Als „Imperialismus“ bezeichnen MarxistInnen den Kapitalismus des 20. und 21. Jahrhunderts – in zweierlei Hinsicht. Erstens charakterisieren sie die stärksten kapitalistischen Länder, welche die heutige Welt beherrschen, als „imperialistisch“; zweitens nennen sie die gegenwärtige globale Wirtschaftsordnung eine „imperialistische“. Wenn wir begreifen, was Imperialismus ist, haben wir einen Schlüssel zur Hand, um die ökonomischen und politischen Krisen unserer Welt besser zu verstehen und die tieferen Ursachen von Kriegen, Hungersnöten und Rassismus zu begreifen.
Der Begriff „imperialistisch“ ist nicht neu. Schon das Römische Reich nannte sich „Imperium romanum“. Später bezeichnete man mit „imperialistisch“ eine auf die Beherrschung, Ausbeutung und Unterdrückung der Welt ausgerichtete Politik. Doch der Marxismus versteht darunter mehr als nur eine bestimmte Politik. Für ihn ist der Imperialismus ein Kapitalismus auf einer bestimmten Entwicklungsstufe, der bestimmte Merkmale in Ökonomie, Sozialstruktur, Ideologie und Bewusstsein aufweist.
1916, mitten im Gemetzel des 1. Weltkriegs, schrieb Lenin sein Buch „Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus“, eine – nicht sehr tiefgehende, populäre – Darstellung des modernen Kapitalismus. Lenin beschrieb darin 5 Hauptmerkmale des Imperialismus:
„Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist.“
Grundlage des Imperialismus ist die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft, die auf dem permanenten Streben nach Profit fußt. Je größer ein Kapital, z.B ein Konzern, desto größer seine Macht, seine Absatzmärkte und die Masse des Profits. Für diese hoch konzentrierten Kapitalmengen ist der nationale Markt zu eng. Der Kampf um ausländische Märkte und Rohstoffe wird überlebenswichtig.
Zwei verheerende Weltkriege und viele „Stellvertreterkriege“ entbrannten um die Verteilung und Neuaufteilung der Einflußsphären zwischen den imperialistischen Großmächten Britannien, Frankreich, Deutschland, die USA und Japan und deren Konzernen. Nach dem 2. Weltkrieg zerbrach das Kolonialsystem. Die Direktherrschaft über die Kolonien wich der formellen Unabhängigkeit dieser Staaten. Jedoch besteht deren reale Unterordnung und Abhängigkeit auf wirtschaftlicher und politische Ebene weiter fort. Die Kolonien wurden nicht wirklich frei, sie wurden zu Halbkolonien des Imperialismus.
Die Ausbeutung des unter den großen Konzernen und Staaten aufgeteilten Weltmarkts ermöglicht es den Kapitalisten der imperialistischen Länder, die so erzielten Extraprofite auch zur Bestechung eines Teils der Arbeiterklasse zu verwenden. Diese Arbeiteraristokratie und die sich darauf stützende Arbeiterbürokratie als soziale Basis des Reformismus sind typische Phänomene des Imperialismus.
Die heutige Weltwirtschaft wird von riesigen Monopolen und multinationalen Gesellschaften wie CocaCola, McDonalds, Siemens, Apple, facebook, Toyota oder VW dominiert und von einigen führenden – miteinander konkurrierenden – imperialistischen Ländern bzw. Blöcken wie den USA, Japan, der EU oder China beherrscht. Diese Machtstellung äußert sich z.B. darin, dass die Handelsbeziehungen oft zu Ungunsten der Entwicklungsländer geregelt sind und diese in Abhängigkeit und Verschuldung gehalten werden.
