Vorwort: Wir dokumentieren nachfolgend die Rede von Hanns Graaf von der Initiative Aufruhrgebiet auf der 1.Mai-Kundgebung der Freien Linken in Berlin. Redaktion Aufruhrgebiet
Kolleginnen und Kollegen, Genossinnen und Genossen!
Wir leben in bedenklichen Zeiten. Die Ampelregierung war so unbeliebt wie keine andere deutsche Regierung nach 1945. Trotzdem gab es kaum Proteste gegen sie. Immerhin gab es Tarif-Streiks der Gewerkschaften gegen die Folgend der Inflation. Doch gegen die Kriegs- und Aufrüstungspolitik, gegen die absurde Klima- und Energiepolitik der Ampel kämpft der DGB nicht. Dagegen protestierten v.a. vom Kleinbürgertum geprägte Bewegungen, die schon gegen die absurde und ruinöse Coronapolitik am aktivsten waren. Warum sie? Weil die Linke und die Gewerkschaften inaktiv waren!
Statt gegen die Ampelregierung gab es Massenproteste gegen „Rechts“. Es ist zwar richtig, sich der AfD u.a. Rechten entgegenzustellen, doch die v.a. von der Antifa, der SPD, den Grünen, den Kirchen, von NGOs u.a. reformistischen Kräften organisierten Aktionen dienten v.a. dazu, den Protest von der Regierung abzulenken und diese als „demokratisch“, „human“ und „fortschrittlich“ hinzustellen. Dafür wurde die AfD zu einer faschistischen Partei hochstilisiert, die sie – zum Glück – nicht ist. Fast alle wesentlichen Merkmale einer wirklichen faschistischen Organisation fehlen ihr.
Dieses clevere Ablenkungsmanöver des bürgerlichen Establishments konnte aber nur gelingen, weil die Linke und die Arbeiterbewegung – von den Reformisten vom DGB, der SPD, der Linkspartei bis hin zur „radikalen Linken“ – versagt haben. Das ist kein Zufall! Schon seit Jahrzehnten passt sich das Gros der linken Szene bürgerlichen Ideologien und Projekten an, z.B. dem Genderismus oder dem Klimaalarmismus. Früher kämpfte man gegen Staat und Kapital, heute bekämpft man das CO2-Molekül. Früher engagierte man sich für die Interessen von Millionen Lohnabhängigen, heute streitet man für die Interessen kleiner Minderheiten und für die Verkomplizierung der Sprache und erfindet neue Geschlechter.
Lügen und Absurditäten wie die Coronahysterie, die Atomphobie oder die verrückten Klimakleber werden vom Gros der linken Szene unterstützt. Diese „Linken“ standen und stehen damit in wichtigen Fragen gegen die Massen auf der falschen Seite der Barrikade, sie sind unfähig, die schädliche und betrügerische Mainstreampolitik von Merkel, Scholz, Habeck, Baerbock und Strack-Zimmermann zu bekämpfen.
Von der SPD kann Widerstand nicht erwartet werden – im Gegenteil: die SPD ist oft genug selbst Speerspitze der reaktionären Attacken und hat für das Kapital zudem den Vorteil, dass sie über den DGB den organisierten Teil der Lohnabhängigen kontrolliert. Doch die SPD bezahlt ihren Klassenverrat teuer: seit Jahrzehnten verliert sie massiv Mitglieder und Wähler.
Manche glauben deshalb, die Linkspartei wäre eine Alternative zur SPD. Doch sie war schon als PDS nur ein etwas linkeres Pendant zur SPD mit ebenfalls rein reformistischer Politik. Diese bewegt sich nur im Rahmen des Kapitalismus, in dessen Strukturen und Regularien. Etwas anderes als Parlamentarismus und Kommunalpolitik können sich diese blassroten Genossen nicht vorstellen. Nach der Fusion mit der WASG zur LINKEN gab es ein kurzes Zwischenhoch, dem dann ein Absturz unter die 5%-Hürde folgte.
