Zur Klassenstruktur des Spätimperialismus (1 von 3)

Hanns Graaf

Die Fragen, wie eine Gesellschaft strukturiert ist und wie verschiedene soziale Gruppen interagieren, sind von zentraler Bedeutung dafür, Konflikte, politische Entwicklungen und letztlich die historische Dynamik einer Gesellschaftsformation bestimmen und in soziale Prozesse eingreifen zu können.

Marx geht davon aus, dass alle „zivilisierten“ Gesellschaftsformationen Klassen aufweisen. Diese konnten nur entstehen, weil es ein Mehrprodukt gab, das sich eine Gruppe aneignen konnte und verteidigen wollte. Klassen sind Ergebnis eines bestimmten Entwicklungsniveaus der Produktivkräfte (PK), am Anfang, in der späten Gentilgesellschaft, von Ackerbau und Viehzucht. Eine bestimmte Klassenstruktur entspricht also einer bestimmten historischen Produktionsweise.

Marx spricht im „Kommunistischen Manifest“ davon, dass das Proletariat der „Totengräber“ des Kapitalismus ist. Es liegt auf der Hand, dass die gesamte Konzeption des Marxismus von der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse von zwei Bedingungen abhängt: 1. davon, ob es überhaupt noch eine Arbeiterklasse gibt und 2., ob diese noch als einzig konsequent revolutionäre Klasse bezeichnet werden kann. Wären diese beiden Prämissen nicht mehr gegeben, hätte sich der Marxismus als über den Kapitalismus hinausweisende Konzeption womöglich erübrigt. Um es vorweg zu nehmen: Wir teilen dieses Bedenken nicht.

Über 170 Jahre nach Erscheinen des „Manifests“ ist allerdings die Frage angebracht, wie es um die soziale bzw. Klassenstruktur des modernen Kapitalismus im Allgemeinen und die Arbeiterklasse im Besonderen bestellt ist. Das ist schon deshalb nötig, um korrekte Taktiken für den Klassenkampf entwickeln zu können. Daher wollen wir hier versuchen, die Veränderungen in der Klassenstruktur in den letzten Jahrzehnten zu skizzieren. Wer diese Analyse der Klassenstruktur nicht vornimmt, wird wohl kaum in der Lage sein, revolutionäre Politik korrekt zu formulieren und umzusetzen. Gerade darum aber geht es.

Schon ab Mitte des 20. Jahrhunderts haben sich starke Veränderungen der Klassenstruktur, v.a. in den imperialistischen Ländern vollzogen, die sich im Spätimperialismus ab Ende des 20. Jahrhunderts noch vertieft haben. Einschränkend müssen wir einräumen, dass wie hier v.a. die imperialistischen Zentren und Deutschland im Blick haben.

Marx´ Klassenkonzeption

Jede soziale Gruppe kann anhand verschiedener Merkmale definiert werden, etwa nach dem Einkommen oder nach der politischen Einstellung. Der Kern des Marxschen Verständnisses der Kategorie „Klasse“ besteht aber darin, dass er von den objektiv gegebenen sozial-ökonomischen Bedingungen einer Gesellschaftsordnung ausgeht, von der für sie jeweils typischen Produktionsweise (PW), die aus den Produktivkräften (produktive Menschen, Wissenschaft und Technik) und den Produktionsverhältnissen (PV) besteht. Dabei ist die Frage, wem (welcher Klasse) die Produktionsmittel gehören, zentral. Diese sozial-ökonomische Basis ist es, die alle gesellschaftlichen Verhältnisse einschließlich des ideologischen Überbaus (Politik, Recht, Kultur usw.) prägt (was Wechselwirkungen zwischen Basis und Überbau einschließt). Davon, welche Rolle eine Klasse im System von Produktion und Reproduktion einer Gesellschaft einnimmt, hängt ab, was sie ist. Für den Materialisten Marx ist es nicht die Ideologie, die eine Klasse definiert, nicht das, was sie über sich selbst denkt, sondern deren objektive Stellung in der materiellen Realität. Jede Klassengesellschaft beruht darauf, dass es einerseits Menschen gibt, die materiellen und ideellen „Reichtum“ erzeugen, und andererseits jene, die sich einen übergroßen Anteil des erzeugten Mehrprodukts aneignen und die Struktur der Gesellschaft bestimmen, weil sie a) die Produktionsmittel besitzen bzw. kontrollieren und b) die exekutive Staatsmacht inne haben.

