Paul Pfundt
Es vergeht kein Tag, an dem von Politik und Medien nicht Russland als eine Macht dargestellt wird, die ihre Nachbarländer und den Westen bedroht. Als Beleg dafür gilt der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2024. Doch hierbei werden die Vorgeschichte und die Ursachen dieses Konflikts komplett ausgeblendet: die NATO-Osterweiterung (und damit die größere Bedrohung Russlands), der militärische Terror Kiews gegen die russische Mehrheitsbevölkerung im Donbass seit 2014, die mehrfachen klaren Voten und Beschlüsse der Krim schon seit 1991, nicht zur Ukraine gehören zu wollen, und die Weigerung des Kiewer Regimes (auf Druck des Westens), die Minsker Verträge und den Friedensvertrag vom März 2024 zu unterzeichnen – all das ignorieren die „Werteverteidiger“ im Westen.
Durch das Verschweigen der historischen Tatsachen und eine sehr einseitige Berichterstattung zugunsten des „Wertewestens“ erscheint Russland so als Hort des Bösen und als gefährlicher Aggressor.
Dem entgegen stehen u.a. Teile der Linken, die wiederum Russland nur als Opfer darstellen und gern verschweigen oder relativieren, dass das Putin-Regime viele undemokratische Züge aufweist, dass Russland kapitalistisch ist und ebenfalls eine imperialistische Macht darstellt, wenn auch eine, die besondere Merkmale aufweist. Im Unterschied zu westlichen imperialistischen Staaten beruht Russlands Stärke nicht auf einer starken, technisch hochentwickelten Wirtschaft und dem darauf beruhenden Kapitalexport, sondern v.a. auf seinem Rohstoffreichtum und seinen militärischen und atomaren Ressourcen. Doch Putins Plan, sein Land wieder zu einer Großmacht zu entwickeln, wie einst die UdSSR, ist nicht Ausdruck von Größenwahn, sondern folgt der durchaus rationalen Einsicht, dass Russland, wenn es dieses Ziel verfehlen sollte, zum Spielball des Westens werden würde. Die Politik Putins ist auch eine Reaktion auf die Jelzin-Periode, als Russland unter dem Einfluss neoliberaler „Berater“ westlichen Konzernen und einheimischen Oligarchen ausgeliefert und das Land damit in eine fürchterliche soziale und wirtschaftliche Lage gebracht wurde.
Seitdem Putin regiert, strebt er gleichberechtigte Beziehungen mit dem Westen an, wollte Öl und Gas verkaufen und ein „normaler“ Teil der imperialistischen Weltordnung sein. Doch die Politik der EU und v.a. Deutschlands, die mit der billigen Energie aus Russland gut gelebt hat, änderte sich – unter dem Druck der USA, die eine engere Kooperation Europas und Deutschlands mit Russland verhindern wollten. Washington gelang es während der Ära Merkel, seine Linie durchzudrücken – nicht zuletzt, weil die EU als imperialer Konkurrent der USA zunehmend ins Schlingern geraten war. Ein Ausdruck dieser US-hörigen Politik war das Eingreifen des Westens in die Innenpolitik der Ukraine durch die Unterstützung der Putschisten während des Euromaidans 2013/14 und die Installierung eines Russland-feindlichen, extrem-nationalistischen Regimes in Kiew.
Militärische Lage
Schon seit mehr als zweieinhalb Jahren wütet nun der Krieg in der Ukraine. Keine der beiden Seiten konnte bisher den Konflikt für sich entscheiden. Trotz seiner größeren Ressourcen gelang es Russlands bisher aber nicht zu siegen. Eine Ursache dafür ist die Hilfe des Westens für die Ukraine, die zwar nicht ausreicht, um Russland zu besiegen, aber bisher immerhin eine Niederlage verhindern konnte. Eine andere ist, dass das militärische Potential Russlands offenbar überschätzt wurde. Führung, Taktik, Aufklärung und Vorbereitung der Armee erwiesen sich 2022 als unzureichend. Die Einschätzung der Lage in der Ukraine und ihrer militärischer Möglichkeiten durch die Putin-Führung war falsch. Schon während der Verhandlungen der Minsker Verträge fiel Putin auf die Hinhaltepolitik des Westens herein, anstatt schon 2014 seine Landsleute im Donbass gegen den Terror Kiews aktiv und massiv zu unterstützen. So hätte u.U. der jetzige Großkonflikt verhindert werden können.
