Die Klassenstruktur des Spätimperialismus (3 von 3)

Hanns Graaf

Bürgerliche Ideologie und Arbeiterklasse

Es gab schon immer diverse bürgerliche Ideologien, die dazu dienten, der Arbeiterklasse die Eigenschaft des revolutionären Subjekts abzusprechen oder überhaupt zu suggerieren, dass es ein Proletariat nicht mehr geben würde. Die grundlegende Methodik all dieser „Theorien“ besteht darin, die objektive Stellung einer Klasse innerhalb des Produktions- und Reproduktionsprozesses der Gesellschaft zu ignorieren oder herunterzustufen bzw. durch allerlei andere Kriterien zu ersetzen.

Eine inzwischen schon alte These ist die der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“. Nach ihr gehören alle Menschen mit einem höheren Einkommen als das ärmere Drittel der Gesellschaft zu einer Kategorie. D.h. Millionär und tariflich beschäftigter Arbeiter gehören zusammen, ein arbeitsloser Arbeiter, der Bürgergeld empfängt und ein Beschäftigter jedoch nicht. Das ist absurd genug, ist doch der Einkommensunterschied – wenn man die Einkommenshöhe überhaupt als Hauptkriterium akzeptiert – zwischen Millionär und Malocher zig Mal höher als der zwischen Arbeitern und Arbeitslosen. So wird eine Interessengleichheit oder -ähnlichkeit zwischen Proletarier und Kapitalist konstruiert und die Klassensolidarität zwischen arbeitenden und nicht arbeitenden Proletariern unterminiert.

Eine andere These, die auch für die Theoriebildung der Frankfurter Schule wichtig war, geht davon aus, dass es zwar (noch) eine Arbeiterklasse gibt, diese aber nicht mehr revolutionär wäre. Dabei bezieht man sich auf die vielen Chancen, die das Proletariat nicht genutzt hätte und diverse reaktionäre Haltungen der (oder in der) Arbeiterklasse wie z.B. die faschistische. Diese Auffassung sah sich auch durch die weitgehende Einbindung der Klasse in die Restauration des westlichen Kapitalismus nach 1945 bestätigt. Natürlich geht es nicht darum, diese Fakten an sich zu bestreiten; es geht darum, welche Gründe es dafür gibt. Während die einen periodische soziale Veränderungen wie z.B. den Langen Boom – die zudem oft noch falsch verallgemeinert werden – dafür anführen, verweisen andere darauf, dass die Arbeiterklasse und v.a. deren Organisationen (Parteien, Gewerkschaften) jahrzehntelang von konterrevolutionären Kräften – Sozialdemokratie und Stalinismus – beherrscht wurden. Das führte nicht nur zur ideellen und praktisch-organisatorischen Zerstörung der revolutionären Arbeiterbewegung, sondern auch zu einer langen Reihe historischer Niederlagen. Dabei spielte auch eine Rolle, dass subjektiv revolutionäre Kräfte wie der Anarchismus aufgrund konzeptioneller Fehler den Sieg der Konterrevolution ermöglichten (z.B. Spanien 1936) oder – der Trotzkismus – nicht aus der Marginalität herauskam und daran scheiterte, seine Programmatik weiter zu entwickeln. Leo Trotzki erkannte das Problem der historischen Führungskrise, d.h. des Fehlens einer revolutionären Führung bereits in den 1930ern. Heute, fast 100 Jahre später, gibt es dieses Führungs-Dilemma immer noch!

