat im Kommunismus abgestorben sein würde. Diese grundsätzliche Einstellung war freilich auch mit der Erkenntnis verbunden (und steht dazu auch nicht im Widerspruch), dass das Proletariat beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus noch bestimmte Staats-Strukturen, z.B. Räte, benötigt.
Der Stalinismus als staatskapitalistisches System ist ein schlagendes Beispiel dafür, dass die Stellung des Menschen in der Gesellschaft trotz großer Umbrüche letztlich wesentlich dieselbe blieb wie im westlichen Kapitalismus: zwar war das Kapital enteignet und die Konkurrenz weitgehend ausgeschaltet, doch die Entfremdung bestand insofern weiter, als die ProduzentInnen und KonsumentInnen immer noch keine Verfügungsgewalt über die Produktion und die sozialen Vorgänge insgesamt hatten, denn diese lag in den Händen der herrschenden Bürokratie.
Auch die bürgerliche Familie sahen Marx und Engels als Quelle sozialer Entfremdung an. Sie zeigten, dass andere, kollektive Formen des Zusammenlebens auf der Basis freier Entscheidungen und von Liebe und Kameradschaft anstatt von Herrschaft notwendig und möglich sind und in „urkommunistischen“ Gesellschaften ohne Privateigentum, Klassen und Staat real schon vorhanden waren.
In seinem Verständnis von Entfremdung drückt sich die zentrale Idee von Marx aus, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ An andere Stelle schrieb er: „Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst.“
Trotz des zentralen Stellenwerts der Entfremdungs-Kategorie bei Marx spielte diese für die Linke, für den „Marxismus“ oder gar die revolutionäre Arbeiterbewegung fast keine Rolle. Das lag auch daran, dass die frühen Schriften von Marx, wo die Frage der Entfremdung stark betont wird, meist erst mit großer Verspätung, oft um Jahrzehnte, veröffentlicht worden sind. Weit schwerer wog aber der Umstand, dass in der II. Internationale wie auch tw. im Bolschewismus und der III. Internationale und umso mehr im Stalinismus Vorstellungen vom „Sozialismus“ dominierten, die ihn als „sozialisierten Kapitalismus“, quasi als verallgemeinerten Sozialstaat verstanden. Die soziale Lage für die Massen sollte sich wesentlich bessern. Marx´ Konzeption ging aber weit darüber hinaus. Er wollte das gesamte System von Produktion und Reproduktion, er wollte alle Strukturen der Gesellschaft umwälzen. Insbesondere lehnte er die Vorstellung ab, dass ein Staat (egal, welche Form oder Funktion dieser hätte) das Mittel ist, um diese Veränderungen zu bewirken. Nicht umsonst spricht Marx wiederholt von den „assoziierten Individuen“ oder von genossenschaftlichen Strukturen und eben nicht vom Staat als Akteur.
Erst die anti-stalinistische revolutionäre Linke und später die Frankfurter Schule (Adorno u.a.) und die 68er haben dann wieder stärker auf die Marxsche Entfremdungsthese Bezug genommen.
Heute ist das Bewusstsein der Linken für die enorme humanistische Substanz und revolutionäre Sprengkraft der Marxschen Entfremdungskategorie weitgehend verschüttet. Ihre Politik – besonders die des Reformismus, aber auch jene des Gros der „radikalen Linken“ – bewegt sich überwiegend oder ausschließlich im Rahmen „sozialstaatlicher“, d.h. einer Form bürgerlicher, Strukturen und setzt auf die Wunderwirkungen des Staates bzw. eines verstaatlichten „Sozialismus“.
Die Überwindung der Entfremdung ist zwar letztlich nur möglich, indem deren Ursachen, die Klassengesellschaft, das Privateigentum und die bürgerliche Familie überwunden werden, doch bereits zuvor muss der Kampf gegen die Entfremdung Teil des Bewusstseins der Klasse und ihrer sozialen Praxis werden. Dabei spielen insbesondere die Genossenschaftsidee und die Frage der Selbstorganisation und Selbstverwaltung des Proletariats eine zentrale Rolle. Ein Bewusstsein für das Problem der Entfremdung kann nur (wieder) entstehen, wenn der authentische Marx vom Dogma des „Marxismus“ befreit wird.