Obwohl es unübersehbar ist, welche Probleme Russland hat, die Ukraine zu besiegen, suggerieren die NATO, die Ampelregierung und der hiesige mediale Mainstream, dass Russland eine ungeheure Bedrohung darstellen würde – nicht nur für die Nachbarländer Russlands, sondern auch für Westeuropa. Um dieser Gefahr zu begegnen, werden verschiedene Maßnahmen ergriffen:
- die NATO-Kontingente im Baltikum werden ausgebaut;
- es werden verstärkt Großmanöver der NATO durchgeführt;
- die Rüstungsausgaben der europäischen NATO-Länder werden erhöht – durch Rüstungsetats von über 2% des BIP und Sonder-Etats;
- 2024 gibt allein Deutschland über 90 Milliarden Euro für die Rüstung und zusätzlich weitere Milliarden für die Ukrainehilfe aus;
- die Produktionskapazitäten der Rüstungsindustrie werden in der EU ausgebaut;
- die Streitkräfte werden modernisiert – nachdem man sich von Altmaterial, das in die Ukraine geschickt wurde, getrennt hat;
- die militärische Kooperation der NATO-Länder wird verbessert und Maßnahmen umgesetzt, um die „Wehrfähigkeit“ zu erhöhen, z.B. durch die Wiedereinführung der Wehrpflicht;
- Politik, Medien, Bildung u.a. Bereiche werden auf die neue „Bedrohungslage“ eingeschworen und „kriegstüchtig“ gemacht.
Realität vs. Propaganda
Auch wenn die meisten Medien die Fakten nicht wahrhaben wollen, zeigen diese ganz klar, dass von einer Bedrohung des Westens durch Russland, nicht die Rede sein kann. Zu diesen Fakten gehören u.a.:
- die NATO-Staaten sind (sogar ohne die USA) bezüglich der Bevölkerung, der Wirtschaftskraft und der Technologie Russland mehrfach überlegen;
- die Rüstungsausgaben der NATO-Staaten waren 2023 mehr als 12 mal so hoch wie die russischen;
- die NATO ist Russland in Bezug auf Personal und Kampfflugzeuge 5-fach und bei Flugzeugträgern sogar 17-fach überlegen;
- Russland kämpft in der Ukraine an einer 1.500 Km langen Frontlinie, gegen die NATO müsste es an einer Land- und Seegrenze von bis zu 7.000 Km antreten.
Diese Zahlen zeigen, dass Russlands Potential in keinerlei Hinsicht ausreicht, um dem Westen gefährlich werden zu können. Im Gegenteil: nach 1990 hat sich die NATO deutlich vergrößert, während der Warschauer Vertrag nicht mehr besteht und auch Russland selbst viel kleiner geworden ist. Sogar zusammen mit China wäre Russland außer hinsichtlich der Bevölkerung und der Mannschaftsstärke der NATO noch unterlegen.
Einzig beim Nuklearpotential besteht ein Patt zwischen Ost und West. Doch 1. kann ein Krieg nicht nur durch den Einsatz von Atomwaffen gewonnen werden, die Länder des Gegners müssten auch besetzt und beherrscht werden, was überlegene konventionelle Streitkräfte voraussetzt. Doch wie könnte Russland die USA besetzen?! 2. ist ein Einsatz von Kernwaffen unwahrscheinlich, da keiner Seite ein Sieg in einer weitgehend zerstörten Welt nutzen würde.
Wir sehen, dass die Erzählung von der russischen Bedrohung nichts als ein Märchen ist. Gleichwohl erfüllt es für die Herrschenden verschiedene Zwecke. Zunächst geht es darum, sich militärisch und hinsichtlich der Rüstungskapazitäten auf weitere globale Konflikte vorzubereiten. Insofern verweist die gegenwärtige Militarisierungspolitik auch darauf, dass sich die imperialistische Weltordnung auf mehr Konflikte und mehr Kriege zubewegt. Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, der Clinch um Taiwan und die zunehmenden Konflikte zwischen China und den USA zeigen das schon heute.
