Vom degenerierten Arbeiterstaat zum Staatskapitalismus
Hanns Graaf
Wir bezeichnen Sowjetrussland bzw. die UdSSR bis Ende der 1920er Jahre als degenerierten Arbeiterstaat. Diese Kategorie beschreibt einerseits die Tatsache, dass mit der Oktoberrevolution (bzw. in den Monaten danach) das Kapital enteignet, der bürgerliche Staatsapparat weitgehend zerschlagen wurde und das Proletariat (v.a. in Gestalt der bolschewistischen Partei) die politisch-administrative Macht übernommen hat. Deformiert war der Arbeiterstaat insofern, als sowohl die Rätemacht des Proletariats und dessen Zugriff auf die Produktionsmittel – die industriellen und umso mehr die agrarischen – noch sehr unzureichend entwickelt war. Die Tendenzen zur Bürokratisierung begannen schon 1918/19, tw. aufgrund einer fehlerhaften Konzeption der Bolschewiki („Staatskapitalismus“ in der Wirtschaft, Parteistaat), v.a. aber aufgrund ungünstiger Umstände (Kleinheit des Proletariats, Unterentwicklung seiner sozialen Kompetenzen, Rückständigkeit, Krieg, Bürgerkrieg, Krise, Hunger).
Die erste Gelegenheit, eine Gesundung des Arbeiterstaates zu bewirken, war das Jahr 1921, als der Bürgerkrieg gewonnen und die Macht der Bolschewiki gesichert war. Kronstadt, Massenstreiks der Arbeiterschaft, Bauernaufstände und innerparteiliche Oppositionen waren zur Jahreswende 1920/21 deutliche Zeichen dafür, dass ein Kurswechsel nötig war. Die Phase des „Kriegskommunismus“ war abgeschlossen, die Potenzen der administrativen Zwangspolitik waren weitgehend erschöpft. Der X. Parteitag im März 1921 (parallel zu Kronstadt) konnte und musste diese Kursänderung einleiten. Mit der Neuen ökonomischen Politik (NÖP) geschah das auch, v.a. hinsichtlich größerer, aber begrenzter Freiheiten für den privatwirtschaftlichen Sektor. In politischer Hinsicht jedoch wurde der Kurswechsel versäumt. Es gab weder konkrete Maßnahmen, um die darnieder liegende Rätedemokratie zu beleben, noch erfolgten ernsthafte Schritte, um den wachsenden Einfluss der Bürokratie zu bekämpfen. Während die NÖP durchaus erfolgreich war, sollten sich die Versäumnisse auf dem Feld von Politik und Staat noch bitter rächen: in Form der Stärkung der Bürokratie und ihres Aufstiegs zur Macht und der Inthronisierung Stalins als ihres politischen Zentrums.
Noch bis Ende der 1920er Jahre war es objektiv möglich, die Degeneration der UdSSR zu stoppen. Doch mangelte es dafür letztlich an den sozialen Kräften und an einer entsprechenden Konzeption der Partei bzw. an einer in den Massen verwurzelten kommunistischen Opposition. Nun rächte es sich nicht nur, dass 1921 die „Arbeiteropposition“ verboten wurde; mehr noch fiel ins Gewicht, dass Lenin und die Bolschewiki in bestimmten Fragen, v.a. der Wirtschaft und der Gesellschaftskonzeption, bestimmte falsche Positionen der II. Internationale nicht überwunden hatten. Der einzig relevante oppositionelle Ansatz war die „Linke Opposition“ um Trotzki, die aber bis Ende der 1920er ausgeschaltet war und zudem auch keine stärkere Verankerung im Proletariat hatte.
Entwicklungen Mitte der 1920er
Die Entwicklung der UdSSR war wirtschaftlich bis Mitte/Ende der 1920er durchaus erfolgreich. Unter sehr schwierigen Bedingungen gelang es, die Zerstörungen der Wirtschaft und der Infrastruktur zu beheben, den permanenten Hunger zu beenden und den Lebensstandard nach und nach anzuheben. Mitte der 1920er war das Vorkriegslevel der Industrieproduktion (jedoch nicht der Agrarproduktion) wieder erreicht worden.