Die These der nicht mehr revolutionären Arbeiterklasse leidet an zwei grundlegenden methodischen Fehlern: 1. daran, dass das revolutionäre Klassenbewusstsein mechanisch aus objektiven Verhältnissen abgeleitet wird oder als a priori gegeben angesehen wird, anstatt – wie von Marx – als Ergebnis des Klassenkampfes und der rationalen Verarbeitung seiner Ergebnisse durch eine organisierte politische Vorhut, v.a. die Partei. Fehlt dieser Faktor, was jahrzehntelang der Fall war, verbleibt das Klassenbewusstsein im bürgerlich-reformistischen Rahmen. 2. wird die negative Rolle der Führungen der Klasse nicht ins Zentrum der Betrachtungen gestellt und so auch der politische Kampf gegen diese Negativfaktoren an den Rand gedrängt. Da war Trotzkis Ansatz, die Kritik mit dem Aufbau einer neuen Führung in Gestalt der IV. Internationale weit grundlegender und praktischer. (Warum der Trotzkismus dann nicht zu einer starken alternativen Kraft wurde, kann hier nicht ausgeführt werden).

Eine andere These versucht zu begründen, dass es keine Arbeiterklasse mehr gebe, indem sie auf das Wachstum a) der Mittelschichten und b) des Dienstleistungssektors verweist. Dabei fällt auf, dass „die Mittelschicht“ meist sehr undifferenziert behandelt wird, Kleinbürger und lohnabhängige Mittelschicht (LMS) werden in einen Topf geworfen. Es wird auch zu wenig gesehen, dass diese aufgrund ihrer Mittelstellung zwischen den beiden Hauptklassen sich sowohl der einen wie der anderen annähern und mitunter auch eine partiell fortschrittlich-revolutionäre Rolle spielen können. Viele große Klassenkämpfe, aber auch aktuelle Bewegungen zeigen das. Schon Marx lehnte die These, dass alle nicht proletarischen Klassen und Schichten nur „eine reaktionäre Masse“ darstellen würden, ab. Allerdings – und daran mangelt es – muss die Arbeiterbewegung für die Mitte „attraktiv“ erscheinen, es muss dem Proletariat also zugetraut werden, die grundlegenden Probleme der Gesellschaft zu lösen. Doch beide zentralen, die Arbeiterklasse beherrschenden Kräfte – Sozialdemokratie und Stalinismus – vereitelten das über Jahrzehnte.

Ebenso oberflächlich ist die Betrachtung des „Dienstleistungssektors“. Zwar steht außer Frage, dass ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmte Bereiche der Gesellschaft, die nicht produktiv (ob industriell oder agrarisch) sind, stark gewachsen sind: Verwaltung, Administration, „ideelle“ Bereiche (Medien, Politik, Kultur, Wissenschaft, Bildung, „Sozialstaat“ usw.). Dort ist der Anteil von Menschen, die zur LMS gehören, besonders groß. Allerdings zählen auch viele dort Tätige zur Arbeiterklasse. Weite Bereiche, die als „Dienstleistung“ zählen, sind durchaus produktiv (in dem Sinn, dass sie Gebrauchswerte erzeugen) und die meisten dort Beschäftigten sind nichts anderes als Arbeiter. Früher zählte z.B. die Transportabteilung eines Betriebes als „Industrie“, wenn sie (wie meist) ausgelagert wurde, wird sie plötzlich zur Dienstleistung, obwohl sich deren Funktion und die Arbeit und die Stellung der Arbeiter dort nicht geändert haben. Das ganze Buhei um den wachsenden Dienstleistungssektor dient ideologisch dazu, die These vom (Ver)schwinden der Arbeiterklasse zu stützen.

Ähnliche Thesen sind etwa die von der „Informationsgesellschaft“, in der die „Arbeit“ verschwinden würde. Wir erleben nunmehr seit über 250 Jahren die Tendenz der Ersetzung produktiver Arbeit durch Maschinen, trotzdem wird nicht weniger gearbeitet als früher. Nach den Thesen der Postindustrie-Theoretiker müsste heute der größte Teil der Menschheit arbeitslos sein.

