Allgemein bedeutet Vergesellschaftung, dass die Verfügung über die Produktionsmittel (PM) und die Produktionsverhältnisse (PV) der Gesellschaft bzw. sozialen Kollektiven unterliegen und nicht besonderen minderheitlichen Gruppen, egal ob Gilden oder Ständen, Feudalherren, Kapitalisten, Rentiers, Aktionären oder dem Staat. Wie alle Klassengesellschaften beruht aber auch der Kapitalismus darauf, dass es herrschende Minderheiten gibt, welche die politische und staatliche Macht innehaben und damit über die PK und die PV bestimmen, um sich einen überproportionalen Anteil am gesellschaftlich erarbeiteten Reichtum zu sichern.
Der Kapitalismus hat eine Periode der forcierten Entwicklung der PK eingeleitet. Gewinnstreben und Konkurrenz wälzen die Verhältnisse immer wieder um und treiben die Entwicklung der PK voran – allerdings im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise. Im Zuge dessen nahmen die Konzentration und die Zentralisation des Kapitals immer mehr zu, das Bank- und Finanzkapital entstand und große Konzerne bildeten sich heraus, die das wirtschaftliche und soziale Leben der ganzen Welt bestimmen. Die wirtschaftlichen und sozialen Verflechtungen werden immer globaler und komplizierter. Daher nimmt die Rolle des Staates als „Regulator“ der Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft immer mehr zu.
Die wesentliche Grundlage des Kapitalismus ist die Ausbeutung von Lohnarbeit durch die Besitzer der PM. Zwar nehmen Produktion und Distribution im Kapitalismus immer stärker gesellschaftlichen Charakter an, doch die Verfügungsgewalt darüber bleibt demgegenüber trotzdem wesentlich privat. Dazu kommt, dass die Bourgeoisie selbst sich immer mehr vom realen Produktionsprozess, der immer mehr von ManagerInnen bestimmt wird, entfernt und meist nur noch als Rentiers und als „Cuponschneider“ (Lenin) agieren, gleichwohl aber den Profit einstreichen.
Diese Tendenzen der Vergesellschaftung im Kapitalismus verbleiben aber in den Grenzen des Systems und verringern tatsächlich den Zugriff des Proletariats und der Massen auf Produktion und Verteilung und stellen insofern keine „echte“ Vergesellschaftung dar. Für Marx bedeutet Vergesellschaftung v.a. Überwindung der Entfremdung, der Unterordnung der ProduzentInnen unter eine „fremde Macht“ und die Beendigung der überkommenen Arbeitsteilung. Marx ging es um die allseitige Befreiung von jeder Form von Unterdrückung, Ausbeutung und Entfremdung; es ging ihm darum, „an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen (…) eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ zu setzen. (Kommunistisches Manifest)
Die „unechte“, kapitalistische Vergesellschaftung wurde von von vielen Theoretikern der Sozialdemokratie der II. Internationale an der Wende zum 20. Jahrhundert einseitig als „fortschrittlich“ interpretiert und daraus der Schluss gezogen, dass die Wirtschaft verstaatlicht werden müsse, wobei die Funktionäre der Arbeiterbewegung den Staatsapparat leiten sollten. Diese Strategie ging damit einher, dass der „Weg zum Sozialismus“ wesentlich nur als eine Summe von Reformen angesehen wurde und der qualitative, revolutionäre Bruch unterschätzt oder abgelehnt wurde. Der Klassenkampf wurde nur noch als ein parlamentarischer und gewerkschaftlicher, auf ökonomische Fragen beschränkter, angesehen. Die von Marx postulierte Zerschlagung des bürgerlichen Staates wurde aufgegeben und durch die Position der Übernahme und Säuberung des Staatsapparats ersetzt. Die sozialistische Wirtschaft sollte eine Staatswirtschaft sein.