Der wirtschaftliche Aufschwung war eng mit dem Namen von Felix Dzerzynski verbunden, der nicht nur das zerstörte Transportwesen innerhalb weniger Jahre wieder herstellte, sondern auch in leitender Position (parallel zur Leitung der Tscheka/GPU) die Wirtschaftsentwicklung prägte. Doch er starb bereits 1926. Seine Wirtschaftspolitik unterschied sich in mehreren Punkten deutlich und vorteilhaft von jener, die ab Ende der 1920er unter Stalin praktiziert wurde. Unter Dzerzynski erfolgte eine forcierte Industrialisierung, v.a. wurde das Energiesystem entwickelt und dabei Lenins Plan zur Elektrifizierung (GOELRO-Plan) voran getrieben. Die Schwerindustrie und die Produktion von Traktoren für die Landwirtschaft wurden ausgebaut. Doch Dzerzynski ging es auch darum, die Arbeitsproduktivität und die Erzeugnisqualität zu steigern – zwei Bereiche, die über Jahrzehnte problematisch blieben. Er bekämpfte die ausufernde und ineffiziente Bürokratie, versuchte, die Lage der ArbeiterInnen zu bessern und legte Wert darauf, die Meinungen und die Kritik der Belegschaften und der Gewerkschaften in seine Pläne einzubinden.
Im Unterschied zur späteren Autarkiepolitik unter Stalin wollte zwar auch Dzerzynski eine Abhängigkeit vom Westen vermeiden, jedoch zielte seine Wirtschaftspolitik auf die Intensivierung des Handels und der Kooperation mit dem kapitalistischen Weltmarkt. Dabei wurde besonders die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit betont. Dzerzynski lehnte unrealistische und überzogene Pläne und Projekte, die unter Stalin üblich wurden, ab. Ergebnis dieser so ambitionierten wie realistischen Konzeption war die schnelle Überwindung der Zerstörungen und der Wirtschaftskrise und die Schaffung von Grundlagen einer weiteren dynamischen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung.
So zeigte die UdSSR Mitte der 1920er Jahre das Bild einer Gesellschaft, die sich unter schwierigen Bedingungen zügig entwickelte. Die NÖP hatte sich als eine für diese Phase geeignete Taktik erwiesen. Obwohl es auch damals schon starke Tendenzen der Bürokratisierung gab und das Sowjet-System stark davon beeinträchtigt war, existierte es noch. In den 1920ern gab es eine Art Doppelmacht im staatlich-administrativen Sektor: einerseits das Sowjetsystem, andererseits hatte die Bürokratie ihre Strukturen neben und gegen das Sowjetsystem ausgebaut. Die Frage, welche Seite sich durchsetzen würde, spitzte sich immer mehr zu. Sie wurde Ende der 1920er endgültig zugunsten der Bürokratie entschieden. Auch die Wirtschaft wurde noch vom Proletariat (tw. in Form rätedemokratischer Organe, tw. in Gestalt des Partei-Staats-Apparats) „mit“bestimmt. Insofern war die UdSSR damals tatsächlich noch ein degenerierter Arbeiterstaat. In welche Richtung – in Richtung Kommunismus oder in Richtung (Staats)kapitalismus – sich das Land künftig entwickeln würde, war bis Ende der 1920er noch offen. Abgesehen von objektiven äußeren Bedingungen warf das aber v.a. die Frage der inneren Entwicklungsfaktoren auf.
Das Proletariat
Der Marxismus sieht im Proletariat den entscheidenden Faktor für die Schaffung der Grundlagen des Kommunismus. In der UdSSR bestand das Problem aber darin, dass die Arbeiterklasse aus mehreren Gründen daran gehindert war, ihre Subjektrolle voll auszuspielen. Das russische Proletariat (hier nicht im Sinne von „russisch“, sondern im Sinne von „Arbeiterklasse der UdSSR“) war erstens – gemessen an der Größe des Landes – sehr klein, zweitens verfügte es nur über begrenzte soziale und politisch-demokratische Fähigkeiten (Lenin sprach oft vom fehlenden Kulturniveau), auf die beim Aufbau des Sozialismus hätte zurückgegriffen werden können. Zudem wurde die Arbeiterklasse erheblich dezimiert: durch den Krieg, den Bürgerkrieg, durch Wirtschaftskrise und Hunger, durch die Einbindung – v.a. der klassenbewussten Vorhut – in die Rote Armee, in die Tscheka und in den schnell überbordenden Staats- und Parteiapparat. Die Erosion der Basis des Rätesystems, v.a. der Betriebskomitees, ist stark darauf zurückzuführen, dass die klassenbewusstesten ArbeiterInnen zu Apparatschiks im Partei- und Staatsapparat wurden, der zunehmend weniger mit den „eigentlichen“ Sowjetstrukturen zu tun hatte. Aufgrund der strukturellen Schwäche und Unterentwicklung des Proletariats und seiner rätedemokratischen Basisstrukturen fielen immer mehr Verwaltungs- und Entwicklungsaufgaben der Bürokratie zu.