Für Marx definiert sich eine Klasse (im Unterschied zu anderen sozialen Gruppen, etwa einer Kaste) dadurch, dass sie Träger, dass sie Subjekt einer bestimmten PW und bestimmter Eigentumsverhältnisse ist. So ist etwa der Feudalismus ohne den herrschenden Adel (die Grundeigentümer) genauso wenig denkbar wie der Kapitalismus ohne Bourgeoisie. Marx´ Klassenkonzeption ist aber keineswegs statisch, sondern dynamisch, sie kennt Schichtungen und Spaltungen innerhalb von Klassen genauso wie Zwischenschichten. Klassen stehen in einem dynamischen Verhältnis, sie repräsentieren eine dialektische Struktur von Einheit und Widerspruch, aus dem sich einerseits eine relativ stabile Gesellschaftsstruktur ergibt, insofern die Klassen interagierende Teile eines Gesamtsystems sind, andererseits haben sie gegensätzliche, ja tw. antagonistische Interessen, die in bestimmten Momenten zur revolutionären Eruption führen, die die gesamte Gesellschaft umstürzt und umbaut.

Das letztlich dynamische Element in der Geschichte, das die Klassen konstituiert, verändert und schließlich zur revolutionären „Aufhebung“ der Klassen, zur Entstehung neuer und zum Untergang alter Klassen führt, ist die Entwicklung der PK. Gerade der Kapitalismus hat gezeigt, wie Erfindungen zu einer völlig neuen Art von Produktion, zur industriellen Massenproduktion, geführt haben und Bourgeoisie und Proletariat zu den Hauptklassen des Kapitalismus wurden. Die PK entwickeln sich evolutionär so weit, bis sie ein Niveau erreicht haben, das mit den gegebenen PV kollidiert. Marx schrieb: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“

Der Klassenkampf ist nach Marx also wesentlich von der objektiven Stellung einer Klasse im Mechanismus von Produktion und Reproduktion bestimmt. So, wie der Kapitalist ein Interesse hat – und haben muss -, Lohnarbeit auszubeuten, so hat der Arbeiter das Bestreben, seine ausgebeutete, unterdrückte, benachteiligte soziale Lage zu verbessern oder zu beenden. Beide Klassen handeln aufgrund objektiver Interessen (auch wenn diese ihnen als subjektive erscheinen mögen).

Im „Kommunistischen Manifest“ heißt es: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ Tatsächlich waren Jahrtausende der Weltgeschichte nicht wesentlich vom Kampf gegensätzlicher Klassen – etwa der Sklavenhalter gegen die Sklaven – geprägt, den es natürlich auch, wenn auch kaum als „Haupt- und Staatsaktion“ gab, sondern von den (meist kriegerischen) Konflikten zwischen verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse: Fürsten, Königen, Staaten, Religionen usw. Es ist kein Zufall, dass der Kampf zwischen Klassen – zwischen Unterdrückten und Unterdrückern – in der Geschichte erst eine zentrale Rolle spielte, als sich die bürgerliche PW durchzusetzen begann und sich deren beiden Hauptklassen herausbildeten: zuerst des Bürgertum, das gegen die Vorherrschaft von Adel und Klerus opponierte, und später und immer mehr das Proletariat.

Was ist eine Klasse?