Im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus hat sich die Arbeiterklasse im Zusammenhang mit der Entwicklung der technischen und organisatorischen Produktivkräfte immer wieder verändert. Ohne Zweifel gab es v.a. nach 1945 auch Veränderungen in der Lebensweise des Proletariats, die der Subjektwerdung eher entgegen stehen – so wie es auch andere gab, die sie objektiv befördern. Wie wir im folgenden Abschnitt am Beispiel Deutschlands zeigen werden, gibt es auch heute noch eine Arbeiterklasse. Woran es mangelt, ist eine aktive und deshalb attraktive Arbeiterbewegung, v.a. (aber nicht nur) fehlt es an einer revolutionären Arbeiterpartei.

Die Arbeiterklasse in der BRD

Im März 2024 waren 45,7 Mill. Menschen mit Wohnort in Deutschland erwerbstätig. Davon sind ca. 33 Mill. „abhängig beschäftigt“. Der Rest ist selbstständig oder verbeamtet. 2018 lag die Zahl der abhängig erwerbstätigen Männer bei 19,7 Mill., die der Frauen bei 18,1 Mill. Damit ist klar, dass etwa 75% der Erwerbspersonen lohnabhängig sind und keine Produktionsmittel besitzen. Zu dieser Gruppe gehören auch viele Angehörige der LMS, deren Größe sich aber schwer genau bestimmen lässt, auf jeden Fall aber mehrere Millionen umfasst. Zur LMS gehören auch die meisten Beamten.

Selbst die restlichen 25% der nicht abhängig Beschäftigten haben überwiegend eine Lebenssituation, die jener der Lohnabhängigen ähnlich, nicht selten sogar schlechter ist. Dazu zählen v.a. kleine Selbstständige, „Scheinselbstständige“, Franchisenehmer, Künstler, Praktikanten usw.

Insgesamt zeigt sich, dass die Arbeiterklasse die klare Mehrheit der Beschäftigten, aber auch der Lohnabhängigen stellt. Es wird aber auch deutlich, dass es kaum möglich ist, die Arbeiterklasse genau zu quantifizieren, weil es Überschneidungen mit anderen sozialen Gruppen gibt, deren soziale Lage jener der Arbeiterklasse ähnlich ist, aber auch spezifische Merkmale aufweist, z.B. die LMS und das untere Kleinbürgertum.

Geht man von einer weiteren Definition der Arbeiterklasse aus, erweitert sich deren Zahl um jene Personen, die aus einem proletarischen Milieu (Arbeiterfamilie) stammen, aber noch nicht oder nicht mehr arbeiten oder zeitweilig zu einem besonderen Milieu gehören (Wehrpflicht, Studium). Es liegt auf der Hand, dass auch der größte Teil der Arbeitslosen zur Arbeiterklasse gehört. 2024 bezogen in Deutschland im März durchschnittlich rund 4 Mill. erwerbsfähige und etwa 1,5 Mill. nicht erwerbsfähige Personen Bürgergeld, insgesamt etwa 5,5 Millionen.

Die Arbeiterklasse stellt nicht nur die große Mehrzahl der Beschäftigten, sondern auch der Bevölkerung. Das Bild, das für Deutschland gilt, ist auch für andere imperialistische, ja sogar für etliche industrialisierte „Entwicklungsländer“ typisch. In China stellt die bäuerliche Bevölkerung noch das Gros der Einwohner, doch die Arbeiterklasse wächst auch dort immer noch stark und wird künftig die Bevölkerungsmehrheit stellen. Ähnlich ist es in Indien.

Die Zahlen sagen allerdings noch wenig über die konkrete soziale Lage der Lohnabhängigen und die verschiedenen Differenzierungen in der Klasse aus. Diese unterscheiden sich natürlich in verschiedenen Perioden und Ländern. Während in einigen Ländern wie z.B. den USA die Arbeiterklasse (und die Gesellschaft) stark entlang ethnischer Linien gespalten ist, spielt diese Frage woanders eine geringere Rolle. Neben ethnischen bzw. nationalen Milieus der Arbeiterklasse existieren auch Spaltungen zwischen regionalen Milieus, in Deutschland zwischen Ost und West, zwischen Männern und Frauen, Alt und Jung, Qualifizierten und Unqualifizierten usw. Diese Differenzierungen und Spaltungen werden von den Herrschenden oft bewusst verstärkt (Rassismus) und zur besseren Beherrschbarkeit der Gesamtklasse und zu deren intensiverer Ausbeutung (Billiglohnsektor) ausgenutzt.

