Als „Übergangsprogramm“ wurde das Gründungsprogramm der IV. Internationale bekannt, das 1938 von Leo Trotzki, neben Lenin der bedeutendste Führer der Russischen Revolution, geschrieben wurde. Das Übergangsprogramm (ÜP) ist ein wichtiger Beitrag zur Weiterentwicklung der revolutionären Programmatik.
Schon immer hat sich die revolutionäre Linke darüber Gedanken gemacht, wie der alltägliche Klassenkampf für konkrete Verbesserungen und Reformen mit der Überwindung des Kapitalismus verbunden werden kann. Bis 1917 gab es dazu aber – im Sinne eines Systems von Taktiken, eines Programms – nur Ansätze. Das hatte zwei Gründe: 1. waren die Arbeiterbewegung und der Klassenkampf erst am Ende des 19. Jahrhunderts so weit entwickelt, dass bestimmte Erfahrungen vorlagen, die theoretisch verarbeitet werden konnten, so z.B. die „Generalstreikdebatte“ sowie das erstmalige Entstehen von authentischen Arbeiterräten (Sowjets) in der Revolution von 1905 in Russland.
Ein qualitativer Sprung erfolgte dann 1917 – allerdings weniger durch theoretische Erwägungen oder die bewusste Umsetzung von programmatischen Prämissen, sondern durch das praktische revolutionäre Handeln des Proletariats. Weniger schon zu Beginn der Revolution im Februar 1917, sondern erst ab Frühjahr, insbesondere mit Lenins „Aprilthesen“, war die bolschewistische Partei als revolutionärer Faktor zunehmend von Bedeutung. Die Politik der Bolschewiki, ihre Methode und die konkreten Taktiken, die sie anwendeten, führten zu einem System von Politik, zu einer „Programmatik“. Allerdings wurde diese in der stringenten Form eines Programms mit Forderungen, Taktiken, mit konkreten Strukturen, Organisationsformen usw. eben erst 1938 von Trotzki formuliert.
Trotzki fasst darin die über Jahrzehnte gesammelten positiven wie negativen Erfahrungen aus den revolutionären Klassenkämpfen, insbesondere von 1917, zusammen. Trotzkis Methode war dabei die, an den konkreten Klassenkämpfen, am gegebenen Bewusstsein der Klasse, an deren Organisations- und Kampfformen anzuknüpfen, diese zugleich aber so zu verändern und zu entwickeln, dass sich dabei die Klasse, ihr Kampf, ihr Bewusstsein und ihre Strukturen sich weiterentwickeln und so eine Dynamik der Überwindung des Kapitalismus entsteht, die zur Eroberung der politischen Macht führt.
Das Wesen des ÜP besteht darin, dass das Proletariat eigene Strukturen aufbaut, die sie selbst demokratisch kontrolliert und als Kampforgane nutzt. Dazu gehören Streikkomitees, Preiskontrollkomitees, Organe zur Kontrolle von Produktion und Buchführung der Unternehmen usw.. Diese Organe von Arbeitermacht kulminieren in der Forderung nach Schaffung von Räten als (alternativen) Machtorganen und von Arbeitermilizen. Alle diese Strukturen münden dann und sind die Basis für eine revolutionäre Arbeiterregierung.
Daneben betont Trotzki immer wieder die Notwendigkeit einer revolutionären Partei und der Umwandlung der Arbeiterorganisationen, v.a. der Gewerkschaften, in wirkliche Kampforgane der Arbeitermassen, die deren direkter demokratischer Kontrolle unterliegen. Im Unterschied etwa zu „Räte-KommunistInnen“ oder AnarchistInnen, welche das Rätesystem oft fetischisieren, vertritt Trotzki zu recht die Meinung, dass auch Räte nicht per se revolutionär sind, sondern nur dann, wenn in ihnen RevolutionärInnen bzw. eine revolutionäre Partei die Politik bestimmen. So gab es z.B. auch in der deutschen Revolution von 1918 Räte, die aber oft weder revolutionär noch proletarisch waren.
Trotzkis Methode besteht nicht (nur) darin, das Bewusstsein der Klasse durch den Einfluss der Partei zu heben oder gar darin, dass überhaupt nur die Partei jener Faktor wäre, der die Klasse zum Sturz des Kapitalismus führt. Für Trotzki entwickeln sich Bewusstsein, Organisation und Aktion der Klasse auch und v.a. dadurch weiter, dass die Massen selbst Erfahrungen im Kampf sammeln und von den Ereignissen, die sie weiter treiben, selbst weiter getrieben werden. Ohne es explizit auszusprechen, knüpft Trotzki damit auch direkt an Marx´ Vorstellungen von Klassenbewusstsein und Klassenkampf an, die sich in der sozialen Praxis äußern und umwälzen.