Gerade in einer solchen Situation kommt es entscheidend auf die Vorhut der Klasse an. Diese ist normalerweise in verschiedenen Strukturen und Bereichen anzutreffen: in der Partei, in den Gewerkschaften, in den Räten und in den selbstverwalteten (genossenschaftlichen) Strukturen. Aufgrund des Niedergangs der Sowjetstrukturen, der ohnehin geringen Bedeutung der Gewerkschaften im (vor)revolutionären Russland und des weitgehenden Fehlens von proletarischer Selbstverwaltung (auch wegen der diesbezüglichen Ignoranz der Bolschewiki) sammelte sich die proletarische Vorhut fast nur im Partei- und Staatsapparat (inkl. der Armee und der Tscheka). In diesen Strukturen nahm die Partei bzw. der Parteiapparat die entscheidende Stellung ein. Die „ Arbeitermacht“ war sozusagen auf die Partei zusammengeschmolzen. Insofern hing fast alles davon ab, wie die Partei agiert, was ihre Konzeption ist; es hing alles davon ab, ob es gelingt, das Gesamtsystem von proletarischer Räte-Macht wieder bzw. überhaupt zu etablieren.
Zwangen Bürgerkrieg und Versorgungskrise dazu, das bürokratisch-administrativ-zentralistische Zwangsregime immer weiter auszubauen (Kriegskommunismus), war es ab 1921 möglich und notwendig, dieses wieder zurückzudrängen und eine Demokratisierung einzuleiten. Das aber wurde, wie wir oben skizziert haben, versäumt. Im Zuge der Überwindung der Krise war es einerseits so, dass sich das Proletariat sozial (was nicht identisch ist mit „politisch“) reorganisieren konnte. Zugleich aber wuchsen der administrative Einfluss der Bürokratie und ihre soziale Lage wurde besser – und abgehobener. Schon die Streiks in Moskau und Petrograd Ende 1920/Anfang 1921 hatten den abgehobenen Lebensstil von Teilen des Apparats angeprangert.
Schon vor, insbesondere aber nach dem Tod Lenins gelang es Stalin, den Parteiapparat nach seinen Vorstellungen zu formen, d.h. „seine“ Leute zu platzieren und sie aufgrund ihrer Karriere, die sie ihm verdankten, an ihn zu binden. Der Apparat war zunehmend nicht mehr der Kontrolle und dem Einfluss der Basis unterworfen, sondern der jeweils höheren Ebene mit dem Generalsekretär Stalin an der Spitze. Die Delegierten der Partei- und Sowjetkongresse kamen nun in immer größeren Maße aus den Reihen der Funktionäre. Bilder dieser Ereignisse zeigen das sehr anschaulich: der Anteil von Uniformträgern und Anzugträgern wurde immer größer. In wenigen Jahren hatte sich auch die soziale Zusammensetzung der Partei und der „Staatsbeamten“ gravierend verändert: die kleine Garde der alten Bolschewiki war zu einer verschwindenden Minderheit geworden. Der staatliche Verwaltungsapparat bestand ohnehin in starkem Maße aus den alten Verwaltungsbeamten. Immer mehr Mitglieder und Funktionäre verdankten der Revolution mehr, als sie ihnen. Proletarische Macht hieß für sie sozialer Aufstieg.
Trotzkis Kritik an Stalin
Ab Mitte der 1920er erfolgte auch eine ideologische Umorientierung. Im Zentrum aller Bemühungen stand nun nicht mehr die Revolution und ihre Verteidigung bzw. Ausweitung, sondern der friedliche Aufbau, die „nachholende Entwicklung“, die Modernisierung. Diese stärkere Innenorientierung wurde durch das Ausbleiben oder das Scheitern der Revolutionen in anderen Ländern begünstigt. Relativ unabhängig davon rückte nun die Frage ins Zentrum, mit welchem Ziel, mit welchen Methoden die soziale Entwicklung der UdSSR vollzogen werden sollte.