Deutliche Veränderungen gab es historisch hinsichtlich des Arbeitsmilieus bzw. des Arbeitsplatzes. Im 19. Jahrhundert vollzog sich massenhaft der Übergang von der handwerklich-manufakturellen Kleinproduktion zur industriellen Massenproduktion in mittleren und Großbetrieben. Die Zusammenballung von Hunderten und Tausenden Arbeiterinnen und Arbeitern in einem Betrieb und von Hunderttausenden und Millionen in Großstädten haben die objektive Basis dafür geschaffen, dass a) die Akkumulation von Kapital auf großer Stufenleiter erfolgte, und b) die Arbeiterklasse zur massenhaften Klasse wurde. Im 19. Jahrhunderts wurde das Proletariat zur Industriearbeiterklasse. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts wächst die Industriearbeiterschaft (zumindest in den meisten imperialistischen Ländern) nicht mehr oder kaum (in Relation zur Bevölkerungszahl). Der Anteil anderer Sektoren der Gesellschaft (Bildung, Wissenschaft, Kultur, Medien, Sozialbereich, Verwaltung) nahm bedeutend zu. Die dort Beschäftigten gehören nicht alle zur Arbeiterklasse, sondern oft zur LMS.

In der bürgerlichen Sozialwissenschaft werden Beschäftigte in diesen Bereichen oft generell nicht zur Arbeiterklasse gezählt. Bei Wikipedia lesen wir dazu: „Während 1970 in der BRD noch 47 Prozent der Erwerbstätigen Arbeiter und Arbeiterinnen waren, hatte sich ihr Anteil bis 1996 fast auf ein Drittel reduziert (36 Prozent) und bis 2019 auf annähernd ein Fünftel mehr als halbiert (20,8 Prozent).“ Wir fragen uns, was aus der Hälfte der Arbeiterklasse seit 1970 geworden ist? Sind sie Beamte, Unternehmer oder arbeitslos? Sicher nicht. Das „Verschwinden“ des Proletariats ist – nicht nur, aber v.a. – Ergebnis einer bestimmten „Zählweise“ und Kategorisierung. Bei Wikipedia heißt es weiter: „Die Zahl der Arbeiter in der deutschen Wirtschaft sank von fast 40 Prozent der Erwerbstätigen zu Beginn der 1990er Jahre auf etwa 25 Prozent im Jahr 2017. (…) Die Angestellten stellten 1970 knapp 30 Prozent der Erwerbstätigen dar, um die Jahrtausendwende die Hälfte und zwei Drittel im Jahre 2019.“

Hier sehen wir eine typische Methode, die Arbeiterklasse „verschwinden“ zu lassen: die Differenzierung in lohnabhängige Arbeiter und in Angestellte (Gehaltsempfänger). Nun ist der Unterschied zwischen Lohn und Gehalt sehr gering, es ist i.w. nur eine andere Bezeichnung für dieselbe Sache, nämlich Geld (Lohn) für eine Arbeitsleistung zu erhalten. Ob Lohn- oder Gehaltsempfänger: beide besitzen keine Produktionsmittel, sind von ihrem Einkommen abhängig und stehen in der sozialen Hierarchie unten. Mehr als naiv fragt Wikipedia dann: „Ist man als Verkäuferin Angestellter oder Arbeiter? Angestellte sind zum Beispiel Verkäufer, Lohnverrechnerinnen, Rezeptionisten, Sachbearbeiterinnen, Ordinationshilfen. Personen, die solche Aufgaben erledigen, sind keine Arbeiterinnen.“ Was sind sie dann?!