Für Marx wird eine Klasse wesentlich dadurch definiert, welche Stellung sie zum Eigentum an den zentralen Produktionsmitteln (PM) einnimmt. Im Kapitalismus sind PM jene Strukturen, welche die (massenhafte) Ausbeutung von Lohnarbeit und damit die Anhäufung von großen Kapitalen ermöglichen. PM dürfen nicht mit Arbeitsmitteln verwechselt werden. Ein Taxi ist ein Arbeitsmittel, aber erst ein Taxiunternehmen mit angestellten Taxifahrern ist ein Produktionsmittel. Nicht der einzelne Taxifahrer oder der Ein-Mann-Taxi-Unternehmer kann Kapital anhäufen, sondern (bestenfalls) der Taxiunternehmer, der viele Fahrer beschäftigt und sich vom Mehrprodukt einen Teil aneignet. Die Verwechselung von PM und Arbeitsmitteln (AM) ist ein häufiger Fehler, der zu falschen Schlüssen bezüglich der Klassenanalyse führt. Nach dieser falschen Sichtweise wäre Jeder, der über ein AM verfügt, Unternehmer.

Das Eigentum wiederum ist doppelt definiert: einmal durch den Rechtstitel, der angibt, wem ein Eigentum gehört. Dieses Recht muss einklagbar sein und setzt einen Staat, der das Eigentum schützt, oder zumindest ein Gewohnheitsrecht voraus. Das ist das zentrale Element jeder bürgerlichen Verfassung. Das Privateigentum ist dort nicht als einzige Eigentumsform vorgeschrieben, aber dessen Abschaffung resp. Enteignung ist verboten oder stark begrenzt. Der andere Aspekt ist die praktische Verfügungsgewalt über das Eigentum. Schon ein Streik grenzt dieses ein, ohne am Rechtstitel etwas zu ändern. Gerade in Situationen zugespitzten Klassenkampfes oder in Revolutionen wird den Eigentümern zuerst die Verfügungsgewalt streitig gemacht, bevor – eventuell – auch die Rechtsform geändert wird.

Die zweite Frage, die mit der ersten direkt verbunden ist, ist die Frage des Einkommens. Es liegt auf der Hand, dass die Möglichkeit, sein Leben zu gestalten, wesentlich davon abhängt, über wie viel Einkommen ich verfüge und auf welche Art ich es erhalte. Das zentrale Verhältnis im Kapitalismus ist das Lohnarbeitsverhältnis. Der größte Teil der Menschen muss den größten Teil seines Lebens Lohnarbeit verrichten, um leben zu können – zumindest in den Industrieländern. Niemand ist rechtlich gezwungen zu arbeiten. Allerdings bedarf es dieses rechtlichen Zwanges auch kaum, da der reale Zwang zu arbeiten, um nicht zu verhungern, völlig ausreicht. Im Unterschied zum Sklaven oder zum Leibeigenen ist der Arbeiter im Kapitalismus doppelt frei: er ist frei von PM (während noch der ärmste Bauer im Mittelalter ein Stück Acker besaß), und er ist rechtlich frei, während der Leibeigene oder Sklave seinem Herrn gehörte und für ihn arbeiten musste.

Diese beiden Fragen – der Besitz oder Nichtbesitz von PM und die Frage der Lohnabhängigkeit – werden meist als die entscheidenden Merkmale der Klassenzugehörigkeit angesehen. Diese Sichtweise ist richtig, doch zugleich auch verkürzt. Wer nur die Frage des Besitzes von PM und der Lohnabhängigkeit sieht, müsste fast alle Menschen zum Proletariat zählen: den Bundeskanzler, Polizisten, Generäle, Manager usw., was natürlich wenig Sinn macht.