Gegenüber der Konzeption von Lenin, Trotzki und den Bolschewiki um 1917, welche die Revolutionierung Russlands in den Kontext der Weltrevolution gestellt hatten, betonte Stalin mit seiner Konzeption vom „Sozialismus in einem Land“, die er erstmals 1924 verkündete, dass es möglich wäre, dass die UdSSR notfalls auch auf sich allein gestellt zum Sozialismus gelangen könnte. Diese Auffassung bezog sich auch auf Äußerungen Lenins, wo er die Übergangsgesellschaft (Diktatur des Proletariats) „Sozialismus“ genannt hatte, obwohl Marx (vgl. seine Formulierung in den „Randglossen zum Gothaer Programm“) die Übergangsphase von der Phase des Sozialismus/Kommunismus klar unterschieden hatte. Stalin stützte sich bei seiner Auffassung auf zwei reale Fakten: 1. auf die Erfolge bei der Entwicklung der UdSSR schon bis 1924 und 2. darauf, dass das riesige Land objektiv über alle Ressourcen für eine erfolgreiche Entwicklung verfügt. Bei der UdSSR handelte es sich zudem auch nicht einfach um ein Land, sondern eher um einen ganzen Erdteil. Stalin hatte sich damals auch nicht von der Weltrevolution losgesagt, er hat sie eher als wünschenswert und vorteilhaft, aber kurzfristig nicht als entscheidend angesehen. In Keimform war aber schon damals konzeptionell angelegt, was dann in den 1930er Jahren in Stalins diktatorischen Staatskapitalismus und die konterrevolutionäre Volksfrontpolitik münden sollte.
Trotzki kritisierte Stalins Formel vom „Sozialismus in einem Land“ scharf. Doch seine Kritik war in bestimmter Hinsicht unglücklich. Er betonte, dass es unmöglich sei, dass ein isoliertes und noch dazu rückständiges Land wie die UdSSR zum Sozialismus gelangen könnte. Da aber auch Trotzki, genau wie Stalin, nicht in Abrede stellte, dass sich das Land industrialisieren und sozial entwickeln könne, lief Trotzkis Kritik auf die Frage hinaus, ob eine höher entwickelte UdSSR als sozialistisch bezeichnet werden könnte oder nicht. Es war ein Streit um eine Kategorie. Dass sich Stalins Formel als Zielvorstellung und Motivation für die Modernisierung Trotzkis „Skeptizismus“ als überlegen, d.h. als populärer erwies, kann daher kaum verwundern.
Trotzkis Kritik hätte vielmehr dort ansetzen müssen, wo es um den Charakter, den sozialen Gehalt, die Methoden, letztlich um den Klassencharakter der Modernisierung ging. Gerade da stimmte Trotzki aber weitgehend mit Stalins Modell überein, dass eine „sozialistische“ Wirtschaft eine hochzentralisierte Staatswirtschaft sein müsse. Das Fehlen von Demokratie sah Trotzki eher als Fehlen eines Attributs an, nicht als grundlegenden Konstruktionsfehler des Systems. Trotzkis Kampf gegen die Herrschaft der Bürokratie zielte auf die Implementierung von rätedemokratischen Strukturen, sie zielte aber nicht darauf, die „Verstaatlichung“ als verfehlte Form von Vergesellschaftung grundlegend in Frage zu stellen. Falsch war Stalins Losung nicht so sehr deshalb, weil der „Sozialismus in den Grenzen der UdSSR“ gar nicht erreichbar war, sondern deshalb, weil Stalins Methoden jede Form von Herrschaft der Klasse, von Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel unterminierten und die Entfremdung, die Unterdrückung der Massen nicht aufhoben, sondern oft noch vertieften. Stalins Weg zum „Sozialismus“ konnte, ja musste real zum Staatskapitalismus führen. Das hätte Trotzki kritisieren müssen! Doch Trotzki hielt bis zu seinem Lebensende 1940 an der Charakterisierung der UdSSR als eines degenerierten Arbeiterstaates fest.