Auch Lenin übernahm diese Strategie einerseits, indem er davon sprach, dass auch Sowjetrussland eine staatskapitalistische Wirtschaft brauche, diese jedoch – und das war die Differenz zur II. Internationale – der Regie eines proletarischen, nicht eines bürgerlichen Staates unterstehen solle. Für Lenin war dieser „Staat“ aber kein Rätesystem, sondern wesentlich ein Parteistaat. Damit einher ging eine Unterschätzung bzw. Ablehnung von Strukturen proletarischer Selbstverwaltung. Zwar trat Lenin im Unterschied zur II. Internationale für die Revolution und für die Enteignung des Kapitals ein, doch sein Ziel – eine Staatswirtschaft (zumindest für die Übergangsphase) – war wesentlich dasselbe wie bei den Reformisten. Die Folge dieser Strategie war, dass die Verfügungsgewalt des Proletariats über die PM, die es 1917 mit der Revolution begonnen hatte zu übernehmen, unterminiert und von Stalin schließlich komplett beseitigt wurde. Es bildete sich eine Schicht von Bürokraten, die anstelle der enteigneten Bourgeoisie und dem entmachteten Proletariat als nun als neuer Manager auftrat und schließlich zur herrschenden Klasse in einem staatskapitalistischen System wurde.
Marx hat immer alle Konzeptionen, die das Proletariat „beglücken“ wollten, anstatt deren Selbstständigkeit und Selbstorganisation zu fördern, kritisiert. Im Kommunistischen Manifest heißt es dazu etwa: „Die Erfinder dieser Systeme sehen zwar den Gegensatz der Klassen wie die Wirksamkeit der auflösenden Elemente in der herrschenden Gesellschaft selbst. Aber sie erblicken auf der Seite des Proletariats keine geschichtliche Selbsttätigkeit, keine ihm eigentümliche politische Bewegung.“
Zwar haben Marx und Engels keine theoretische Konzeption einer nachkapitalistischen Ökonomie ausgearbeitet, doch unterschieden sich ihre Auffassungen grundsätzlich von denen der II. Internationale oder auch Lenins.
So schrieb Friedrich Engels: „Aber weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften und Trusts noch die in Staatseigentum hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte auf. Bei den Aktiengesellschaften und Trusts liegt dies auf der Hand. Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben. Aber auf der Spitze schlägt es um.
Das Staatseigentum an den Produktivkräften ist nicht Lösung des Konflikts, aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung. Diese Lösung kann nur darin liegen, dass die gesellschaftliche Natur der modernen Produktivkräfte tatsächlich anerkannt, dass also die Produktions-, Aneignungs- und Austauschweise in Einklang gesetzt wird mit dem gesellschaftlichen Charakter der Produktionsmittel. Und dies kann nur dadurch geschehen, dass die Gesellschaft offen und ohne Umwege (sic!)Besitz ergreift von den jeder anderen Leitung außer der ihrigen entwachsenen Produktivkräften.“ (MEW 19, S. 221/22)
In einem Brief an Bebel schreibt Engels 1875: „Die deutsche Arbeiterpartei erstrebt die Abschaffung der Lohnarbeit und damit der Klassenunterschiede vermittelst Durchführung der genossenschaftlichen Produktion in Industrie und Ackerbau auf nationalem Maßstab.“ (MEW 19, S. 6)
Nirgends haben Marx und Engels die Vorstellung geäußert, dass die nach-kapitalistische Wirtschaft eine Staatswirtschaft sein solle. Auch die von ihnen durchaus geforderte Verstaatlichung (im Sinne von Enteignung des Kapitals) darf nicht in diesem Sinne verstanden werden, da die Verstaatlichung nur einen ersten Schritt, die Enteignung der Kapitalisten, darstellt. Mehrfach betonte Marx auch, dass die Produzenten (die Arbeiter) direkten Zugriff auf die PM haben sollen, ohne dass ein „separater“, „abgehobener“ Staatsapparat dazwischen tritt. Staatseigentum aber bedeutet notwendig, dass das Lohnarbeitsverhältnis (wenn auch in modifizierter Form) bestehen bleibt. Auch Lenin betonte in „Staat und Revolution“, dass die Arbeiterklasse zu „Staatsangestellten“ werden solle.
Engels hingegen meinte: „Die deutsche Arbeiterpartei erstrebt die Abschaffung der Lohnarbeit und damit der Klassenunterschiede vermittelst Durchführung der genossenschaftlichen Produktion in Industrie und Ackerbau auf nationalem Maßstab.“ (ebenda)
Schon in seinen Frühschriften führt Marx aus, worauf Sozialismus und wirkliche Vergesellschaftung beruhen: auf „Individuen, die vereint sind auf der Grundlage der gemeinsamen Aneignung und Kontrolle der Produktionsmittel“. (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie)
Engels hebt für den Sozialismus hervor: „Die Gesetze ihres eigenen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht. Die eigene Vergesellschaftung der Menschen, die ihnen bisher als von Natur und Geschichte aufgezwungen gegenüberstand, wird jetzt ihre eigene freie Tat. Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewusstsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.“ (Anti-Dühring, MEW 20, S. 264)
Eine „sozialistische“ Staatswirtschaft hingegen bedeutet, dass anstelle des Kapitals erneut eine „fremde“, „aufgezwungene“ Macht statt der direkt demokratischen Organe der ProduzentInnen und KonsumentInnen entscheidet. Die Entfremdung, die Ausbeutung, die Entmachtung bleiben bestehen – sie haben nur die Form gewechselt.
Eng mit Vorstellungen einer Vergesellschaftung verbunden war in der II. Internationale, im Bolschewismus und bei Stalin – weniger in der heutigen Sozialdemokratie – die Idee der Überwindung der Marktbeziehungen und der Konkurrenz durch eine geplante Wirtschaft. Auch Marx und Engels sahen das so. Doch verstanden sie darunter eine Planung durch Organe, die von den ProduzentInnen und KonsumentInnen demokratisch bestimmt werden und nicht von einer staatlichen Zentrale. Zumindest müsste der proletarische Staatsapparat, insoweit er noch notwendig ist, einer Kontrolle der Basis unterliegen. In der UdSSR wurde diese Kontrolle nach 1917 jedoch immer weiter eingeschränkt und schließlich komplett beseitigt.
Nach Marx wäre das Ziel einer geplanten proletarischen Ökonomie nicht mehr die Erwirtschaftung von Profit, sondern die Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft. Somit stehe auch nicht mehr der Tauschwert, sondern der Gebrauchswert von Produkten im Zentrum. Anstatt von Geld und Preis würde der Verbrauch von Ressourcen, v.a. die Arbeitszeit, zum Vergleichsmaßstab.
Obwohl Leo Trotzki, der mit Lenins politischer Strategie sonst übereinstimmte, einen energischen Kampf gegen den Stalinismus führte, vertrat auch er die Ansicht, dass die Staatswirtschaft notwendig sei. Allerdings wollte er diese demokratisieren, d.h. die Räte-demokratischen Elemente stärken. Doch auch eine demokratisierte Staatswirtschaft bleibt eine Staatswirtschaft. Bis ans Lebensende weigerte sich Trotzki einzusehen, dass die UdSSR ein staatskapitalistisches Regime und die Bürokratie zu einer neuen herrschenden Klasse geworden waren. Infolge dessen trat er lange für einen Reformkurs ein, ehe er für den Sturz der Bürokratie durch eine politische – nicht ein soziale (!) – Revolution plädierte.
Die falsche Vorstellung von „Vergesellschaftung“, die mit einer Verstaatlichung „verwechselt“ wird, prägt auch heute große Teile der Linken und die gesamte organisierte Arbeiterbewegung. Die Notwendigkeit und Möglichkeit der Schaffung von Bereichen proletarischer Selbstverwaltung wird sträflich unterschätzt oder gar abgelehnt. Stattdessen wird nur nach dem Staat gerufen, wenn es darum geht, soziale, wirtschaftliche, ökologische u.a. Probleme zu lösen. Bestenfalls wird eine „Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle“ gefordert. Diese Orientierung verstärkt aber nicht nur die Illusionen in den (bürgerlichen) Staat, es unterminiert auch das Klassenbewusstsein und die Versuche des Proletariats, sich ohne und gegen Staat und Kapital zu organisieren.
Diese Politik erschwert es auch, sich kritisch von den Verbrechen und Wahnsinnigkeiten des Stalinismus (aber auch der Sozialdemokratie) abzuheben; sie verhindert, den Kommunismus als freiheitlich-humanistische Alternative zum Kapitalismus darzustellen. Die Schaffung von genossenschaftlichen und selbstverwalteten sozialen und wirtschaftlichen Strukturen schon im Rahmen des Kapitalismus und deren Vernetzung durch und unter Kontrolle der gesamten Klasse stehende Räte-Organe ist ein wichtiger Bereich, in dem das Proletariat in Ansätzen gesellschaftliches und wirtschaftliches „Management“ erlernen kann und wo sich – wenn auch nur in Keimform – eine andere kooperative, „vergesellschaftete Gesellschaft“ entwickeln kann.