Die Klassenstruktur des Spätimperialismus (2 von 3)

Hanns Graaf

Die Arbeiterklasse

Wie wir schon gezeigt haben, definiert sich das Proletariat 1. durch den Nichtbesitz an Produktionsmitteln (PM), 2. durch die sich daraus ergebende Lohnabhängigkeit und 3. hat es keine Funktion im Herrschaftssystem inne.

Warum bezeichnet Marx das Proletariat als „einzige konsequent revolutionäre Klasse“? Er führt dafür mehrere Begründungen an: 1. ist die Arbeiterklasse nicht durch bornierte Eigentumsinteressen gebunden, „sie hat nichts zu verlieren als ihre Ketten“. 2. ist sie eine massenhafte Klasse, die oft die Mehrheit der Bevölkerung stellt. 3. ist sie am engsten mit der modernen Produktion und der Entwicklung der PM verbunden. Dieses letztere Merkmal mag zunächst verwundern, da doch Techniker und Wissenschaftler die engste Verbindung zur modernen PK-Entwicklung haben. Doch Marx macht keinen grundlegenden Unterschied zwischen Hand- und Kopfarbeit(ern) – obwohl zu seiner Zeit die Arbeiterschaft v.a. aus Handarbeitern bestand, während die Kopfarbeiter zum großen Teil nicht zur Arbeiterklasse gehörten. Die Entwicklung des Kapitalismus zeigt aber, dass dieser Unterschied immer mehr verwischt. Einmal, weil die Produktion und damit die produktive Arbeit immer mehr mit Technik und Wissenschaft zusammenhängen, zum anderen, weil heute viele Techniker und wissenschaftlich Arbeitende „normale“ Beschäftigte sind, die nicht mehr wie früher zum „Establishment“ gehören. Auch der immer weiter steigende Anteil von Menschen mit höherer Bildung unterstreicht diese Tendenz.

Seine große Zahl und die enge Verbindung zum (Re)Produktionsprozess der Gesellschaft ermöglichen es dem Proletariat nicht nur, den Kapitalismus zu stürzen, sondern auch, eine andere Gesellschaft aufzubauen und Träger einer anderen Produktionsweise zu sein.

Jeder weiß nun aber auch, dass das Proletariat in aller Regel keinesfalls revolutionär eingestellt ist, geschweige denn revolutionär handelt. Für Marx definiert sich aber das Proletariat (wie jede Klasse) nach ihrer objektiven (!) Stellung in der Gesellschaft und nicht nach dem, als was sie sich selbst dünkt, was ihr momentanes Bewusstsein ist. Im Gegenteil: Marx konstatiert als Materialist, dass im „Normalfall“ das „herrschende Bewusstsein nur das Bewusstsein der Herrschenden“ sein kann. Das „typische“ Bewusstsein der Arbeiterklasse ist der Reformismus, d.h. das Bestreben, ihre Ware Arbeitskraft möglichst teuer zu verkaufen und die Bedingungen dafür zu verbessern (Lohn, Arbeitszeit, Sozialsystem). Die Grundlagen des Kapitalismus – Privateigentum, Konkurrenz, Lohnsystem – aber werden dabei in der Regel nicht infrage gestellt.

Marx spricht daher auch von der „Klasse an sich“ als einer Summe von einzelnen Lohnabhängigen. Zur „Klasse für sich“, d.h. zu einer konsequent im eigenen Klasseninteresse handelnden Gruppe, wird das Proletariat erst dann, wenn es kämpft, sich organisiert und eine eigene Weltanschauung entwickelt. Daher, postuliert Marx, ist im alltäglichen Klassenkampf der Fortschritt der Arbeiter bezüglich ihres Bewusstseins und ihrer Organisierung wichtiger als die einzelne Reform selbst – während der Reformismus das eher anders herum sieht.

Diese Differenz zwischen dem Alltagsbewusstsein und dem „eigentlichen“ Klassenbewusstsein resultiert v.a. aus der Spezifik des Lohnsystems, das – anders als etwa die Sklaverei oder die Leibeigenschaft – die realen Ausbeutungsverhältnisse verschleiert. Der Bauer oder der Leibeigene wusste immer genau, wie viel er von seinem Arbeitsertrag abgeben musste. Für den Arbeiter hingegen ist dieser Anteil nicht offensichtlich, er ist durch die Lohnform verschleiert. Zum anderen kann sich das Klassenbewusstsein des Proletariats nur ansatzweise entwickeln, da die Arbeiterklasse im Unterschied etwa zur Bourgeoisie eine unterdrückte, sozial benachteiligte Klasse ist, die sich nicht auf eine ihr entsprechende Produktionsweise (oder größere Ansätze dazu) stützen kann. Dazu kommt, dass für die Formierung des Proletariats zur „Klasse für sich“ diese nicht nur eine gewisse Größe (und damit soziale Bedeutung) erreicht haben muss, sondern auch Erfahrungen in Klassenkämpfen gewonnen und verarbeitet haben muss. Diese Tendenzen müssen sich schließlich v.a. in der Formierung von revolutionären Arbeiterparteien niederschlagen.