Trotzki frönt keinem abstrakten, voraussetzungslosen „Radikalismus“. Vielmehr betont er, dass die Umsetzung der Forderungen des ÜP vom Niveau des Klassenkampfes abhängen und bestimmte Forderungen (Räte, Milizen, Arbeiterregierung) natürlich nur in Momenten zugespitzter Klassenkämpfe und in (vor)revolutionären Situationen umsetzbar sind – was nicht bedeutet, sie nur dann – propagandistisch – aufzustellen.
Das ÜP beruht grundsätzlich auf der Einheitsfronttaktik (EF). Es geht immer darum, möglichst große Teile der Klasse in den Kampf einzubeziehen und ihr Bewusstsein im doppelten Licht der selbst gemachten Erfahrungen und der von den verschiedenen beteiligten politischen Kräften eingebrachten Vorschläge zu verändern. Diese Einheitsfront-Methode unterscheidet sich diametral sowohl von der Volksfront, welche die Massen gerade von der Selbstorganisation in eigenen Klassenstrukturen abbringen will, als auch von der links-sektiererischen Politik der Stalinisten a la „Dritte Periode“ und der RGO-Politik, welche die revolutionären Kräfte von den Massen und ihren Organisationen (Gewerkschaften) separieren und diese somit dem Einfluss des Reformismus überlassen.
Heute treffen wir – selbst bei denen, die sich positiv auf das ÜP beziehen – häufig auf ein Verständnis, das mit jenem Trotzkis wenig zu tun hat und die revolutionäre Sprengkraft des ÜP entschärft. Dazu zählt etwa die Methode, einzelne seiner Forderungen aus dem Zusammenhang zu reißen. Doch das ÜP entfaltet seine revolutionäre Dynamik nur als Komplex, als System von Forderungen. Keine einzelne Forderung hat für sich genommen eine besondere revolutionäre „Zauberkraft“. Was etwa nützt die Forderung nach Arbeiterkontrolle über die Produktion ohne die flankierende Forderung etwa nach Streikposten, welche absichern können, dass ein Betrieb nicht schon am nächsten Tag von Streikbrechern übernommen und die Belegschaft nach Hause geschickt wird?! Wozu regionale Räte, wenn die Forderung, diese in einer Arbeiterregierung national zu zentralisieren und die bürgerliche Regierung zu ersetzen, fehlt?!
Eine andere Form von Missverständnis besteht darin, dass Linke bestimmte Forderungen zwar „allgemein“ für richtig halten, sie jedoch nicht öffentlich vertreten, weil man sonst jemand „verschrecken“ könnte. Falsch ist aber auch das Gegenteil dieses „verschämten Opportunismus“, mit Forderungen aus dem ÜP in die Tür zu poltern, ohne diese zu erklären und in eine konkrete Gesamtpolitik einzubauen und am aktuellen Bewusstsein der Klasse anzudocken. Das mag die eigene Radikalität unter Beweis stellen, es geht jedoch darum, die „Radikalität“ der Klasse zu befördern.
Es gibt allerdings auch Grenzen und Beschränkungen in den Auffassungen Trotzkis, die meist auch den „TrotzkistInnen“ nicht bewusst sind. Worin bestehen diese?
Zum einen knüpft Trotzki im ÜP zwar an Marx´ Vorstellungen von Klassenbewusstsein und Klassenkampf an, setzt sich aber andererseits nicht mit den davon tendenziell durchaus abweichenden Auffassungen Lenins (der dabei wiederum an Kautsky anknüpft) auseinander. Lenins Auffassung (und die der Bolschewiki insgesamt) beschränkt nämlich das (Klassen)Bewusstsein nur auf den Bereich der Politik und der Ideologie. Für Marx, für den der Mensch „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ war, für den das Bewusstsein sich in der sozialen Praxis äußert und sich in dieser und durch diese „umwälzt“, zählt also nicht nur der Bereich der Politik und der Ideologie.