In anderer Hinsicht jedoch war Trotzkis Kritik hingegen sehr klar und weitsichtig. Er wies darauf hin, dass die von den bornierten Interessen der Bürokratie geleitete Außenpolitik Stalins nicht den revolutionären Sturz des Kapitalismus beabsichtigte, sondern auf einen Ausgleich, auf einen strategischen (!) Kompromiss mit ihm zielte. Diese außenpolitische Umorientierung erfolgte nicht abrupt, sondern schrittweise. Bis etwa 1933 war sie noch zentristisch und pendelte zwischen linksradikalen Positionen (Politik der „3. Periode“, Sozialfaschismus-Theorie) und rechten (Unterordnung unter die Kuomintang in China, Anglo-russisches Komitee). Erst mit der Volksfrontstrategie erfolgte dann ab 1934 der Übergang zu einer klar anti-revolutionären Konzeption, die im Gegenzug zu Zugeständnissen und „Bündnissen“ mit Teilen des Imperialismus revolutionäre Chancen vereitelte und das Proletariat den „demokratischen“, „antifaschistischen“ Teilen der Bourgeoisie unterordnete (z.B. Frankreich und Spanien in den 1930ern, nach 1944/45 in Italien, Frankreich, Griechenland). Anstatt der permanenten Revolution, d.h. des Verbindung der bürgerlich-demokratischen Phase mit der sozialistischen wie 1917 in Russland, beschränkte man die Revolution auf die bürgerliche Phase. Diese Etappen-Theorie vertagte den Sozialismus auf den Sankt-Nimmerleins-Tag und blockierte die Errichtung der proletarischen Macht. Der Grund für diesen Kurs Stalins lag auf der Hand (und wurde von Trotzki auch richtig benannt): jede wirkliche Arbeiterrevolution, ja selbst die Formierung einer revolutionären Opposition wäre ein Fanal für die Arbeiterklasse – auch in der UdSSR – gewesen, sich seine stalinistischen u.a. Unterdrücker und Verführer vom Hals zu schaffen.
Trotzki vermochte es aufgrund seiner „schiefen“ Analyse der UdSSR aber nie zu erklären, wie es sein kann, dass ein – wenn auch degenerierter – Arbeiterstaat eine völlig anti-revolutionäre, bürgerliche Außenpolitik betreibt. Versteht man aber, dass diese nur die Fortsetzung der Innenpolitik des Staatskapitalismus mit außenpolitischen Mittel ist, so liegt die Antwort auf der Hand.
Degenerierter Arbeiterstaat?
Trotz seiner methodischen Fehler stimmt Trotzkis Charakterisierung der UdSSR als eines degenerierten Arbeiterstaats noch bis Ende der 1920er. Doch er versteht nicht, dass sich innerhalb eines Jahrzehnts politische, ideologische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen vollzogen hatten, die in Summe zu einer neuen gesellschaftlichen Qualität – dem Staatskapitalismus – führten. In seinem zentralen Werk zu dieser Frage – „Die verratene Revolution“ (1936) – zeichnet er ein umfassendes und durchaus treffendes Bild der UdSSR. Doch er sieht eben nicht den qualitativen Umschwung. Zwar hat Trotzki immer betont, dass die Bürokratie letztlich den Arbeiterstaat ruinieren würde und dieser wieder in den Kapitalismus zurückfallen könnte – doch die Tatsache, dass genau das bis Ende der 1920er passiert war, erkannte er nicht.
Der Grund dafür lag in seiner tw. unmarxistischen Methode. Indem er die Verstaatlichung der Produktionsmittel und die zentralistisch-bürokratische Leitung der Wirtschaft als Vergesellschaftung begriff, verstand er nicht, dass zwar das Privatkapital enteignet war, sich an der entfremdeten, unterdrückten, ausgebeuteten Lage des Proletariats jedoch wenig bis nichts geändert hatte; ja dass nach dem mächtigen revolutionären Aufbruch der Klasse, die 1917 gerade begonnen hatte, ihre Macht zu etablieren und die Gesellschaft „nach ihrem Bilde“ zu formen, die Bürokratie ihnen diese Machtpositionen nach und nach wieder entrissen und den Weg der sozialen Befreiung verlassen hatte, um eine neue, „besondere“ Klassengesellschaft zu errichten.
Wäre die Bürokratie noch von der Arbeiterklasse mittels ihrer Räteorgane kontrolliert oder stark beeinflusst worden, hätte man noch von einem degenerierten Arbeiterstaat sprechen können; doch ab Ende der 1920er gab es diesen Einfluss eben nicht mehr. Die Unterdrückung der Massen war in der stalinschen UdSSR noch weit größer und umfassender als in jeder westlichen Demokratie.