Vor der letzten Bundestagswahl aber fielen für die LINKE Ostern und Weihnachten zusammen: das BSW als vorgeblich neue Kraft hatte sein bisschen alternatives Pulver mit den auf totaler Anpassung beruhenden Regierungsbeteiligungen in Thüringen und Brandenburg schnell verschossen. Dann kam die Zustimmung der Wagenknecht-Fraktion und der Union zur weitgehend reaktionären Asylpolitik der AfD und der Rechtsruck der Grünen. Da reichten ein etwas linkeres Auftreten, ein engagierter Haustürwahlkampf und mehr Internetaktivität für den Wahlerfolg schon aus.
Nun hat die LINKE über 100.000 Mitglieder. Sie gewann v.a. junge Leute, Studierende, Linke aus dem Antifamilieu. Gerade diese Schicht aber steht für die woke Politik, die die LINKE seit Jahren betreibt. Die LINKE hat demgegenüber aber fast alle ihre Mitglieder und Wähler aus der Arbeiterklasse verloren. Und sie wird sie nicht zurückgewinnen. Der Grund dafür ist v.a., dass die Zeit von Wachstum und Prosperität vorbei ist und der Reformismus nichts mehr zu verteilen hat. Statt des Kaufs einer neuen Hose geht es nun eher um das Gürtel-enger-schnallen.
Ein Beispiel für das Versagen der Linkspartei ist Berlin. Erst wurden vom rot/roten Senat zehntausende Wohnungen an Immobilienkonzerne verscherbelt. Dann entstand die Bewegung „Deutsche Wohnen und Co. enteignen!“. Diese wurde jedoch nicht von der LINKEN initiiert und von ihr nur halbherzig mitgetragen – und schließlich vom Berliner Senat aus SPD, Linkspartei und Grünen in einem parlamentarischen Untersuchungsgremium „entsorgt“. Das ist Linksparteipolitik in der Praxis! Die LINKE zu unterstützen ist wie das Füttern eines dreibeinigen Pferdes, um das Derby zu gewinnen.
Im Januar 2024 gründetet sich dann das BSW. Viele hatten damals die Hoffnung, dass die Wagenknecht-Partei die realen Probleme anpackt und die tw. absurden Positionen der Linkspartei überwindet. Doch die Erwartungen wurden bald enttäuscht. Es mangelt dem BSW an einer wirklichen Analyse der Politik der Linkspartei und des Reformismus. Es gibt keine Aufarbeitung des Niedergangs von Wagenknechts Projekt „Aufstehen“. Die falsche und gescheiterte Strategie der Linkspartei, die Orientierung auf das Mitregieren und der Nur-Parlamentarismus, die Weigerung, gegen die Vorherrschaft des Reformismus in den Gewerkschaften zu kämpfen und die Vernachlässigung des Aufbaus von Mobilisierungsstrukturen – all das führt das BSW weiter.
Mit Klassenkampf und Antikapitalismus hat das BSW nichts zu tun. Selbst in der Friedensfrage sind Wagenknechts Argumente oft schlecht, v.a. aber tut das BSW nichts dafür, zu mobilisieren und Aktionsstrukturen aufzubauen.
Einstein sagte einmal: „Es ist ein Zeichen von Wahnsinn, immer dasselbe zu tun, aber andere Ergebnisse zu erwarten.“ Wir leben in bedenklichen Zeiten.
