Der Begriff “Diktatur” weckt negative Assoziationen. Wir sind dabei an undemokratische, unterdrückerische Verhältnisse erinnert, an den Stalinismus oder den Faschismus. Doch die Diktatur des Proletariats – auch Arbeiterstaat, Räterepublik oder Übergangsgesellschaft genannt – ist das Gegenteil solcher Diktaturen.
Nach dem Sturz des Kapitalismus durch eine proletarische Revolution entsteht zunächst noch keine kommunistische, sondern eine Gesellschaft des Übergangs, die sowohl Merkmale der alten, als auch Elemente einer qualitativ neuen Gesellschaftsordnung, des Kommunismus, in sich trägt. Der Kommunismus ist eine Gesellschaft, die keine Klassen mehr kennt, keine Ausbeutung und keinen Staat. Marx schrieb dazu: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“
Privateigentum und Marktkonkurrenz werden durch genossenschaftliches Gemeineigentum und demokratische, auf Räten beruhende, Wirtschaftsplanung abgelöst. Die Herrschaft einer Minderheit – der Bourgeoisie – mittels eines bürokratischen und repressiven Staates wird durch die direkte Demokratie der Mehrheit – das Rätesystem – ersetzt. Um die gesamte Gesellschaft mit ihren Strukturen, Traditionen usw. umwälzen und eine höhere Qualität der sozialen Beziehungen herstellen zu können, ist eine längere Phase von Entwicklung notwendig.
Zuerst muss das Proletariat aber die politische Macht erringen. Das war beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nicht so. Das Bürgertum hatte bereits vor der Revolution entscheidende wirtschaftliche Machtpositionen inne; Betriebe und Manufakturen, Handel und Geldsystem waren von ihm dominiert. Diese Möglichkeit hat das Proletariat im Kapitalismus nicht. Es kann und sollte zwar in bestimmten Bereichen versuchen, alternative Produktions-, Verteilungs- und Lebensverhältnisse, z.B. in Form von Genossenschaften, zu etablieren, die zumindest teilweise mit den „normalen“ bürgerlichen Verhältnissen brechen; doch es ist dem Proletariat nicht möglich, die gesamte Produktionsweise zu ändern. Weder verfügt kann die Arbeiterklasse über das Eigentum an den großen Produktionsmitteln verfügen, noch kontrolliert es die ökonomischen Prozesse. Während die Bourgeoisie zur bereits vorhandenen ökonomischen Macht in der Revolution “nur” noch die politische erringen musste, ist das Proletariat gezwungen, erst die politische Macht zu übernehmen, um die Gesellschaft und deren ökonomische Basis danach transformieren zu können.
In der Revolution organisieren sich die Massen in Räten. Diese Organe direkter Demokratie sind die Basis und der Kern nicht nur der Revolution, sondern auch des Arbeiterstaates. Die Räte sind Gremien demokratischer Debatte und Beschlussfassung, sie stützen sich sozial auf die Arbeiterklasse und deren Strukturen (Betriebskomitees, Kontrollorgane, Arbeitermilizen usw.).
Der bürgerliche Staat mit seinen bürokratischen, abgehobenen und kaum kontrollierbaren Strukturen (Bürokratie, Justiz, Armee etc.) muss zerschlagen und durch Rätestrukturen ersetzt werden. Das ist aus zwei Gründen nötig: 1. können die Bourgeoisie nicht gestürzt und der Kapitalismus nicht überwunden werden, wenn deren Machtsystem – der Staat – nicht beseitigt wird; 2. ist der bürgerliche Staat mit seinen repressiven, bürokratischen Strukturen nicht brauchbar als Mittel zum Aufbau des Kommunismus. Insofern der proletarische Staat jedoch kein bürokratisches Monster mehr ist und eine andere Funktion als der bürgerliche hat – das Weitertreiben der Weltrevolution und der Aufbau einer klassen- und staatslosen Gesellschaft – macht er sich selbst überflüssig; er „stirbt ab“, wie es Friedrich Engels einmal formulierte.
Doch dieser Prozess vollzieht sich nicht automatisch, wie der Terminus „Absterben“ suggeriert. Er muss bewußt durchgesetzt und organisiert werden. Geschieht dies nicht – wie die Geschichte des Stalinismus zeigt -, kann keine kommunistische Gesellschaftsqualität erreicht werden, der Staat wuchert wie ein Krebsgeschwür und zerstört jede Arbeiterdemokratie, die entscheidende Grundlage der Entwicklung jeder proletarischen Gesellschaft. Doch wie auch in anderen Bereichen „koexistieren“ in der Übergangsgesellschaft eine Zeit lang die Räte mit den „alten“ Staatsstrukturen und -funktionen. So lange etwa eine militärische Verteidigung des Arbeiterstaates gegen imperialistische Interventionen notwendig ist, so lange wird es auch Militär, Geheimdienst usw. geben müssen, die per se nicht auf rätedemokratischen Prinzipien beruhen können. Erst der Sieg der Arbeiterklasse im Weltmaßstab kann dazu führen, dass der alte „Staatsplunder“ vollständig überflüssig wird.