Ein zweiter Effekt der Aufrüstung ist die Umstellung der kriselnden Wirtschaft – gerade in Deutschland – auf eine stärker auf der Rüstung beruhende Ökonomie. Diese wäre dann umso enger mit dem Staat verknüpft, ja von ihm letztlich subventioniert. Dieses Modell einer stärker etatistischen Wirtschaft hat sich ja schon seit etwa 30 Jahren bei der Energiewende „bewährt“. Die Finanzierung von Militär und Rüstung durch Steuern bedeutet natürlich auch, dass in anderen Bereichen (Bildung, Soziales, Gesundheit, Infrastruktur usw.) Mittel fehlen. Dadurch könnten sich auch die strukturellen Probleme vergrößern, mit denen Deutschland schon seit Jahren nicht fertig wird. So mag Deutschland dann vielleicht militärisch stärker dastehen als heute, aber dort, wo die Zukunft „gemacht“ wird – in Technologie, Bildung, Innovation, Infrastruktur usw. – wird man eher noch weiter zurückfallen. Deutschlands neue „Größe“ stände dann auf tönernen Füßen.
Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass die Versuche, Deutschland „kriegstüchtig“ zu machen, auch dazu dienen, die Bevölkerung für die imperialen Ambitionen der NATO, der USA und in ihrem Windschatten Deutschland fit zu machen. Dabei wird eine krude Mischung aus Angst vor Russland und China mit einem nationalistischen „Wir sind wieder wer“ verbunden.
Kernwaffen in Deutschland
Eine neue Stufe hat der Militarismus hierzulande nun auch dadurch erreicht, dass die Ampel-Regierung in ihrer grenzenlosen Weisheit der Stationierung weiterer US-Mittelstreckenraketen (Cruise missiles) neben den bereits hier stationierten US-Atomwaffen zugestimmt hat. Diese Maßnahme ist in mehrfacher Hinsicht markant. Erstens zeigt sie, dass das Parlament nur eine pseudo-demokratische Staffage ist, denn die Stationierung von Atomwaffen braucht keine Zustimmung des Parlaments. Zweitens können die Cruise missile-Marschflugkörper mit konventionellen oder mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden. Dadurch steigt die Gefahr, dass der Gegner selbst einen konventionellen Angriff für einen nuklearen hält und mit dem Einsatz von Kernwaffen antwortet. Drittens wird Deutschland dadurch, dass es Kernwaffen auf seinem Territorium stationiert, selbst zu einem „Premium-Ziel“.
Dieser neue Kniefall der Ampel vor der aggressiven Strategie der USA erhöht nicht nur praktisch, sondern auch völkerrechtlich die Gefahr, dass Deutschland von Russland als Feind betrachtet wird. Bereits die militärische und finanzielle Unterstützung für die Ukraine, z.B. durch die Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland, hat die Bundesrepublik praktisch zum Gegner Russlands gemacht. Ohne demokratische Debatte, ohne Skrupel und ohne irgendwelche Lehren aus der Geschichte zu ziehen, haben Scholz, Baerbock, Pistorius, Strack-Zimmermann und die meisten deutschen Politiker das Land zur Kriegspartei gemacht. Das ist ihre Art, „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden“, wie es die Verfassung fordert.
Widerstand?
Die Stationierung neuer Atom-Raketen in der BRD und in der DDR Ende der 1970er provozierte damals eine breite Friedensbewegung – im Westen und sogar in der DDR. Während in der DDR die Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ v.a. von der Kirche ausging, waren in der BRD verschiedene Milieus beteiligt: die Friedensbewegung, Kirchen, Gewerkschaften und die politische Linke. Selbst die Führer in Ost und West – Erich Honecker und Helmut Schmidt – trugen zwar die Raketenstationierung mit, traten damals aber zumindest verbal für den Abbau der militärischen Konfrontation ein.
Heute ist die Situation sehr anders. Zum einen ist sich das Establishment bis auf wenige Ausnahmen (LINKE, BSW, tw. AfD) darin einig, Deutschland „kriegstüchtig“ zu machen und befürwortet auch die Stationierung neuer Raketen in Deutschland. Kritische Stimmen, Bedenken oder gar Ablehnung kommen kaum vor. Gab es in den 1970ern noch etliche linke Intellektuelle, die grundsätzlich oppositionell bzw. antikapitalistisch eingestellt waren, so kann man diese heute mit der Lupe suchen und selbst die Linkeren haben kaum eine wirklich systemkritische Haltung. Zum anderen – und das ist der wichtigste Faktor – ist die Opposition in Form einer Bewegung weit schwächer als damals. Die Friedensbewegung ist gespalten und kaum in der Lage, stärker zu mobilisieren, die Gewerkschaften befinden sich fest im Griff ihrer Apparate, die weitgehend die Ukraine- und „Sicherheits“politik der Regierung mittragen. Die „radikale Linke“ ist über die Kriegsfrage gespalten und zudem derart sektiererisch, dass von ihr keine Impulse ausgehen.