Die Historizität des Marxismus

Diese Feststellungen führen uns dazu, einen Blick darauf zu werfen, wie es um die Entwicklung der Arbeiterklasse (und im weiteren Sinn des Kapitalismus) zur Zeit von Marx und Engels aussah.

Das Wirken von Marx und Engels begann in den 1840er Jahren und endete mit ihrem Tod 1883 bzw. 1895. Damals war der großindustrielle Kapitalismus erst im Entstehen. Weltweit operierende Konzerne gab es noch kaum bzw. sie entstanden erst Ende des 19. Jahrhunderts. Der Weltmarkt war bereits entwickelt, aber noch weit weniger als nach 1900 oder gar heute. Das die Wirtschaft dominierende Finanzkapital, wie es für den Imperialismus typisch ist, entstand erst. Die Arbeiterklasse war in fast allen Ländern noch eine Minderheit. Noch 1900 war z.B. in Deutschland die Bauernschaft die größte Bevölkerungsgruppe. Größere proletarische Organisationen entstanden meist auch erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts, zuerst Gewerkschaften, Bildungsvereine und Genossenschaften, erst im letzten Drittel entstanden Arbeiterparteien, z.B. in Deutschland 1863 der ADAV Lassalles, 1864 die Eisenacher und 1875 die (vereinigte) Sozialdemokratie. Die IAA, die Erste Internationale, gründete sich 1864. Aufgrund der erst kurzen Geschichte des Proletariats als massenhafter Klasse und ihrer erst beginnenden organisatorischen Formierung gab es auch nur begrenzte Erfahrungen im Klassenkampf. Massen- und Generalstreiks gab es in Europa erst ab den 1880ern, ein Rätesystem entstand in der Form der Pariser Kommune zuerst 1871. Die wesentlichen Erfahrungen bezüglich Revolution und Klassenkampf entnahmen Marx und Engels der Französischen Revolution von 1789, den Klassenkämpfen in Frankreich, z.B. von 1830, den Revolutionen von 1848 und der Pariser Kommune von 1871. Das sind nicht zufällig alles europäische Ereignisse.

Was Marx und Engels in ihrem Schaffen theoretisch und konzeptionell verarbeitet haben, waren also „Frühformen“ des Kapitalismus und Anfänge der Konstituierung des Proletariats und der Arbeiterbewegung. Daher ist es nur logisch, dass ihre Schlussfolgerungen sich auf diese Phase des Kapitalismus bezogen und nicht die Entwicklung der imperialistischen Phase exakt voraussehen konnten. Im Nachhinein wird klar, dass erst der Imperialismus der voll ausgereifte Kapitalismus ist und der Imperialismus des 20. Jahrhunderts nicht die „letzte“ und „höchste“ Stufe, das „Sterben“ der kapitalistischen Formation darstellt, sondern deren Höhepunkt, dem mit dem Spätimperialismus ab Ende des 20. Jahrhunderts erst die letzte Phase folgt. Das bedeutet freilich nicht, dass die Einschätzung Lenins, dass die erste Phase des Imperialismus eine Epoche von Krisen, Kriegen und Revolutionen und damit der „Vorabend der proletarischen Revolution“ ist, falsch wäre.

So verwundert es nicht, dass im Werk von Marx und Engels programmatische Schriften, Erarbeitungen zur Taktik, zum Parteiaufbau usw. einen relativ schmalen Raum einnehmen. Auch Fragen, die die Revolution und die nachrevolutionäre Übergangsgesellschaft berühren, werden kaum konzeptionell ausgearbeitet – v.a. in Relation zu Marxens Akribie in der Beschäftigung mit der ökonomischen Theorie und Literatur. Diese und viele andere Fragen mussten von ihren Nachfolgern beantwortet werden. Tw. geschah das auch, oft wurden ihre Positionen und v.a. ihre Methode jedoch verhunzt, versimpelt, verfälscht oder überhaupt ignoriert.