Wikipedia stellt fest: „Die mit Abstand größte Gruppe stellen 2022 mit 71% der Erwerbstätigen die Angestellten. Der Anteil der Arbeiter, die noch bis in die 1960er Jahre etwa die Hälfte der Erwerbstätigen ausmachten, sank in den letzten Jahren weiter und macht nur noch 11,5 % aus.“ So macht man mittels dieses Kunstgriffs der Kategorie der „Angestellten“ aus der Arbeiterklasse, welche die Majorität der Erwerbspersonen und der Bevölkerung stellt, eine Minderheit.

Die deutliche Zunahme von nichtindustriellen Bereichen nach 1945 ist ein wichtiges Merkmal der imperialistischen Epoche. In diesen Bereichen ist der Anteil der LMS besonders hoch. Die bürgerliche Sozialwissenschaft schlussfolgert daraus nun aber vorschnell, dass alle dort Beschäftigten nicht mehr zur Arbeiterklasse zählen würden. Dazu wieder Wikipedia: „2019 (war) mehr als jeder zehnte Erwerbstätige in Deutschland im öffentlichen Dienst beschäftigt (10,8 Prozent). Von den 4,9 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst im Jahr 2019 waren 61,6 Prozent Arbeitnehmer, 34,9% Beamte und Richter sowie 3,5 Prozent Berufs- und Zeitsoldaten.“ Mit unseren Worten: Die Mehrheit der im Öffentlichen Dienst Beschäftigten gehören nicht der LMS an, sondern sind – Arbeiterinnen und Arbeiter.

Natürlich wird die soziale Existenz des Proletariats nicht nur durch die oben angeführten objektiven Kriterien wie Lohnabhängigkeit, Produktionsmittellosigkeit und niedere soziale Stellung geprägt. Auch Marx und Engels haben sich schon früh das proletarische Leben angeschaut und es beschrieben. So etwa Engels in seiner Schrift „Zur Lage der Arbeiterklasse in England“. Wir wollen hier beispielhaft drei Bereiche betrachten, um zu zeigen, welche wichtigen Veränderungen sich in den Lebensverhältnissen der Arbeiterklasse in Deutschland in den vergangenen ca. 150 Jahren vollzogen haben.

Die Welt der Lohnarbeit

Hier ist zunächst augenfällig, dass die Bedeutung der geistigen Arbeit im Ergebnis der Technisierung der Produktion zugenommen hat. Der heutige Arbeiter ist wesentlich gebildeter und qualifizierter als früher. Dadurch stieg auch der Wert seiner Ware Arbeitskraft, die „hergestellt“ und „erhalten“ werden muss. Die Ausweitung bzw. Etablierung von Bildung, Gesundheitsfürsorge, Unfallschutz, Rente usw. waren damit verbunden (davon abgesehen, dass diese Bereiche selbst auch Aktionsräume des Kapitals sind). Nicht zuletzt sind diese Errungenschaften auch Ergebnis des Kampfes der Arbeiterbewegung. Verbunden mit einem allgemein höheren Lohnniveau und arbeitsrechtlichen Regelungen und Tarifsystemen ist das Leben der Arbeiterklasse in Deutschland (und generell auch als internationaler Trend) oft deutlich besser als im 19. Jahrhundert. V.a. mit dem „Langen Boom“ nach 1945 hat sich das Leben des größten Teils der Arbeiterklasse dem des Kleinbürgertums angenähert, ja es geht tw. im Niveau darüber hinaus.

Seit etwa den 2000ern geht der Trend aber wieder in die andere Richtung. Der Teil der Lohnabhängigen, der ärmer wird, nimmt zu. Zudem: Der neue „Reichtum“ der Klasse ist ambivalent. Man kann sich ein Auto leisten, man muss es aber auch. Man kann seine Kinder zum Studium schicken, man muss sie in dieser Zeit aber auch finanzieren usw. All die sozialen Fortschritte haben aber insgesamt wenig daran geändert, dass die Lage des Proletariats immer noch wesentlich von der Lohnabhängigkeit bestimmt wird.

