Hanns Graaf
Anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung Israels meinte Götz Aly in einer Kolumne in der Berliner Zeitung (BZ) „Israel macht glücklich“ (Quelle). Offenbar erreichten die Zeitung daraufhin zahlreiche Zuschriften von LeserInnen, die über Alys Israel-Jubel alles andere als glücklich waren. Dieser ging am 22. Mai in einer erneuten Kolumne auf diese Kritiken ein. Wir nehmen dies hier zum Anlass, um unsererseits auf die Argumente Alys einzugehen.
Zunächst verteidigt sich Aly dafür, mit keinem Wort auf die derzeitige Eskalation an der Grenze Israels zu Gaza mit vielen toten und verletzten PalästinenserInnen sowie die Verlegung der US-Botschaft durch den Beschluss von US-Präsident Trump eingegangen zu sein. Völlig zu recht schrieb der Historiker Chr. Kleßmann in seinem Leserbeitrag dazu, dass Alys Artikel „nur noch peinlich“ sei.
Peinlich ist auch Alys Antwort auf sein Kritiker. Sicher ist eine Kolumne keine Doktorarbeit, die auf alle Aspekte eingehen kann, wie Aly betont. Doch schon der Titel der Kolumne, „Israel macht glücklich“, wenn gleichzeitig PalästinenserInnen an seiner Grenze erschossen und permanent tausende von israelischen Siedlern vertrieben werden, ist an Zynismus kaum zu überbieten. Aly hätte, wenn er nun schon Israel für einen Hort des Glückes hält, wenigstens mit einem Satz auch auf die mit der Existenz Israels und seiner Politik verbundenen Probleme eingehen müssen. Doch das ist nicht nur schlechter Stil, der Wahnsinn hat auch hier durchaus Methode. Denn wer wie Götz Aly die Gründung Israels vorbehaltlos nicht nur befürwortet, sondern gar bejubelt, der darf natürlich keinen Zusammenhang zwischen der Staatsgründung und deren fatalen Folgen seit nun schon 70 Jahren – Kriege, ein permanenter Bürgerkriegszustand, Vertreibung hunderttausender PalästinenserInnen, die Ghettoisierung Gazas usw. – herstellen.
Israel: eine Folge des Holocausts?
Wie immer wird natürlich der Holocaust auch von Aly als Ursache der Gründung Israels angeführt. Sicher spielt das Trauma der Judenvernichtung eine große Rolle dafür, dass viele Juden nach Israel gingen und einen eigenen Staat wollten. Doch Alys These ist trotzdem historisch nicht haltbar. Erstens waren Faschismus und Krieg 1948 schon beendet, nur eine kleine Minderheit der Juden war bereits davor nach Palästina gegangen oder konnte dies tun. Zweitens war es durchaus nicht notwendig, dass die Juden, die nach Palästina gegangen waren, dort einen eigenen Staat begründeten, denn schon immer haben Juden, Muslime und Christen in dieser Region gelebt, ohne dass es wie heute einen ständigen und mörderischen Bruderkrieg zwischen ihnen gegeben hätte. Die tiefen Gegensätze zwischen Juden und Arabern kulminierten erst, als die nach dem 1.Weltkrieg in Palästina regierende britische Mandatsmacht sich bei ihrer kolonialen Unterdrückung der Araber der dort lebenden Juden bediente, getreu dem Motto „Teile und herrsche“. Zum beiderseits hasserfüllten, religiös und nationalistisch aufgeheizten Dauerklinch jedoch kam es erst mit der Gründung Israels.
Der Grund hierfür ist einfach zu finden: die Ansiedlung der Juden war mit der massenhaften Vertreibung der in Palästina ansässigen arabischen Mehrheitsbevölkerung verbunden. Auch wenn es z.T. auch zu legalen Verkäufen von Land durch arabische Großgrundbesitzer an jüdische Siedler kam, ändert das nichts an deren Resultat: den Verlust der Existenzgrundlage vieler PalästinenserInnen und ein Leben in Flüchtlingslagern. So grausam das Schicksal der europäischen Juden im Holocaust auch war – es kann nicht dadurch behoben werden, dass andere Menschen unter der neu gewonnenen Selbstbestimmung der Juden leiden.