Schon Marx hat wiederholt darauf verwiesen, dass noch ein anderes Kriterium eine wichtige Rolle für die Zugehörigkeit zu einer Klasse spielt: die Frage, ob ein Individuum bzw. eine soziale Gruppe eine Funktion im Herrschaftsmechanismus der Klassengesellschaft spielt. Vorarbeiter, Meister u.a. Menschen, die eine „Aufsichtsfunktion“ im Betrieb ausüben, zählt Marx nicht zur Arbeiterklasse, obwohl auch sie Lohn erhalten und keine PM besitzen. Er nennt sie „Unteroffiziere“ der Bourgeoisie. Im Kapitalismus gibt es zahlreiche, verschiedene Funktionen im Rahmen der „Verwaltung“ des Systems und der Sicherung der Herrschaft der Bourgeoisie. Diese können ideellen oder „praktischen“ Charakter haben. Zu ideellen „Dienern“ des Kapitals zählen u.a. Politiker, Wissenschaftler, Journalisten, Lehrer, Kulturschaffende usw. Zu den „praktischen Verwaltern“ zählt die Bürokratie (ob verbeamtet oder nicht). Diese Verwaltungsfunktionen finden sich im Staatsapparat, aber auch in der Privatwirtschaft (Manager, Abteilungsleiter u.a.). Oft sind ideelle und verwaltend-organisierende Tätigkeiten miteinander verbunden. Am offensichtlichsten wird die Herrschaftsfunktion bei den Repressionsorganen (Armee, Polizei, Geheimdienste, Justiz).

All diese Tätigkeiten sind Teil des Herrschaftsmechanismus und notwendig, damit die kleine Minderheit der Bourgeoisie ihr System überhaupt aufrecht erhalten und organisieren kann. Die meisten dieser Menschen erhalten Lohn (oder Gehalt, was nur eine andere Bezeichnung für Lohn ist) und sind davon abhängig. Sie verfügen fast alle nicht über PM. Ein Teil von ihnen ist sozial mehr oder weniger privilegiert, z.B. durch den Beamtenstatus. Ihre besondere soziale Stellung und ihre Funktion im „Management“ des Kapitalismus sagt allerdings nicht automatisch etwas darüber aus, welche politische Einstellung sie haben. Sie nehmen eine Zwischenstellung zwischen den Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat ein, ihre Ideologie ist daher meist schwankend und widersprüchlich.

Die Bourgeoisie

Die Bourgeoisie verfügt über die entscheidenden PM (Betriebe, Konzerne, Medien, Banken, Fonds usw.) und hat deshalb auch enormen Einfluss auf Staat, Politik, Wissenschaft und Kultur – ja auf die Lebensweise der Gesellschaft insgesamt. Im Laufe der Geschichte hat sich die bürgerliche Klasse stark verändert. Im Mittelalter war der Bürger Händler, Handwerker oder Freiberufler. Erst mit der Entwicklung von Manufakturen und Fabriken sowie dem verallgemeinerten Geldwesen hat sich die Bourgeoisie zur „industriellen Klasse“ gemausert. Erst die Großindustrie und mit ihr der Weltmarkt mit dem Aufkommen des Imperialismus Ende des 19. Jahrhunderts haben die Großbourgeoisie geschaffen, weil sie nun von der Akkumulation von Kapital auf „großer Stufenleiter“ profitieren konnte.

Die unerhört komplex gewordene imperialistische Gesellschaft erforderte in immer größerem Umfang einen Staatsapparat, der 1. die Gesellschaft als „ideeller Gesamtkapitalist“ verwalten, 2. die Interessen bestimmter (nationaler) Kapitalfraktionen gegen andere vertreten und 3. das immer zahlreichere, besser organisierte und kämpfende Proletariat niederhalten und beherrschen kann.

Ende des 20. Jahrhunderts begann die Phase des Spätimperialismus. Sie weist Merkmale der ersten Phase ab Ende des 19. Jahrhunderts auf (u.a. Monopole, Finanzkapital, Drang zur Neuaufteilung der Welt), ergänzt diese aber durch neue. Diese sind ist u.a.:

  • die Globalisierung, d.h. die Erweiterung des Weltmarktes durch den Kollaps des Ostblocks und die Öffnung Chinas;
  • das Vordringen des Neoliberalismus als Ideologie und Wirtschaftspolitik;
  • die noch größere Vorherrschaft des Finanzkapitals über alle Sphären der Gesellschaft;
  • die Neuaufteilung der Welt unter den zwei imperialen Blöcken einerseits um China, Russland u.a. BRICS-Staaten, andererseits um die USA, die EU, die Nato, Japan u.a.;
  • die starke Verbürgerlichung der Linken und der (reformistischen) Arbeiterbewegung.