Dieses Neben- und Gegeneinander von alten bürgerlichen und neuen kommunistischen Elementen in der Übergangsgesellschaft muss und kann im Zuge der Entwicklung anderer und effektiverer Funktionsweisen zugunsten letzterer aufgelöst werden. Insofern ist die Diktatur des Proletariats auch ein permanenter Kampf zwischen „Alt“ und „Neu“.
Die Diktatur des Proletariats ist die Herrschaft der Mehrheit der Gesellschaft – des Proletariats und der mit ihm verbundenen „unteren“ Schichten der Gesellschaft – über die Minderheit der Ausbeuter und zur Abwehr der Bedrohung durch den Weltkapitalismus. Als Herrschaft der großen Mehrheit, welche die Gesellschaft direkt und nicht über einen Staat verwaltet, ist die Diktatur des Proletariats weit demokratischer und effektiver als jede bürgerliche Demokratie, weil diese immer nur die (verschleierte) Herrschaft einer Minderheit, des Kapitals, ist.
Der Stalinismus hat die Vorstellungen von der Diktatur des Proletariats wie sie Marx´ verstand, ins Gegenteil verkehrt. Anstatt einer lebendigen Rätedemokratie wurde ein monströser bürokratischer Apparat aufgebaut, der nicht etwa absterben, sondern sich immer weiter aufblähen sollte. Dieser Apparat diente nicht dem Aufbau des Kommunismus und der Ausweitung der Revolution, sondern dem Schutz der Interessen der herrschenden Bürokratie – einerseits vor dem Imperialismus, den man nicht überwinden, sondern mit dem man koexistieren wollte, andererseits vor dem eigenen Proletariat.
Die erste Form einer Diktatur des Proletariats war die Kommune in Paris 1871, die aber nur wenige Wochen existierte und blutig niedergeschlagen wurde. Marx schrieb dazu: „Die Kommune war eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft.“ Der nächste erfolgreiche Versuch des Proletariats, den Kapitalismus zu stürzen, erfolgte 1917 in Russland. Dee revolutionären Partei, den Bolschewiki, um Lenin und Trotzki gelang es damals nicht nur, die Massen an die Macht zu führen, sie waren auch in der Lage, die innere und äußere Konterrevolution im Bürgerkrieg zu besiegen.
Doch schon bald degenerierte das noch junge und schwache Sowjetrussland. Dafür gab es objektive Gründe: die Schwäche des Proletariats und seine Verluste im Bürgerkrieg, die Zerrüttung der Wirtschaft, die Rückständigkeit und die Isolation aufgrund des Scheiterns anderer Revolutionen, v.a. jener in Deutschland. Aber es gab auch subjektive Fehler der Bolschewiki: das Fehlen einer Konzeption zur Gesellschaftsentwicklung, die Etablierung eines bürokratischen Staates neben, über und gegen die Räte (Sowjets). Letztlich waren es Kräfte aus dem Partei- und Staatsapparat, deren Führer Stalin wurde, die eine dem Staatskapitalismus ähnliche, bürokratische Staatswirtschaft etablierten. Die politische Konterrevolution unter Stalin höhlte die Reste des Sowjetsystems aus und errichtete ein bürokratisches Terrorregime gegen die Massen und jede Art politischer Opposition. Die Bürokratie mutierte zu einer herrschenden Klasse, die eine spezifische Produktionsweise verteidigte. Dieses Regime, das die Entfaltung der lebendigen Kräfte des Proletariats und kommunistischer Strukturen fesselte, erwies sich letztlich als dem westlichen „Privat“-Kapitalismus unterlegen und brach 1989/90 zusammen.
Neben vielen anderen Linken und MarxistInnen erkannte und krititisierte auch der russische Revolutionär Leo Trotzki den Degenerationsprozeß unter Stalin. In seiner Analyse der Sowjetunion betonte er, dass nur eine Revolution der Arbeiterklasse zum Sturz der Bürokratie führen und die blockierte Entwicklung zum Kommunismus überwinden könne. Was Trotzki jedoch nicht sah, war der Umstand, dass die Politik der Bolschewiki, die i.w. der Konzeption der II. Internationale entsprach, selbst die Grundlagen der späteren Degeneration legte bzw. nicht verstand, wie diese hätte bekämpft werden können. Er irrte auch in der Annahme, dass Staatseigentum und Planwirtschaft hinreichende Bedingungen einer nichtkapitalistischen Wirtschaft wären und sah die Sowjetunion daher nicht als besonderen „Staatskapitalismus“ an, sondern als einen degenerierten Arbeiterstaat.
Das von der bürgerlichen Propaganda oft behauptete “Scheitern des Kommunismus“ und die Ineinssetzung von Kommunismus und Stalinismus sind Lügen, um den Kommunismus zu diskreditieren. Die Linke und die Arbeiterbewegung müssen lernen, die richtigen Lehren aus der Degeneration der Russischen Revolution zu ziehen.