Global gesehen sind die Bedingungen, unter denen Lohnarbeit stattfindet, meist wesentlich schlechter als etwa im arbeitsrechtlich regulierten Deutschland. Überausbeutung, Kinderarbeit und der Sklaverei ähnliche Verhältnisse sind nicht selten. Nur gute Organisation und der Klassenkampf der Lohnabhängigen bieten eine gewisse Gewähr gegen solche inhumanen Verhältnisse.

Die Lohnarbeit ist nach wie vor der prägende Teil des Lebens der Mehrheit: als finanzielle Grundlage und hinsichtlich ihrer zeitlichen Dauer. Letztere hat sich jedoch historisch stark verändert. Die tägliche und wöchentliche Arbeitszeit ist stark gesunken. Vor 100 oder 150 Jahren betrug sie 48-70 Stunden an sechs Tagen pro Woche. Urlaub gab es nicht oder sehr wenig. Heute wird in Deutschland ca. 38 Stunden wöchentlich gearbeitet. In der IG Metall gilt die 35-Stunden-Woche (die allerdings oft durch Überstunden „aufgestockt“ wird). Mehrere Wochen Urlaub sind heute normal. Dazu kommt, dass der Einstieg ins Berufsleben durch Schule, Ausbildung, Studium oder ein „soziales Jahr“ deutlich später erfolgt als früher. Durch die Zunahme der Lebenserwartung folgt dem Berufsleben nicht wie früher der baldige Tod, sondern eine relativ lange Rentenzeit. M.a.W.: der Anteil der Arbeitszeit an der Lebenszeit ist gesunken. Demgegenüber ist der zeitliche Anteil von Schulzeit, Ausbildung oder Studium, aber auch von Freizeit, Kultur, Urlaub usw. heute deutlich größer. Die Prägung der Lohnabhängigen durch die Arbeit ist also mindestens hinsichtlich der Zeit geringer.

Oft wird behauptet, dass die Arbeiterklasse früher „kollektiver“ und in Großbetrieben gearbeitet hätte. Das ist jedoch weitgehend ein Mythos. Zu Marx´ Zeit überwog z.B. in Deutschland noch das handwerklerische und kleinbetriebliche Milieu. Es gab hunderttausende Proletarierinnen, die als Hausangestellte (Wäscherinnen, Köchinnen, Putzfrauen, Kinderfrauen usw.) in den Haushalten der Reichen oder zu Hause als „Verlagsarbeiter“ tätig waren. Auch heute arbeitet das Gros der Arbeiterklasse nicht in Großbetrieben, sondern in sog. mittelständischen oder Kleinunternehmen. Es gibt aber immer noch einen Kern, der in der Großindustrie beschäftigt – und in höherem Maße gewerkschaftlich organisiert ist.

Wohnen

Das Leben der Arbeiterklasse war früher stark durch die Wohnverhältnisse geprägt. Arbeiterviertel und „Mietskasernen“ mit meist sehr schlechten hygienischen und Platzverhältnissen prägten das Bild. Sie waren zugleich aber auch Orte, wo es ein Arbeitermilieu, eine Arbeiter“kultur“ gab, ein solidarisches Miteinander. Die Arbeiterbezirke waren auch Zentren der Arbeiterbewegung (Roter Wedding). Diese proletarischen Viertel gibt es auch heute noch, jedoch sind sie keine Zentren des Klassenkampfes mehr – weil die Arbeiterbewegung und die Linke degeneriert sind.