Die Rolle des Zionismus
Die Schaffung eines jüdischen Staates war das zentrale Projekt des Zionismus, der Ende des 19. Jahrhunderts entstanden war. Zwar gab es bei einer Minderheit der Juden auch schon vorher diese Idee, doch erst der Zionismus hat sie weiter verbreitet und real umzusetzen versucht. Dazu baute er auf die Unterstützung der großen kapitalistischen Mächte. Als (besondere) bürgerlich-nationalistische Strömung erwies sich der Zionismus auch dadurch, dass er den Judenstaat als einen auf Privateigentum beruhenden ansah. Zudem betrachtete der Zionismus die Juden als auserwähltes und – v.a. gegenüber den Arabern – als kulturell höherstehendes Volk. Der Zionismus war insofern den die koloniale Unterdrückung begründenden Ideen der Großmächte durchaus ähnlich. Konkret drückte sich das u.a. darin aus, dass die jüdischen Unternehmen im „gelobten Land“ Israel billige arabische Arbeitskräfte nutzen sollten.
Die unterdrückerischen, rassistischen und kolonialistischen Merkmale Israels und seiner Politik sind also weder Zufall noch Randerscheinungen, sondern entspringen direkt dem Zionismus und sind Grundlagen der Existenz Israels. Gemäß dieser Logik wurde Israel dann – und konnte auch nur – mithilfe der imperialistischen Großmächte gegründet werden.
Götz Aly sieht das freilich ganz anders. Für ihn geht die Gründung Israels ganz in Ordnung, weil sie ja durch eine UNO-Resolution, also das „Völkerrecht“, gedeckt ist. Nun entspricht es allerdings durchaus noch nicht einmal diesem „Völkerrecht“, wenn in einer Region ein neuer Staat implantiert und dafür die dort lebende Bevölkerung vertrieben wird. Es stört den Israelfreund Aly auch nicht, dass fast alle arabischen Länder der Region, die von der Gründung Israels ja direkt tangiert waren, gegen diese Gründung waren. Um die Rechte und Interessen dieser Länder und Völker scherte sich das noble „Völkerrecht“ natürlich nicht. Hier erweist sich Aly einfach als recht naiver Anhänger des bürgerlichen Systems und seiner Rechtsauffassungen.
Götz Aly übersieht vor lauter Völkerrechts-Weihrauch ganz und gar die wirklichen Interessen und Motive der kapitalistischen Großmächte bei der Gründung Israels. Der Hauptakteur USA wollte Britannien als Hegemon in der Region ablösen und die Ölregion selbst kontrollieren. Dazu diente und dient ihm (und im Gefolge der USA allen westlichen Mächten) Israel quasi als Statthalter. Das lässt sich Washington auch einiges kosten. Ohne die Hilfe der USA und des Westens wäre Israel wahrscheinlich schon lange pleite und könnte auf jeden Fall seine Hochrüstung nicht mehr bezahlen.
Denunziation des Widerstands
Nicht besser sieht es mit Alys Darstellung der Vorgänge an Israels Grenze aus. Offenbar haben ihn mehrere LeserInnen dafür kritisiert, dass er in seiner ersten Kolumne „Israel mach glücklich“ darauf nicht einging. Das hat Aly nun nachgeholt. Er kritisiert die Medien dafür, dass sie von palästinensischen „Demonstranten“ am Grenzzaun reden. Für Aly hingegen sind sie „Aggressoren“. Nun kommt wahrscheinlich niemand außer Aly auf die Idee, unbewaffnete Leute „Aggressoren“ zu nennen, denn dieser Begriff wird in der Regel für das Militär oder für Staaten verwendet, die andere Staaten angreifen, terrorisieren und besetzen. Warum übertreibt Aly also derart? Weil er so den PalästinenserInnen jede Berechtigung für ihren Protest absprechen kann und sie auf die Seite des Unrechts stellt. Doch wenn sie sich gegen ihre Vertreibung durch Israel und gegen ihre Unterdrückung und Benachteiligung auflehnen, dann stehen sie auf der richtigen Seite der Barrikade – nicht Israel. Und auch mit dem Holocaust, der vor über sieben Jahrzehnten stattfand und für den die PalästinenserInnen absolut keine Schuld tragen, hat das absolut nichts zu tun. Ändert es etwa etwas am Holocaust oder kann daraus eine Rechtfertigung für Israel abgeleitet werden, immer neue israelische Wehrdörfer zu bauen, also weiter Landraub und Vertreibung zu praktizieren?!