Für Lenin ging es darum, die Partei aufzubauen, für ihn war die Vorhut des Proletariats fast deckungsgleich mit der Partei. Das ist auch nicht ganz falsch. Aber daraus folgte bei Lenin eine Überbetonung der Partei und eine tendenzielle Unterschätzung anderer Organe, Strukturen und Praxisbereiche. Ganz konkret kam das etwa darin zum Ausdruck, dass dem Sowjetsystem schon sehr früh, insbesondere nach dem Sieg im Bürgerkrieg 1921 eine Partei-Staats-Hierarchie „übergestülpt“ und damit der Bürokratisierung (wenn auch ungewollt) Vorschub geleistet wurde.
In die gleiche falsche Richtung weist auch Lenins Konzept eines „Staatskapitalismus unter Arbeiterherrschaft“. Dazu passt auch die permanente Unterschätzung von Strukturen proletarischer Selbstverwaltung und der Genossenschaften. Diese theoretisch-programmatische „Schieflage“ durchzieht das gesamte Werk Lenins, u.a. auch „Staat und Revolution“. Spätestens, nachdem der Bürgerkrieg vorbei, die Frage der Macht endgültig geklärt war und der friedliche Aufbau begann, fand eine Verschiebung von der Ebene des „Machtkampfes“ und der Politik hin zur Ökonomie, zur Kultur, zur Bildungspolitik und zum „Alltagsleben“ statt. Hier war es entscheidend, die Erfahrungen, das Wissen und die Schöpferkraft der Massen zu nutzen und zu entwickeln. Dabei spielt auch die Partei eine Rolle, sie ist hier jedoch – anders als noch in Revolution und Bürgerkrieg – weder der einzig entscheidende Faktor noch gar die relevante Autorität. Die Partei ist eben eine politische Struktur und ihre Arena ist v.a. die Politik.
Anstatt aber den Paradigmenwechsel nach 1921 zu verstehen, beharrten die Bolschewiki weiter darauf, in allen Bereichen als Spiritus rector, als „Bestimmer“ aufzutreten. Das führte dazu – und musste dazu führen, dass die Massen entmündigt und untergeordnet wurden; es führte zur Entmachtung der Massen und zur Herrschaft der Bürokratie.
Im ÜP bestätigte Trotzki seine Einschätzung der UdSSR als eines „degenerierten Arbeiterstaats“. Er kritisierte die Fehlentwicklungen unter Stalin nicht nur, er betonte, dass die herrschende Bürokratie nicht reformiert, sondern durch eine – aber nur „politische“, nicht soziale – Revolution des Proletariats gestürzt werden müsse. Bei aller Berechtigung und Klarheit seiner Kritik am Stalinismus fehlt Trotzkis Analyse aber die Erkenntnis, dass die UdSSR ab Ende der 1920er Jahre staatskapitalistisch und kein Arbeiterstaat mehr war. Zum anderen versteht Trotzki nicht die Fehler in der politischen und Gesellschaftsstrategie Lenins und der Bolschewiki, die er auch selbst mitgetragen hatte. Die Frage, die sich schon damals Viele gestellt haben – warum die UdSSR unter Stalin derart degenerieren konnte – wird von Trotzki fast nur aus objektiven Faktoren (Bürgerkrieg, Mangel, Rückständigkeit, Stagnation des weltrevolutionären Prozesses) erklärt, die Bedeutung des subjektiven Faktors – der Politik der Bolschewiki – wird hingegen viel zu wenig betrachtet.
Diese Probleme zeigen sich im ÜP nicht nur in Form der fehlenden Kritik an diesen konzeptionellen Fehlern, sondern auch darin, dass von Strukturen proletarischer Selbstverwaltung und Genossenschaften entweder gar nicht die Rede ist oder sie nur in Bezug auf die politische Ebene erwähnt werden (Räte, Milizen). Selbstverwaltungsstrukturen entstehen aber nicht erst in zugespitzten Klassenkampfsituationen, sondern auch schon in „ruhigen“ Zeiten. Das führt kurioserweise gerade dazu, dass der Übergang, der Zusammenhang, die Brücke zwischen der revolutionären Zuspitzung und dem „Alltag“ des Klassenkampfes, den ja das ÜP gerade sein will, wieder aufreißt, indem der Zusammenhang zwischen der proletarischen Selbstverwaltung und der Revolution weitgehend ausgeblendet wird.
Trotz dieser Einschränkungen stellt das ÜP einen großen Schritt vorwärts in der Entwicklung der revolutionären Programmatik dar. Die im ÜP dargelegte Methode des Klassenkampfs ist die einzig mögliche und sinnvolle, um den Klassenkampf erfolgreich und bis zum Sturz des Kapitalismus zu führen.