Die SPD
Die SPD als stärkster Faktor der Ampel und ihr Kanzler Olaf Scholz agierten im Vergleich zu Grünen, FDP und Union bisher eher als Bedenkenträger und Verzögerer, was ihre Position zur Ukraine angeht, zugleich aber – und nur das zählt letztlich – tragen sie den Kriegskurs nicht nur mit, sondern stellen auch zentrale Akteure und Scharfmacher wie Innenministerin Faeser und Verteidigungsminister Praetorius.
Zur Stationierung neuer NATO-Raketen in Deutschland erklärte die SPD-Führung: „Die Vereinbarung der SPD-geführten Bundesregierung mit der US-Administration, ab 2026 US-amerikanische Raketen mit größerer Reichweite in Deutschland zu stationieren … ist eine Reaktion auf den eklatanten Völkerrechtsbruch Russlands in der Ukraine und trägt der Bedrohung Europas durch die massive russische Aufrüstung der vergangenen Jahre gerade im Bereich der Raketen mittlerer Reichweite Rechnung. Er stärkt die europäische Sicherheitsarchitektur zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und Europa.“
Diese Argumentation ist an Verlogenheit, Einseitigkeit und Ignoranz gegenüber den Fakten kaum zu überbieten. Die SPD knüpft damit nahtlos an ihre Politik seit 1914 an, die imperialen Projekte Deutschlands und der NATO mitzutragen bzw. den Widerstand dagegen zu blockieren. Das ist einer der Gründe dafür, warum die SPD sich auf einem historischen Abwärtskurs befindet und für das Gros der Lohnabhängigen kein Attraktionspol mehr ist.
Das BSW
Das BSW von Sahra Wagenknecht war angetreten, sich dieser Politik entgegenzustellen und sich v.a. in der Kriegsfrage gegen den bürgerlichen Mainstream, aber auch gegen die Halbheit der Politik der LINKEN zu stellen. Nun erklärte Wagenknecht in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland zu den anstehenden Landtagswahlen im Osten: „Das BSW wird sich nur an einer Landesregierung beteiligen, die die US-Raketenpläne, die die Kriegsgefahr für Deutschland massiv erhöhen, klar ablehnt. Diese Waffen schließen keine Verteidigungslücke, sondern sind Angriffswaffen, die Deutschland zu einem primären Ziel russischer Atomraketen machen würden“. Das BSW werde nur dann in eine Landesregierung eintreten, wenn diese „klar Position für Diplomatie und gegen Kriegsvorbereitungen“ beziehe.
So weit, so gut. Aber diese Position Wagenknechts bedeutet auch, dass das BSW grundsätzlich bereit ist, einer bürgerlichen Regierung beizutreten und damit auch deren „Sicherheitspolitik“ und deren Haushalte mitzutragen. Damit führt das BSW die fatale und desaströse Politik des Mitregierens der LINKEN weiter. Doch damit nicht genug: von Wagenknecht gab es seit Januar, als das BSW gegründet wurde, keinen einzigen Vorschlag dafür oder gar eine Initiative dazu, wie eine stärkere Friedensbewegung aufgebaut werden könnte. Das BSW ist als junger, aber schon kariöser politischer Tiger gestartet und bereits jetzt als Bettvorleger gelandet. Wenn Kapital und Regierung solche Gegner haben, muss ihnen nicht Bange sein. Bange sein muss aber den Menschen im Lande, weil es immer tiefer in den Strudel von Krieg, Rüstung und Militarisierung hineingezogen wird und dafür immer mehr Mittel vergeudet werden, die an anderer Stelle dringend gebraucht werden.
Nach vielen Jahrzehnten des Friedens in Europa erweisen sich heute alle Hoffnungen, dass nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes 1990 eine Ära des Friedens, der Entspannung und Abrüstung beginnen würde, als Illusion. Diese Wünsche zerschellen an den Widersprüchen, Krisen und Feindseligkeiten der imperialistischen Weltordnung. An der alten Wahrheit, dass Kapitalismus Krieg bedeutet, hat sich nichts geändert. Pazifistische Losungen wie „Diplomaten statt Granaten“ sind gut gemeint; doch Frieden kann nur entstehen, wenn er von der Arbeiterbewegung erkämpft wird; Diplomaten, Verträge und internationale Gremien wie die UNO haben noch nie Kriege verhindert, sondern nur die Zeit bis zum nächsten Krieg gemanagt.