Eine deutliche Veränderung hinsichtlich des Wohnmilieus der Arbeiterklasse hat dahingehend stattgefunden, dass der „normale“ Industriearbeiter heute oft am Stadtrand im Einfamilienhaus wohnt – also mehr oder weniger „atomisiert“. Millionen sind Pendler, was oft nur mit dem Auto möglich ist. Seit Jahrzehnten nimmt die Zeit für dieses Pendeln bzw. überhaupt die Wegezeit zur Arbeitsstelle zu – eine „indirekte“ Verlängerung der Arbeitszeit. Aktuell pendelt allein über eine Million Menschen täglich zur Arbeit über die alte innerdeutsche Grenze. Insofern gelang es dem Kapital, über Jahrzehnte die Arbeiterklasse hinsichtlich des Wohnmilieus zu vereinzeln. Ging man früher nach der Arbeit noch auf ein Bier in die Kneipe, so verabschiedet man sich heute auf dem Parkplatz des Unternehmens. Dass diese Vereinzelungsstrategie so funktionieren konnte, lag auch, vielleicht sogar wesentlich daran, dass die reformistische, v.a. von der SPD beherrschte, Arbeiterbewegung nichts dagegen unternommen hat, etwa in Form von genossenschaftlich-selbstverwalteten Wohnprojekten. Dass das durchaus möglich gewesen wäre, zeigt das Beispiel der „Neuen Heimat“, der einst größten Immobiliengesellschaft Europas. Sie war ein Unternehmen der Gewerkschaften, das aber nicht auf Selbstverwaltung beruhte, sondern von einer Bürokratie gemanagt wurde, die das Projekt komplett ruinierte, so dass es Ende der 1980er für eine symbolische Mark verkauft wurde.

Kultur

Die Arbeiterklasse hat sich im Laufe ihrer Entwicklung von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“ diverse politische und soziale Strukturen geschaffen: Parteien, Gewerkschaften, Genossenschaften usw. Auch im Bereich der Kultur wurden spezifisch proletarische Strukturen und Lebensweisen geschaffen: von der Bierkneipe über Arbeiterchöre, Wandervereine, Naturfreundegruppen und Arbeitersportvereine bis hin zu Arbeiterbildungsvereinen. Auch das kollektive Miteinander im proletarischen Kiez gehörte dazu. Diese Strukturen waren oft Ausgangsmilieus von Arbeiterparteien, wie z.B. die Entstehung der deutschen Sozialdemokratie zeigt.

Mit dem Faschismus und nach dem 2. Weltkrieg erodierten viele dieser Strukturen oder wurden zerstört. Die eigenständigen Formen proletarischer Kultur lösten sich meist in „normalen“ bürgerlichen Organisationen auf. Bürgerliche Normen und Werte wurden somit auch von der Arbeiterklasse massenhaft übernommen, Kommerz, Konkurrenz, Nationalismus usw. breiteten sich aus. Diese Entwicklung war in dieser Art nur möglich, weil auch die politische Arbeiterbewegung (Parteien, Gewerkschaften) inzwischen selbst einen Degenerationsprozess durchlaufen hatte und komplett reformistisch geworden war.

Proletarische Selbstorganisation

Die Lebensweise der Arbeiterklasse, ihre Kultur, ihre Ideologie sind im Kapitalismus allgemein bürgerlich, meist in Gestalt des Reformismus. Das herrschende Bewusstsein ist das Bewusstsein der Herrschenden. Dieser Umstand schließt jedoch nicht aus, dass damit auch Kritik an den herrschenden Zuständen verbunden ist – bis hin zu „revolutionären“, antikapitalistischen Einstellungen und Emeuten, die aber nur Teile der Klasse erfassen und eher spontanen Charakter haben.

Es ist trotz der Dominanz bürgerlichen Bewusstseins möglich, die bewussteren Teils des Proletariats in eigenständigen Klassenorganisationen – in Partei und Gewerkschaften – zu organisieren. Das reicht allerdings nicht aus, um ein revolutionäres Potential zu erhalten, das stark genug ist, um in einer revolutionären Situation den Kapitalismus zu stürzen. Das Modell der Russischen Revolution von 1917, als die Partei der Bolschewiki der entscheidende Faktor war, ist unter den heutigen – und selbst unter den damaligen Bedingungen im Westen – nicht ausreichend, um Erfolg zu haben. Allein die deutlich größere Stärke und Verankerung der Bourgeoisie in der Gesellschaft und der weit-aus größere Einfluss des Reformismus stellen enorme Herausforderungen dar.