Natürlich – und hier können wir Götz Aly in seiner Kritik grundsätzlich zustimmen – ist auch die Politik der Hamas kritikwürdig. Ja, es ist menschenverachtend und als Kampftaktik auch völlig ungeeignet, angesichts der haushohen militärischen Überlegenheit Israels und seiner rabiaten Entschlossenheit, an der Grenze massenhaft PalästinenserInnen in den voraussehbaren Tod zu schicken. Doch Aly stellt es so dar, als ob Israel ohne Schuld sei, weil Israel die Hamas ja gewarnt habe. Aber aktuelles und historisches Unrecht und Verbrechen verschwinden deshalb genauso wenig, wie die Berechtigung des Widerstands der PalästinenserInnen. Jedes reaktionäre Regime warnt seine Gegner, sich ihm entgegenzustellen. Ist deshalb sein Terror berechtigt?!
Antisemitismus?
Natürlich darf auch in Alys Argumentation nicht die Unterstellung fehlen, dass Kritik an Israel Ausdruck eines „subtilen“ Antisemitismus wäre. Natürlich gibt es den. Ein erheblicher Teil von antisemitischen Übergriffen in Deutschland resultiert daraus, dass arabische Jugendliche Israel und seine Politik mit „den Juden“ identifizieren. Kein Wunder, da sich ja Israel selbst immer als „Heimat der Juden“ inszeniert. Die Wut der PalästinenserInnen „auf die Juden“ ist also verständlich – trotzdem aber absolut nicht tolerierbar. Doch es eine Unterstellung, ja eine Verleumdung, wenn Aly verallgemeinert und hinter anderen Meinungen und der Kritik an Israel immer Antisemitismus vermutet. So schreibt er: „Hierzulande steckt in vielen Israel-Kritiken der uneingestandene Drang, die wirklich schwer erträgliche Schuld der Deutschen am Holocaust mit heutigen Untaten von Israelis zu verrechnen. Ich nenne das Schuld-Antisemitismus.“
Auch diese Haltung gibt es natürlich. Doch Aly versucht hier, suggestiv eine Art permanenten Antisemitismus zu unterstellen. Dazu kommt, dass er selbst eine „Entschuldungs“-Logik konstruiert, indem er Israel wesentlich mit dem Holocaust in Verbindung bringt, was erstens historisch einseitig ist und zweitens in demagogischer Weise dazu dient, die Untaten Israels zu relativieren. Genau das, was er andern vorwirft, macht er selbst.
Davon abgesehen, dass Aly hier auch wieder einmal die Kollektivschuldthese bemüht, wenn er von der Schuld „der Deutschen“ spricht. Auch wenn viele Deutsche direkt oder indirekt an der Judenunterdrückung beteiligt waren: es waren keineswegs „die Deutschen“ die Täter, sondern direkt und in erster Linie die Nazis und ihr Gewaltapparat. Von „den Deutschen“ als den Schuldigen zu sprechen, relativiert das nicht nur, es blendet v.a. auch aus, welche Klasse ein Interesse am Faschismus hatte und ihn unterstützt hat: die deutsche Bourgeoisie. Und: bereits lange vor 1933 wurden Nationalismus, Chauvinismus und Antisemitismus von den herrschenden Schichten „gepflegt“ und gefördert.
Ausblick
Es bleibt zu hoffen, dass die PalästinenserInnen sich künftig eine andere Führung als die Hamas oder die PLO schaffen und im Widerstand erfolgreich sind. Dazu müssen sie nicht die Juden, sondern den Staat Israel als Feind ansehen, d.h. statt Antisemitismus ist Antizionismus gefragt. Dazu müssen die PalästinenserInnen aber auch ihre Illusionen in eine Zwei-Staaten-Lösung überwinden und ein sozialistisches, multiethnisches Palästina anstreben. Erst dann können AraberInnen und Juden friedlich zusammen leben, erst dann ist auch die tiefste Wurzel ihres gemeinsamen Unglücks überwunden: der Kapitalismus. Kurzfristig bleibt hier für uns zu hoffen, dass Israel-Freunde wie Götz Aly argumentativ noch mehr Widerstand zu spüren bekommen als bisher.