Diese strukturellen Veränderungen haben auch die Bourgeoisie verändert. Schon in der ersten Phase des Imperialismus entstand auf Basis der unerhörten Ausweitung der Kapitale (gobal agierende Großkonzerne, Großbanken) eine die Gesellschaft und die Bourgeoisie dominierende Schicht des Finanzkapitals. Im Spätkapitalismus vergrößerte sich deren Einfluss noch; es entstand eine Schicht von Milliardären wie Elon Musk, Bill Gates u.a., die ihren unermesslichen Reichtum dazu nutzen, alle gesellschaftlichen Strukturen in globalem Ausmaß zu beeinflussen. Sie sind einerseits im Finanzsektor (Banken, Fonds), der unerhört gewachsen ist und sich tw. von der industriellen „Realwirtschaft“ abgekoppelt hat, verankert; andererseits im IT-Sektor und in der auf ihm beruhenden „Plattformökonomie“ (Amazon u.a.). Zur Durchsetzung ihrer Geschäftsmodelle benutzen sie in einem nie gekanntem Ausmaß Politik, Staat, Medien und Wissenschaft. Die Corona-Krise, das Märchen von der anthropogenen Klimakatastrophe, die Energiewende oder die Cancel culture sind Beispiele dafür. Mittels der NGOs, der Großmedien, des Staates und der Politik gelang es der Finanzoligarchie zunehmend auch, die Arbeiterbewegung und die Linke, v.a. die „grünen“ Bewegungen und Parteien, zu beeinflussen und als „nützliche Idioten“ zu instrumentalisieren.

Plattformkonzerne wie Microsoft, Uber oder Amazon verdrängen zunehmend das Kleinbürgertum vom Markt. Das verstärkt die Widersprüche innerhalb der Bourgeoisie zwischen der Finanzoligarchie und dem Kleinbürgertum, tw. auch der Mittelbourgeoisie. Daher neigen die kleineren Kapitale und das Kleinbürgertum mitunter dazu, sich gegen das Großkapital zu wenden und dafür klassenübergreifende, volksfrontartige Bewegungen und Strukturen (z.B. die Gelbwesten) zu initiieren. Die Übermacht der Finanzoligarchie und das soziale Abrutschen des Kleinbürgertums sind wichtige Tendenzen des Spätkapitalismus.

Aus diesen Entwicklungen ergeben sich Gefahren für die Linke und die Arbeiterbewegung. Eine davon ist die Anpassung an den „wertebasierten“ westlichen Globalismus. Das zeigt sich z.B. in der kritiklosen Akzeptanz der Massenmigration, der Unterstützung der Nato-Strategie in der Ukraine oder der Klimabewegung. Hinter den politischen Strömungen und Ideologien, wie z.B. dem Klimaalarmismus, stehen immer bestimmte Kapitalfraktionen. So ist der Kliamaalarmismus die ideologische Grundlage für die Ersetzung fossiler Brennstoffe durch „Erneuerbare Energien“ (EE), wodurch die CO2 -Emissionen gesenkt werden sollen. Mit der künstlich erzeugten Entwertung und dem Verbot von Kohlekraftwerken werden große Investitionen in die EE ermöglicht. In Verbindung mit staatlichen Subventionen, erhöhten Strompreisen und Vorteilen am Markt, wie sie z.B. in Deutschland durch das „Erneuerbare Energien Gesetz“ (EEG) durchgesetzt werden, erhalten bestimmte „grüne“ Kapitalgruppen riesige Profitquellen zugeschanzt. Die Energiewende (EW) ist ein enormeres Konjunkturprogramm – ähnlich der Rüstung. Um solche Maßnahmen umzusetzen, ist es erforderlich, dass das Finanzkapital, bestimmte Industriekapitale, die Politik, der Staat, Teile der Wissenschaft und die Medien eng kooperieren, d.h. dass das Großkapital diese Bereiche direkt beeinflusst, ja beherrscht. Immer häufiger bereitet staatliche Politik den Boden für das Agieren des Großkapitals. Zugleich ist die Bourgeoisie immer mehr eine unproduktive Klasse von „Kuponschneidern“, wie Lenin sie nannte. Moderner würde man vielleicht Shareholder sagen. Die Zeit, als das Bürgertum noch selbst als Unternehmer, Techniker, Wissenschaftler, Organisator produktiv war, ist lange vorbei. Die Distanz zwischen den Anforderungen von Produktion und Technik einerseits und den Chefs der Großunternehmen, die davon kaum noch Ahnung haben, andererseits, wird immer größer.