Die antikapitalistischen Kräfte und die „radikale Linke“ sind zersplittert und sehr schwach und können dem System nicht gefährlich werden. Ihr Niedergang dauert schon Jahrzehnte. Was sind die Ursachen dafür? Ein Grund ihres Niedergangs ist die Dominanz der Arbeiterbewegung durch die Sozialdemokratie. Ein anderer die Zerstörung des revolutionären Flügels der Arbeiterbewegung durch den Stalinismus. Die jahrzehntelange Vorherrschaft dieser Kräfte sorgte dafür, dass selbst beste Chancen zum Sturz des Kapitalismus in den 1930 und 40er Jahren vereitelt wurden und in blutigen Niederlagen endeten. Diese Jahrzehnte der Irreführung und der Niederlagen – verbunden mit einer längeren Prosperitätsphase nach dem 2. Weltkrieg – unterminierten das Bewusstsein der Arbeiterklasse und deformierten die Linke.
Die Schwäche der revolutionären Kräfte liegt auf der Hand. Weniger beachtet wird hingegen das historische Scheitern des Reformismus, das sich hierzulande im Jahrzehnte langen Schrumpfen der SPD, aber auch in der Stagnation der Linkspartei und v.a. an ihrem erodierenden Einfluss auf die Arbeiterklasse zeigt.
Wir brauchen die Linkspartei, die SPD und das BSW wie der Fisch das Fahrrad!
Was wir aber wirklich dringend brauchen, ist eine neue antikapitalistische Partei! Eine Partei, die mobilisiert und sich nicht als Mitregierungspartei für das Establishment prostituiert. Wir brauchen eine Organisation, die sich auf die Arbeiterklasse und den Klassenkampf orientiert und nicht auf die woke Mittelschicht. Wir brauchen eine Partei, die in der Lage ist, die Realität zu analysieren und nicht jeder – vermeintlich linken – bürgerlichen Ideologie und Bewegung hinterherrennt. Wir brauchen eine Kraft, die gegen den Reformismus kämpft und sich ihm nicht unterwirft.
Doch eine solche Kraft kann nicht einfach gegründet oder proklamiert werden. Sie ist, um mit Brecht zu sprechen, das „Einfache, das schwer zu machen ist“. Sie kann nur Ergebnis eines Neuformierungs-Prozesses sein, nur Ergebnis ernsthafter Diskussionen und praktischer Kooperation.
Wir brauchen auch eine klassenkämpferische Opposition im DGB. Wir brauchen selbstverwaltete Strukturen und Genossenschaften. Aber wir brauchen auch eine Partei. Eine Partei ist nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts! Nur eine Partei kann Widerstandsmilieus verbinden, nur sie kann ein System von Strategie und Taktik entwickeln und die historischen Erfahrungen des Klassenkampfes aufarbeiten.
Warum spielt die Frage einer neuen Partei in der linken Szene aber keine Rolle?! Wir leben in bedenklichen Zeiten.
Wie lange wollen noch darauf hoffen, dass aus dem Kaninchen Linkspartei ein Löwe wird? Wie lange noch wollen wir in einer linken Kleinstgruppe und ihrem Ismus auf ein Wachstumswunder warten? Wie lange noch wollen wir vereinzelt herumwurschteln, anstatt gemeinsam praktisch zu arbeiten und zu diskutieren – nicht gegeneinander, sondern miteinander?! Marx sagte: An allem ist zu zweifeln. Das heißt doch aber, auch und zuerst unsere eigenen Anschauungen, unsere eigene Praxis, unsere eigene Organisation zu hinterfragen.
Der Reformismus ist in einer tiefen Krise. Das System hat nichts mehr zu verteilen. Aufwärts geht es nur mit den Konten der Reichen. Heute gilt wieder: Kanon statt Butter! Kriegstüchtigkeit statt Frieden!
Aber: Diese Entwicklung ist nicht nur bedrohlich, sie bedeutet auch, dass es mehr Unzufriedenheit geben wird – und mehr Widerstand. Erfolg ist, wenn Vorbereitung auf Chance trifft. Die Chancen werden kommen – es mangelt der Linken aber an Vorbereitung. Alle sehen die neuen Bedrohungen – aber alle machen so weiter wie bisher.
Wir leben in bedenklichen Zeiten!