Heute diktiert der Imperialismus mittels des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank oder der Welthandelsorganisation WTO – Agenturen, in denen die imperialistischen Hauptmächte das Sagen haben – den Ländern der „Dritten Welt“ Sparpakete und Strukturanpassungsprogramme. So bestimmt der Imperialismus, was produziert wird und wer daran verdient – nicht die Einwohner dieser Länder. Das bestätigt die Dominanz des Finanzkapitals, wie Lenin sie beschrieb: „Die Übermächtigkeit des Finanzkapitals über alle anderen Formen des Kapitals bedeutet die Vorherrschaft der Renten- und Finanzoligarchie; sie bedeutet, daß eine kleine Anzahl finanziell mächtiger Staaten über den Rest herrscht.“ Diese Finanzoligarchie durchdringt die ganze Welt. Ihre Gelder fließen dorthin, wo die Ausbeutung am profitabelsten ist. Neben dem Handel mit Waren ist der Export von Kapital für Tochterunternehmen oder Beteiligungen in anderen Ländern von großer Bedeutung.
Die immer größeren Kapitalmengen finden jedoch durch die Beschränkungen des Weltmarkts und riesige Überkapazitäten oft nur schwer eine profitable Anlage- bzw. Investitionsmöglichkeit. Das Kapital drängt daher in den spekulativen Geldmarkt. Die Zockerei der Finanzongleure – Milliardäre, Banken und Fonds – verstärkt die Krisenhaftigkeit, führt zu wachsenden Staatsschulden und ruiniert ganze Länder und Regionen, z.B. Griechenland. Der Gedanke, dass der Imperialismus der „3. Welt“ Wohlstand bringt, wirkt heute wie ein schlechter Scherz. Selbst imperialistische „Entwicklungshilfe“ unterminiert oft die einheimische Wirtschaft und die sozialen Strukturen der Entwicklungsländer. Abhängigkeit und Unterentwicklung verschwinden nicht, im Gegenteil: oft nehmen sie noch zu. Hungersnöte, Epidemien und Slums sind die Lebensrealität ungezählter Millionen weltweit.
Mit dem Verweis auf die relative Ruhe zwischen den imperialen Mächten nach dem 2. Weltkrieg wurde es modern, Lenins Imperialismustheorie und v.a. seine revolutionären Schlussfolgerungen zu kritisieren. Der Imperialismus sei sozialer und friedlicher geworden, sagten seine Kritiker. Sie lobten den Imperialismus für die Entwicklung der Wirtschaft in rückständigen Ländern. Bald wären Afrika und Asien durch die Globalisierung so wohlhabend wie Europa und die USA. Doch das trifft allenfalls auf wenige Länder zu, die einen Aufschwung erleben (z.B. China), die Mehrheit behält ihre Rolle als „underdogs“ der Welt. Die Globalisierung schafft nicht eine harmonischere und friedlichere Welt, sondern wachsende Ungleichheit, mehr Konflikte und tiefere Krisen.
Das Wiederaufbrechen inner-imperialistischer Konflikte, auch wenn sie bis jetzt auf Handelskriege und ökonomische Gefechte beschränkt blieben, kann künftig auch wieder zu größeren militärischen Konfliken zwischen den imperialistischen Blöcken führen.
Widersetzt sich eine Halbkolonie den Interessen der Imperialisten oder droht ein Land der „3. Welt“ zu selbstständig zu werden, wie der Irak 1990/91, wird Widerstand mit militärischer Gewalt von den USA bzw. der NATO niedergeschlagen. In solchen Konflikten müssen wir uns auf die Seite der Halbkolonie stellen, ihren militärischen Kampf unterstützen, ohne jedoch die bürgerlichen und tw. reaktionären Ziele und Methoden deren Führer politisch zu unterstützen oder gar vom Kampf gegen sie abzulassen.
Immer wieder gibt es Versuche, die Macht des Imperialismus und der mit ihm zeitweilig verbündeten reaktionären Despoten zu brechen. Ein Beispiel dafür war der „Arabische Frühling“. Hier zeigte sich aber auch, wie schnell eine solche progressive Bewegung scheitern oder zu reaktionären Resultaten führen kann, wenn sie keine konsequent sozialistische Orientierung hat und eine revolutionär-proletarische Führung fehlt.
Der Sieg einer Halbkolonie – selbst unter der Führung eines Diktators wie Saddam Hussein – kann dem Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung weltweit Auftrieb geben. Ein solcher Sieg ist jedoch nur durch die aktive Mobilisierung und Beteiligung der ArbeiterInnen und armen Bauern möglich. Haben sie erst einmal mit der Waffe in der Hand gesiegt, sind sie auch von einem Diktator nicht mehr so leicht zu unterdrücken.