Das Kleinbürgertum würde nach der Auffassung von Marx immer mehr an Größe und Bedeutung verlieren und zum großen Teil ins Proletariat abrutschen. Zugleich sah Marx aber auch die widersprüchliche Dynamik dieses Prozesses. Neben kleinbürgerlichen Schichten, die schrumpfen, entstehen im Zuge der technisch-organisatorischen Veränderungen auch immer wieder neue. Marx´ Voraussage hat sich v.a. hinsichtlich des agrarischen Kleinbürgertums, der selbstständigen Bauern, bewahrheitet; es ist – v.a in den imperialistischen Metropolen – zahlenmäßig deutlich kleiner geworden und stärker vom großen Agrar- und Handelskapital abhängig. Auch städtische kleinbürgerliche Schichten, Kleinhändler und Handwerker, sind geschrumpft, tw. sogar verschwunden. Daneben haben sich aber neue Schichten und Berufsgruppen etabliert: im Dienstleistungssektor, im IT-Bereich und im Handwerk. Sie sind in den Nischen der Großindustrie angesiedelt. Auch der Bereich der „freien Berufe“ ist weitaus größer als früher: im Finanzbereich, in der Justiz, in der Kultur usw.

Insgesamt ist also Marx´ Voraussage bezüglich des Kleinbürgertums nur teilweise Realität geworden. Während das ländliche Kleinbürgertum schwindet, hat sich das städtische zwar stark gewandelt, ist aber nicht wesentlich kleiner geworden oder gar verschwunden.

Die lohnabhängige Mittelschicht

Ein Teil der Mittelschicht verfügt nicht wie das Kleinbürgertum über (kleine) PM und beutet nicht wie dieses (in geringem Umfang) Lohnarbeit aus, sondern ist selbst Lohnempfänger. Diese lohnabhängige Mittelschicht (LMS) unterscheidet sich vom Proletariat aber dadurch, dass sie eine administrative und/oder ideelle Management-Funktion für das Kapital ausübt und somit Teil von dessen Machtstruktur ist. Die LMS steht sozial zwischen den beiden Hauptklassen der Gesellschaft. Es ist in sich stark differenziert. Hochbezahlte Chefärzte, Professoren oder Spitzenmanager zählen dazu (wenn sie nicht sogar mitunter schon zur Bourgeoisie gehören), aber auch Lehrer, Beamte und Journalisten, deren soziale Stellung sich oft nicht wesentlich von der eines Facharbeiters in der Industrie unterscheidet.

Zu Zeiten von Marx oder Lenin war die LMS wesentlich kleiner als heute und spielte im gesellschaftlichen Mechanismus eine deutlich geringere Rolle. Gerade in imperialistischen Ländern umfasst die LMS heute Millionen Menschen, die in allen Bereichen der Gesellschaft zu finden sind und dort die Schaltstellen besetzen. Die LMS findet sich v.a.:

  • im staatlichen Bereich (Politik, Verwaltung);
  • im Management und im Marketing der Wirtschaft;
  • in Bildung, Wissenschaft, Medien, Kultur und Sozialbereich;
  • in den Repressionsapparaten.