Eine fatale Folge dieser Degenerationstendenzen des nachmarxschen „Marxismus“ besteht darin, dass die Arbeiterklasse nicht mehr als revolutionäres Subjekt gesehen wurde, sondern als Adressat sozialer Reformpolitik. Das inkludierte die bürokratische Vertretung und Verwaltung der Arbeiterbewegung und nicht deren Formierung zum Rammbock der Revolution. Es waren v.a. Luxemburg und Lenin, die diese reformistische „Transformation“ erkannt und bekämpft haben.

Schichtungen und Spaltungen im Proletariat

Mit der Entwicklung des Imperialismus veränderte sich auch die Arbeiterklasse. Obwohl in Ansätzen schon von Marx benannt, arbeitete erst Lenin genauer heraus, dass sich in bzw. aus der Arbeiterklasse zwei besondere Schichten herausgebildet hatten: die Arbeiteraristokratie und die Arbeiterbürokratie. Als Arbeiteraristokratie werden die oberen, relativ bessergestellten Teile der Arbeiterschaft bezeichnet, meist Facharbeiter. Sie haben sich oft mit den Verhältnissen einigermaßen arrangiert, stellen jedoch gleichzeitig oft die kämpferischsten und am besten organisierten Teile der Klasse dar. Die Funktionäre (Gewerkschaftsfunktionäre, Betriebsräte, Parteiapparat, Parlamentarier usw.) kamen traditionell aus diesem Milieu und bilden die Arbeiterbürokratie. Heute stammen sie weitaus öfter aus der lohnabhängigen Mittelschicht (LMS). Die Arbeiteraristokratie stellt oft die „schweren Regimenter“ und hat starken Einfluss auf die Gesamtklasse und deren Organisationen und Kämpfe. Arbeiteraristokratie und -bürokratie bilden die soziale Basis des Reformismus und (klein)bürgerlichen Denkens in der Klasse. Die Arbeiteraristokratie aber nur als verbürgerlicht und reaktionär zu charakterisieren, wie es auch viele „radikale“ Linke tun, ist sehr einseitig und unterschätzt sowohl deren objektiv enorme soziale Bedeutung z.B. hinsichtlich ihre Anteils an der Wertschöpfung als auch deren Rolle im Klassenkampf.

Die Arbeiterbürokratie bezeichnet die Schicht von Funktionären der Arbeiterbewegung: Betriebsräte (v.a. hauptamtliche), Funktionäre in Gewerkschaften, Parteien, Stiftungen usw. und Parlamentarier sowie deren Mitarbeiter. Dazu gehören auch die Vertreter der Arbeiterbewegung in Sozialkassen und -verbänden. Diese Schicht umfasst in einem Land wie Deutschland viele Zehntausende, die politisch wie strukturell die Arbeiterklasse dominieren. Meist sind sie sozialdemokratisch/reformistisch orientiert. Aufgrund ihrer relativ besseren bzw. gesicherten sozialen Stellung und ihrer Einbindung in das bürgerliche Herrschafts- und Managementsystem sind sie meist an dessen Weiterbestehen interessiert. Im Unterschied aber zu anderen „Beamten“ sind sie direkt oder indirekt abhängig von der Existenz und der nominellen Stärke der Arbeiterbewegung, der Gewerkschaften, der SPD o.a. reformistischer Parteien. Die Arbeiterbürokratie zählt – im Unterschied zur Arbeiteraristokratie – nicht zur Arbeiterklasse, sondern zur LMS. Die zwar schwächer werdende, aber immer noch vorhandene ideelle und strukturelle Verbindung der SPD zur Gewerkschaftsbürokratie und zu den Betriebsräten kennzeichnet diese (noch) als bürgerliche Arbeiterpartei: bürgerlich, was ihre Politik anbelangt, aber sozial und strukturell auf die Arbeiterbürokratie gestützt und so mit der Klasse „verbunden“.

Angehörige der Arbeiterbürokratie können aber unter Umständen nicht nur deutlich links von der Bürokratie stehen, sie spielen auch bei Kämpfen oft eine zentrale Rolle, v.a. die Gewerkschaftsbürokratie und die Betriebsräte. Wie sie agieren, hängt natürlich auch davon ab, wie die Klassenkampfsituation insgesamt aussieht, welchen Einfluss die Arbeiterbasis auf den Apparat ausübt und welchen Einfluss Revolutionäre haben.