So wichtig, ja zentral die Existenz einer revolutionären Arbeiterpartei auch ist – sie kann nicht der einzige Hebel sein, um den Kapitalismus aus der Bahn zu werfen. Dazu braucht es ein antikapita-listisch-oppositionelles Milieu in allen Bereichen der Gesellschaft: in Ökonomie, Kultur, Bildung – im Alltagsleben. Überall muss die Arbeiterklasse eigene Strukturen aufbauen, eigene, proletarische Interessen vertreten, sie muss sich von Staat und Kapital wenigstens partiell unabhängig machen und sich gegen diese richten. Dafür gibt es überall Möglichkeiten – allerdings mangelt es auch fast überall am Willen und an der Erkenntnis, diese zu nutzen. Das – die Unterordnung der Lohnabhängigen unter bürgerliche Strukturen und Denkweisen – ist ein wesentliches Merkmal des Reformismus.

Was sind solche „proletarischen Strukturen“? Neben der Partei und den Gewerkschaften – bzw. oppositionellen und revolutionären Basis-Strukturen darin – geht es v.a. um „soziale“ Projekte, d.h. um Strukturen, die nicht nur politisch relevant sind, sondern wo sich soziales Leben abspielt: im sozialen Bereich, in Kultur und Bildung, im Freizeitbereich, im Verkehrsbereich, im Wohnbereich usw. usw. Dort gilt es, selbstverwaltete, kooperative Projekte aufzubauen, die möglichst unabhängig von Staat und Kapital sind. Es gab und gibt viele erfolgreiche Beispiel, die zeigen, dass das möglich ist. Diese Projekte sind nicht einfach „Sozialismus im Kleinformat“, sondern Ansätze proletarischer Selbstorganisation. Hier können die Massen sich ausprobieren und Erfahrungen sammeln. Diese alternativen Inseln müssen zu einem großen Archipel verbunden werden. Das aber kann nur gelingen, wenn 1. all diese verschiedenen Ansätze miteinander verbunden sind und interagieren. 2. müssen sie von der Arbeiterbewegung getragen, ausgebaut und vernetzt werden. Eine zentrale Rolle muss dabei die revolutionäre Partei spielen. So lange die oppositionellen Inseln voneinander isoliert bleiben, werden sie kaum Wirkung entfalten und von Staat und Kapitals zerstört werden.

Fazit

Wir haben gezeigt, dass die Arbeiterklasse trotz aller Veränderungen immer noch existiert, und dass sie (nicht nur in Deutschland) die Mehrheit der Lohnabhängigen und der Bevölkerung stellt. Sie hat nach wie vor die engsten Verbindungen zu den Zentren der Mehrwertproduktion und eine immense potentielle ökonomische Macht als Produzenten und Konsumenten. Der Umstand, dass die Arbeiterklasse bzw. -bewegung nur selten kämpft und kaum revolutionäres Bewusstsein zeigt, ist weniger das Ergebnis objektiver Veränderungen als die Folge jahrzehntelanger falscher Politik von Reformismus und Stalinismus.

Die Periode des Kapitalismus nach 1945, als es auch für die Mehrheit des Proletariats aufwärts ging (Langer Boom), ist vorbei. Stattdessen werden zunehmend Krisen, Kriege und Sozialabbau das Bild prägen, Abwehrkämpfe der Klasse provozieren und den Reformismus in schwieriges Fahrwasser zwingen. Es kommt darauf an, diese Chancen zu nutzen, die Arbeiterbewegung auf revolutionär-marxistischer Grundlage zu erneuern und dem Proletariat als „Totengräber des Kapitalismus“ wieder das nötige Werkzeug in die Hand zu geben.

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