Diese Aufzählung verdeutlicht schon, dass es sich hier um Bereiche und Berufe handelt, in denen früher weitaus weniger Menschen tätig waren. Natürlich zählen nicht alle in diesen Bereichen Tätigen zur LMS, viele gehören der Arbeiterklasse an, einige der Bourgeoisie. Ein besonderer Teil der LMS sind Studenten – so lange sie studieren. Danach gehören sie (wieder) der Bourgeoisie, der Arbeiterklasse, der LMS oder dem Kleinbürgertum an. Die Entwicklung des Kapitalismus, die Erfordernisse seiner PW führten dazu, dass a) die gesellschaftlichen Strukturen wesentlich komplexer geworden sind; b) die aus Privateigentum und Konkurrenz erwachsenden Probleme größer geworden sind und damit mehr Aufwand erforderlich ist, um sie zu „bändigen“. Mit der Notwendigkeit, die Lohnarbeit zu qualifizieren (Bildung), zu erhalten (Sozialwesen) und zu „konditionieren“ (Kultur, Medien, Wissenschaft, Politik) weiteten sich auch die damit befassten Bereiche und Berufsgruppen aus.

Die LMS ist heute v.a. in den imperialistischen Ländern, weitaus bedeutsamer als das Kleinbürgertum. Das Funktionieren des modernen Kapitalismus ist ohne die LMS undenkbar. Inwieweit sie künftig weiter anwachsen wird oder aber durch Rationalisierung (KI) wieder minimiert wird, ist eine offene Frage. So wichtig die LMS auch ist, viele ihrer bürokratischen Funktionen sind nur im Kapitalismus notwendig und selbst da kosten sie nur und haben oft keinen Nutzen für die Gesellschaft.

Die Mittelstellung der LMS bedeutet, dass sie sich einerseits mit den Interessen, Werten und Strukturen des Kapitalismus stärker als andere identifiziert, aber andererseits auch immer wieder mit diesen in Konflikt gerät, weil die Zumutungen des Kapitalismus oft auch sie treffen. Wie sich die LMS und das Kleinbürgertum politisch verhalten, hängt stark davon ab, welche Klasse sie auf ihre Seite ziehen kann. Dieses „Anziehen“ kann jedoch die mehr oder weniger bornierten Eigeninteressen dieser Schichten nicht vollständig ausschalten. Sie bleiben insofern immer „unsichere Kantonisten“. Welche Klasse – Bourgeoisie oder Proletariats – die Mittelschichten (besser: Teile von ihnen) für sich gewinnt, wird v.a. dadurch bestimmt, ob sie die Kraft entfaltet bzw. den Eindruck erweckt, soziale Krisen zu lösen bzw. den Mittelschichten eine Lösung anzubieten.

Die Mittelschichten spielen aufgrund ihrer Mittelstellung mitunter, v.a. in Situationen der sozialen und politischen Krise, die Rolle des Züngleins an der Waage. Die Bourgeoisie kann trotz ihrer Macht aufgrund ihrer Stellung als kleiner Minderheit ihre Herrschaft nicht ausüben und Krisen nicht managen, ohne die Mitte für sich zu gewinnen und zu instrumentalisieren. Selbst die Arbeiterklasse ist – trotzdem sie oft die Mehrheit der Gesellschaft stellt – nicht in der Lage, (vor)revolutionäre Krisen für sich zu entscheiden, wenn sie nicht relevante Teile der Mitte für sich gewinnt.