Schon immer war das Proletariat entlang verschiedener Linien gespalten: zwischen Qualifizierten und Ungelernten, zwischen Inländern und Migranten, zwischen Jung und Alt, zwischen Männern und Frauen usw. usw. Diese Spaltungen erleichtern es dem Kapital, die Klasse zu beherrschen, Feinbilder aufzubauen und vom Klassenkampf abzulenken. In Deutschland spielen die speziellen Spaltungen zwischen Ost und West sowie die zwischen Deutschen und Migranten eine besondere Rolle.

Reformismus

An dieser Stelle soll kurz umrissen werden, was die Politik des Reformismus auszeichnet. Unter Reformismus wird meist eine Politik verstanden, die auf Reformen zielt. Marxisten meinen mit Reformismus hingegen eine politische bzw. ideelle Strömung bzw. Organisationen innerhalb der Arbeiterbewegung, die grundsätzlich im Rahmen des Kapitalismus verbleiben und dessen revolutionäre Überwindung ablehnen oder auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben, d.h. eine revolutionäre Zuspitzung von Klassenkämpfen verhindern wollen.

Die Strategie des Reformismus beruht auf drei zentralen Annahmen: 1. der Idee, dass der grundlegende Fehler des Kapitalismus in der ungerechten Verteilung liege; 2. dass politische Reformen eine Umverteilung des Reichtums bewirken und den Kapitalismus in eine Gesellschaft frei von Ungerechtigkeit, Krisen und sozialen Konflikten verwandeln könnten und 3. dass diese Veränderungen in einer Demokratie über Gesetze und ohne Gewalt mittels des bürgerlichen Staatsapparats durchsetzbar wären.

Alle diese Annahmen sind falsch. Ungleiche Verteilung ist das Ergebnis des ungleichen, privaten Besitzes an Produktionsmitteln. So lange dieser besteht, werden Versuche, den Reichtum umzuverteilen, durch das Kapital, das die Macht hat, vereitelt: u.a. durch Entlassungen, Lohnkürzungen oder Firmenschließungen. Die Annahme, den Kapitalismus durch Reformen in eine gerechte Gesellschaft verwandeln zu können, ist lächerlich und ohne jeden historischen Beweis. Noch nie hat das Kapital freiwillig weitreichende Reformen zugelassen, welche die Grundlagen des Systems verändert hätten. Auch die Annahme, dass das Kapital seinen Reichtum freiwillig als Folge einer Parlamentswahl aufgeben würde, ist ein schlechter Scherz.

Der Unterschied zwischen reformistischer und revolutionärer Politik besteht nicht darin, ob man für Reformen kämpft oder für die Revolution, sondern darin, ob man nur für Reformen eintritt oder aber diese als Zwischenschritte, als zeitweilige Übereinkommen im Klassenkampf versteht, um in geeigneten Momenten – einer revolutionären Situation – den Kapitalismus zu stürzen und die Arbeiterklasse grundsätzlich darauf zu orientieren. In diesem Sinn meinte schon Marx, dass die Weiterentwicklung des Bewusstseins und der Organisierung der Arbeiter im Klassenkampf perspektivisch wichtiger ist, als bestimmte zeitweilige „reformerische“ Errungenschaften.

Der Reformismus hat sich seit der Entstehung der Arbeiterbewegung als vorherrschende Form von Bewusstsein und Organisation der Arbeiterklasse erwiesen. Dieser „spontane Reformismus“ der Klasse kann nun aber auf verschiedene Art „verarbeitet“ werden. Revolutionäre Organisationen werden an den konkreten Bedürfnissen der Klasse, an ihrem Bewusstsein, an ihren Kampf- und Organisationsformen anknüpfen und diese mit einer antikapitalistischen Ausrichtung verbinden; reformistische hingegen werden genau das verhindern wollen.

Der Reformismus schwächt sich selbst bzw. die Kampfkraft der Klasse, weil er ihre Selbstorganisation und die Kontrolle der Basis über ihre Aktionen und Organisationen permanent untergräbt. Das Ergebnis dieser bürokratischen „Stellvertreterpolitik“ ist ein schwächer ausgeprägtes Klassenbewusstsein und geringere Fähigkeiten und Erfahrungen der Arbeiter, Klassenkämpfe erfolgreich zu führen und das Kapital zu stürzen.

In „normalen Zeiten“, wenn der Klassenkampf kein höheres Niveau erreicht, werden in der Regel reformistische Organisationen in der Klasse dominieren. Spitzen sich Krisen und Klassenkämpfe jedoch zu, bricht der potentielle Widerspruch zwischen den Interessen der Klasse und den „Rezepten“ des Reformismus, zwischen der proletarischen Basis und dem reformistischen Apparat auf. Dann können revolutionäre Kräfte die reformistische Vorherrschaft überwinden und die Mehrheit der Klasse für sich gewinnen.

Dazu ein Beispiel, wie Reformismus in der Praxis aussieht: Die rot/grüne Bundesregierung führte die „Hartz-Reformen“ ein. Diese waren eine Attacke auf den „Sozialstaat“ und führten zur Ausweitung des Billiglohnsektors. Dass die SPD diese Attacke anführte, hatte für das Kapital den Vorteil, dass sie die Arbeiterklasse dominierte. Die Führungen der Gewerkschaften, des ökonomischen Arms des Reformismus, sorgten dafür, dass die Proteste gegen Schröders Agenda 2010 kanalisiert und Massenstreiks abgewendet wurden. Der DGB organisierte zwar Proteste, aber keine Streiks. Die massenhaften Aufmärsche dienten nur dazu, Dampf aus dem Kessel zu lassen und die Bewegung zu befrieden.

Arbeiteraristokratie, Arbeiterbürokratie und die LMS stellen die soziale Basis des Reformismus, der in Deutschland v.a. in Form der DGB-Gewerkschaften und der bürgerlichen Arbeiterpartei SPD sowie in „linken“ Parteien wie der Linkspartei (oder dem BSW) strukturiert ist. Trotz des Verlustes größerer Teile der Arbeiterbasis organisiert der DGB immer noch 5,85 Mill. Mitglieder. Die beiden größten Teilgewerkschaften, die IG Metall und Ver.di, haben 2,2 bzw. 2,0 Mill. Mitglieder. 2021 lag der gewerkschaftliche Netto-Organisationsgrad in Deutschland bei 17,4%. Damit ist, ähnlich wie 2018, jeder sechste Lohnabhängige Gewerkschaftsmitglied.

In der Linken ist die einseitige Vorstellung weit verbreitet, das Wesen des Reformismus bestünde darin, dass dieser für Reformen im Interesse der Lohnabhängigen kämpfen und diese als Weg zum Sozialismus ansehen würde. Ist dies bei Organisationen wie der SPD nicht der Fall, schließen sie daraus, dass diese keine reformistischen, sondern nur noch „normale“ bürgerliche Parteien wären. Diese Auffassung greift aber zu kurz, denn 1. hängt die Umsetzung der Reformpolitik nicht nur davon ab, was eine Partei subjektiv will, sondern auch davon, wie die allgemeine ökonomische und Klassenkampfsituation beschaffen ist. Oft ist Reformismus deshalb auch lediglich der Versuch (oder nur die erklärte Absicht), die Angriffe von Staat und Kapital abzumildern.

2. ist der Reformismus dadurch gekennzeichnet, dass er zur Erreichung seiner Ziele die Klasse nicht oder nur unzureichend mobilisiert und sie den Interessen des Kapitals unterordnet. Nicht die konsequente Mobilisierung, sondern die Demobilisierung der Klasse und ihre Beschränkung auf eine Rolle als Unterpfand für Verhandlungen mit dem Klassengegner ist das entscheidende Merkmal des Reformismus als einer im Wesen bürgerlichen Politik.

Eine zentrale Methode im Kampf gegen den Reformismus ist die Einheitsfrontpolitik, d.h. die Aufforderung zum gemeinsamen Kampf aller Teile und Organisationen der Arbeiterklasse und der Linken bei gleichzeitiger Kritik an den unzureichenden Zielen und Methoden der Reformisten. Ausdruck dieser Methode sind z.B. die sog. Übergangsforderungen bzw. das Übergangsprogramm, wie es zuerst 1940 von Trotzki formuliert wurde. Dieses knüpft an den (meist reformistischen) Erwartungen und Strukturen der Massen an und verbindet sie mit Forderungen nach Selbstorganisation der Klasse, Arbeiterkontrolle und dem Aufbau proletarischer Machtorgane (Räte, Streikkomitees, Milizen usw.) bis hin zur Ergreifung der Macht durch die Arbeiter, die Enteignung des Kapitals, die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparats und die Errichtung einer revolutionären Arbeiterregierung.

Letzten Endes kann der Reformismus nur bekämpft und überwunden werden, wenn es gelingt, eine revolutionäre Partei als Alternative aufzubauen und Strukturen (z.B. Genossenschaften, Arbeiterkontrollkomitees, oppositionelle Strukturen in den Gewerkschaften usw.) zu schaffen, die nicht von reformistischen und bürokratischen Organisationen kontrolliert werden, sondern direkt (!) von den Arbeiterinnen und Arbeitern.

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