Imperialismus ist nicht nur eine bestimmte Politik, welche die imperialistischen Länder einfach aufgeben könnten, wenn sie wollten. Imperialismus ist ökonomisch Kapitalismus auf „entwickelter“ Stufe, d.h. mit Erscheinungen verbunden, die es im frühen Kapitalismus noch nicht so ausgeprägt oder in so dominanter Form gab (Monopolisierung, herrschendes Finanzkapital usw.). Solange es Profitwirtschaft gibt, wird es Ausbeutung, Unterdrückung, Umweltzerstörung und Unterordnung des Menschen unter den „ökonomischen Sachzwang“, sprich die Interessen der Banken und Konzerne, geben. Kriege, Verwüstungen, Armut und Völkermord, Diktaturen, Bürgerkriege und Krisen sind die Konsequenz.
Lenin beschrieb den Imperialismus als ein Stadium des Kapitalismus, wo dieser – im Unterschied zum Frühkapitalismus – „reaktionär auf der ganzen Linie“ ist. Er kennzeichnet ihn als „parasitär“, „faulend“ und „sterbend“. Lenin malt damit ein Zusammenbruchsszenario, das mit einer immer schwächeren Entwicklung der Produktivkräfte verbunden wäre. Diese Einschätzung hat sich so jedoch nicht bestätigt. Vielmehr gibt es einerseits die Tendenz einer immer „hektischer“ sich vollziehenden Entwicklung von Wissenschaft und Technik und des weiteren Wachstums der Arbeiterklasse; andererseits die immer stärkere Tendenz der „Pervertierung“ dieser Potenziale, die immer weniger zum allgemeinen sozialen Fortschritt der Welt und der Lösung ihrer Probleme beitragen. Nicht der Stillstand, sondern der imperialistische „Rahmen“ dieser Dynamik ist das „Reaktionäre“ und wird zum Ausgangspunkt der – von Lenin korrekt gesehenen notwendigen revolutionären Alternative.
Lenin u.a. Führer der II. Internationale waren auch der Meinung, dass die steigende Konzentration des Kapitals und dessen wachsende Verschmelzung mit dem Staat obejektiv „Schritte Richtung Sozialismus“ seien. Daraus folgerten sie, dass das Proletariat bzw. die Partei den – modifzierten – Staat nur noch übernehmen müsse, um den Kommunismus aufzubauen. Diese Auffassung führte jedoch geradewegs in den Stalinismus und ist historisch gescheitert.
Mit dem Imperialismus entwickelte sich auch der systematische Rassismus. Als die Kapitalisten Anfang des 20. Jahrhunderts ihre eigenen Arbeiter als Kanonenfutter mißbrauchten, wollten sie die erwachende Solidarität der ArbeiterInnen in Nationalismus, Militarismus und Rassismus ertränken. Sie führten systematisch Gesetze gegen MigrantInnen und ethnische Gruppen bzw. Minderheiten ein – bis hin zum Holocaust an den Juden.
Doch es gibt eine Alternative: Der Kapitalismus der imperialistischen Epoche wird entweder von der Arbeiterklassde revolutionär überwunden oder führt zu immer brutaleren Kriegen, Völkermorden und Wirtschaftskrisen. Die von Rosa Luxemburg formulierte Alternative „Sozialismus oder Barbarei?“ stellt sich immer dringlicher. Doch Imperialismus bedeutet nicht nur Krieg und Armut, Völkermord und Flüchtlingsströme, Diktaturen und Bürgerkriege, Krisen, Ausbeutung und Unterdrückung. Im Imperialismus spitzt sich auch der Widerspruch zwischen der immer stärkeren Vergesellschaftung der Produktion und der privaten Aneignung des erzeugten Reichtums, der Widerspruch zwischen den sich enorm entwickelnden Produktivkräften (Arbeiterklasse, Wissenschaft, Technik) und den sie einengenden und pervertierenden Produktions- und Eigentumsverhältnissen weiter zu. Deshalb nennt Lenin die imperialistische Epoche auch korrekt den „Vorabend der proletarischen Revolution“.