Die soziale Mitte wurde wiederholt in bestimmten Krisen- und Entscheidungssituationen zum entscheidenden Faktor. 1933 etwa war es die wesentlich in Kleinbürgertum und LMS verankerte faschistische Bewegung, die letztlich zum Instrument der Durchsetzung der aggressiven imperialen Ziele des deutschen Kapitals wurden. Auch heute spielen Parteien und Bewegungen, die sich auf Kleinbürgertum und LMS stützen, eine große Rolle. Die grünen Parteien und Bewegungen, aber auch studentische Bewegungen wie die 68er, durch die die gesamte Linke stark geprägt wurde, spielten oder spielen eine große Rolle. Sie waren und sind ein wichtiger Faktor bei der Umsetzung bestimmter politischer und wirtschaftlicher Projekte wie z.B. der EW oder der aktuellen Aufrüstungs- und Kriegspolitik des Westens.

Während die faschistische Bewegung eine rein reaktionäre, wenn auch mit pseudorevolutionären Phrasen getarnte, Kraft war, sind die Klimabewegung tw. mit linken Anliegen (Umweltschutz) verbunden. Doch ihr auf unwissenschaftlichen Grundlagen beruhender populistischer Aktionismus, v.a. aber die fehlende antikapitalistische Ausrichtung, ihr Reformismus, ihre Isolierung von der Arbeiterklasse und ihre Ignoranz bezüglich deren Subjektrolle führt aber zwangsläufig dazu, dass sich anfänglich „linke“ Parteien und Bewegungen immer mehr in reaktionäre Richtung verändern. Die deutschen Grünen sind ein bezeichnendes Exempel dafür.

Die relativ eigenständige und mitunter bedeutende Rolle von Mittelschichtsbewegungen ist aber nur dann möglich, wenn 1. die Bourgeoisie in einer tiefen Legitimationskrise steckt und 2. die Arbeiterbewegung sich nicht als für die Mitte attraktive Kraft in Szene setzen kann. Das war z.B. 1933 der Fall, weil sie in KPD und SPD gespalten war und beide fehlerhaften Konzepten anhingen, so dass das Kleinbürgertum ihnen nicht zutraute, sich durchzusetzen. 1968 spielte die Studentenbewegung eine große Rolle, weil die von Sozialdemokratie und Stalinismus reformistisch beherrschte Arbeiterbewegung zu passiv blieb und es versäumte, auf neue Herausforderungen (Bildung, Vietnamkrieg usw.) angemessen zu reagieren.

Heute ist die Arbeiterbewegung – nicht zu verwechseln mit der Arbeiterklasse – komplett verbürgerlicht und in das System eingebunden und deshalb sehr passiv. Das trifft bes. auf die „linken“ und sozialdemokratischen „Arbeiterparteien“ zu. Die Gewerkschaften sind immerhin noch relevante Faktoren im Widerstand, auch wenn sie ebenfalls fast nur im Rahmen bürgerlicher Konzepte und innerhalb des Lohnsystems agieren. Der Preis für das Jahrzehnte lange Versagen und Anpassen ist allerdings hoch: der Reformismus (in Deutschland SPD, DGB, LINKE) hat fast jede fortschrittliche Dynamik und Attraktivität für die Massen verloren und sieht sich mit einem dramatischen Rückgang der Zahl seiner proletarischen Mitglieder und Wähler konfrontiert. Diese Abwendung der proletarischen Basis vom Reformismus erklärt einerseits deren (wenn auch sehr begrenzte) Hinwendung zu anderen bürgerlichen Kräften und Mittelschichtsbewegungen (u.a. die AfD), verweist aber zugleich darauf, dass der Aufbau neuer antikapitalistischer Arbeiterparteien objektiv auf die Tagesordnung rückt.

Die große Rolle der LMS erfordert seitens des Marxismus, der Linken und der Arbeiterbewegung, die Organisationen, Bewegungen und Ideologien der LMS zu kritisieren und eine antikapitalistische und klassenkämpferische Alternative dazu zu formulieren. Seit Jahrzehnten ist aber genau das Gegenteil der Fall: die reformistische Linke passt sich der Mitte immer mehr an und bildet deren linke Flanke. Auch die „radikale“ Linke hat ihre Quittung erhalten: die Jugend schließt sich nicht mehr den K-Gruppen an, sondern dem „grünen“ Milieu.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert