Teil 4: Der Stalinismus
Hanns Graaf
Kein anderer Faktor hat das Wesen und das Schicksal des „Marxismus“, der kommunistischen Bewegung und des „Ostblocks“ so stark beeinflusst wie der Stalinismus der UdSSR.
Das soziale und politische Regime, das mit dem Begriff „Stalinismus“ gekennzeichnet wird, entwickelte sich in Sowjetrussland in Anfängen bereits ab 1918 mit dem Beginn des Bürgerkriegs. Doch erst Ende der 1920er wurde es zu einem staatskapitalistischen System. Bis dahin kann das bolschewistische Regime als deformierter bzw. degenerierter Arbeiterstaat bezeichnet werden. Dieser war einerseits geprägt durch „historische“ Faktoren (Rückständigkeit, kleines Proletariat) und aktuelle Deformationen und Probleme (Bürgerkrieg, Hunger, Wirtschaftskrise). Andererseits waren der Zarismus gestürzt, der bürgerliche Staat zerschlagen und das Privatkapital enteignet worden. Die Arbeiterklasse hatte mittels der Sowjetorgane, der Partei und der Roten Armee die exekutive Macht in Händen.
Nachdem der Bürgerkrieg gewonnen und die Staatsmacht gefestigt waren, stand die Aufgabe, den sozialistischen Aufbau zu beginnen – allerdings von einem sehr niedrigen Niveau aus. Das überwiegend aus objektiven Gründen geschwächte und durch staatlich-administratives Agieren zurückgedrängte System der Sowjetdemokratie konnte und musste wieder revitalisiert werden. Im Rahmen zunächst bescheidener sozial-ökonomischer Möglichkeiten hing die weitere Entwicklung nun wesentlich davon ab, ob die Vorhut der Klasse in Form der bolschewistischen Partei konzeptionell dazu in der Lage war, das Richtige zu tun. Wir haben im Teil 3 gezeigt, dass die Gesellschaftskonzeption Lenins und der Bolschewiki dazu wenig geeignet war. Anstatt die Sowjet-Demokratie wiederherzustellen und die Verfügungsgewalt der Massen über Ökonomie und Gesellschaft zu sichern und auszuweiten und dafür den Einfluss der Staats- und Parteibürokratie zurückzudrängen, erfolgte genau das Gegenteil. Ob bewusst oder nicht: die Beschlüsse und die praktische Politik der Bolschewiki führten dazu, dass die Elemente von Sowjetdemokratie und die Verfügung des Proletariats über die Produktionsmittel und die Gesellschaft insgesamt immer weiter beschnitten wurden, bis sie Ende der 1920er schließlich vollkommen eliminiert waren. Die Rechte, der politische und soziale Bewegungsspielraum der Massen war oft noch geringer als in den westlichen kapitalistischen Ländern.
Politik und Ideologie
Die politische Ebene war durch mehrere parallele Tendenzen gekennzeichnet: 1. durch das Ausmerzen jeder Form wirklicher Demokratie in Partei, Staat und Gesellschaft (Presse, Wissenschaft, Kultur usw.); 2. durch den permanenten Terror der Sicherheitsorgane und die Ausschaltung jeder Möglichkeit von Opposition, soweit sie über die ideologischen Konvulsionen des Apparats hätte hinausgehen können; 3. war sich das Gros der Parteiführer und des Apparats trotz aller Differenzen und Friktionen in den strategischen und strukturellen Fragen (Staatswirtschaft, Parteiherrschaft usw.) einig. Selbst der stalinsche Terror, der in den 1930ern eskalierte (aber nicht erst dann begonnen hatte), war nicht deshalb notwendig, um eine reale Opposition zu bekämpfen, sondern um a) Stalins persönliche Vorherrschaft und b) die Einheitlichkeit und Unterwürfigkeit des Apparats herzustellen, die für eine staatskapitalistische Ordnung unabdingbar war. 4. wurde die gesamte „kommunistische Weltbewegung“ (Komintern) den Bedürfnissen Moskaus untergeordnet. 5. wurde der „Marxismus“, nun „Marxismus-Leninismus“ genannt, immer mehr zu einem Dogma aus „ewigen Wahrheiten“, die v.a. zur „Begründung“ der offiziellen Politik und zur Verschleierung des Charakters des repressiven staatskapitalistischen Systems diente.
Neben dem administrativen Druck und den Lügen, welche den Komintern-Apparat von „Moskaus Gnaden“ prägten, sorgten die Ergebnisse der stalinistischen Politik dafür, dass die Doktrinen des Stalinismus lange als „der Ausdruck“ von Kommunismus und Marxismus galten. Einmal war es die Industrialisierung der UdSSR (und später Chinas und Osteuropas), zum anderen war es der Sieg über Hitler im 2. Weltkrieg, die dem Stalinismus trotzdem einen unerhörten Prestigezuwachs bescherten. Wie weit der größte Teil der Linken und „Marxisten“ inzwischen degeneriert war, lässt sich u.a. daran ablesen, dass die unerhörten Verbrechen, politischen Fehler und unnötigen Niederlagen der Arbeiterbewegung ausgeblendet, relativiert oder zum Erfolg oder zur „objektiven Notwendigkeit“ umgelogen wurden. Jede noch so simple Maßnahme, jede neue U-Bahnstation, jedes gebaute Flugzeug wurde zu einem Erfolg des Kommunismus stilisiert.
Das Wesen des Stalinismus
Wodurch war der „Marxismus“ in Gestalt des Stalinismus gekennzeichnet? Sein Hauptmerkmal – und eine große Differenz zu Marx – war seine Staatsauffassung. Vom Absterben des Staates als Merkmal der sozialen Entwicklung gen Kommunismus war überhaupt nicht mehr die Rede – im Gegenteil: die Bedeutung des Staats(apparats) würde lt. Stalin sogar zunehmen. Wurde die Marxsche Staatsauffassung von der II. Internationale verfälscht und von Lenin einseitig ausgelegt, wurde sie von Stalin und seinen ideologischen Satrapen völlig über Bord geworfen und zudem jede Diskussion darüber eliminiert. Der Staat sollte jetzt nicht mehr nur für die Wirtschaftslenkung und typisch staatliche Bereiche zuständig sein, sondern für alle Bereiche der Gesellschaft. Der stalinistische Staat griff tiefer und rabiater in alle Lebensbereiche ein, als das westliche Kapital in der Regel tut.
Im Bereich der Wirtschaftspolitik ist der Stalinismus nichts anderes als die Weiterführung des Leninschen Modells einer staatlichen Zentralwirtschaft. Allerdings gingen der Subjektivismus und der Dogmatismus weit über das hinaus, was noch unter Lenin üblich war. Immerhin war Lenin klug genug, seinen Kurs nach Bedarf zu modifizieren, wie die NÖP bewies. Unter Stalin hingegen wurde die NÖP ohne Grund schon Ende der 1920er abrupt beendet und durch den 1. Fünfjahrplan mit seinem völlig unrealistischen und ruinösen Zielen und Maßnahmen abgelöst. Nachdem mit den NÖP-Reformen auch die agrarische Versorgungskrise weitgehend überwunden war, führte Stalins Zwangskollektivierung Ende der 1920er erneut zu Millionen von Opfern, einer fürchterlichen Hungersnot und einer massiven Zerstörung agrarischer Produktivkräfte, wie sie die Welt bis dahin so noch nicht erlebt hatte. Von diesem Desaster hat sich die Landwirtschaft der UdSSR nie wirklich erholt. Wir dürfen aber dabei nicht vergessen, dass die Feindschaft gegenüber den Mittelbauern schon ein Markenzeichen der bolschewistischen Agrarpolitik vor Stalin war.
Schon bei Lenin war eine Überbetonung der Rolle der Partei zu beobachten. Doch erst unter Stalin ging sie so weit, dass die Partei sich zum alleinigen Diktator und Scharfrichter aufschwang. Lenin bezog seine Auffassungen – egal ob zur Partei, zur Wirtschaft oder bezüglich der Einschränkung Demokratie – stärker auf eine bestimmte Entwicklungsphase, Stalin hingegen verabsolutierte sie.
Besonders bemerkenswert für den „Marxismus“ a la Stalin war seine Wissenschaftsfeindlichkeit – was einen „Technizismus“ nicht ausschloss, den er mit dem Faschismus gemeinsam hat. Nicht nur der allgemeine Dogmatismus und die Obrigkeitshörigkeit, sondern auch die Ablehnung der Entwicklung der Wissenschaft auf etlichen Gebieten (z.B. Teile der modernen Physik, Psychoanalyse, Genetik, Soziologie) gab es bei Marx überhaupt nicht – im Gegenteil. Selbst im Bereich der Naturwissenschaft wurden unter Stalin mitunter pseudowissenschaftliche Auffassungen zur dominanten Lehrmeinung (Lyssenkoismus).
Der Marxismus degenerierte zu einer reinen Herrschaftsideologie, die notwendigerweise nicht mehr Ergebnis eines an der Realität gemessenen kollektiven Diskurses war, sondern von der Parteispitze festgelegt wurde. Der immer mehr vom realen Leben und dessen Problemen entkoppelte „Marxismus“ entfernte sich damit auch immer weiter von seiner ursprünglichen Methodik, die materialistisch, historisch-kritisch und dialektisch war. Der „Marxismus-Leninismus“ (ML) wurde letztlich selbst zu dem, wogegen ihn Marx einst in Stellung gebracht hatte: Ideologie, falsches Bewusstsein.
Eine Kernaussage des Marxismus bestand darin, ein Erkenntnis-Instrument für die Befreiung des Proletariats und aller Unterdrückten zu sein. Die voluntaristischen Tendenzen und die zunehmende Kompromisspolitik gegenüber der Bourgeoisie bzw. dem Reformismus – v.a. in Gestalt der Volksfrontpolitik – hat dazu geführt, dass der ML Instrument der staatlichen Machtpolitik und für die Zwecke der Revolution und des Klassenkampfes unbrauchbar wurde. Der zunehmende Stillstand, die Versteinerung der Strukturen im Ostblock verstärkten noch die Eigenart des ML, eine über den „Mühen der Ebene“ wabernder ideeller Dunst zu sein.