ABC des Marxismus XIII: Was ist Demokratie?

Das Wort „Demokratie“ kommt aus dem Griechischen: „demos“ ist das „Staatsvolk“, „kratos“ bedeutet Gewalt, Macht oder Herrschaft. Heute bezeichnet man mit „Demokratie“ meist eine bestimmte Staats- bzw. Gesellschaftsstruktur, die u.a. folgende Merkmale hat: das Parlament wird durch Wahlen bestimmt, es gibt eine legale Opposition, es existiert Gewaltenteilung zwischen Legislative (Parlament), Exekutive (Staatsapparat) und Judikative (Justiz), es werden Meinungs-, Presse- und Versammlungs- und Organisationsfreiheit gewährt.

Die Demokratie wird oft zu einem „universellen Wert“ stilisiert und als Maß aller Dinge dargestellt. Dabei werden aber wesentliche Merkmale der bürgerlichen Demokratie unterschlagen. Zunächst einmal ist sie (wie auch die Diktatur oder eine Monarchie) eine bestimmte Staatsform, also – wie schon das griechische „kratos“ besagt – eine Form der Herrschaft. Jedes Herrschaftssystem setzt aber soziale Ungleichheit, setzt Herrschende und Beherrschte voraus. Diese Ungleichheit  manifestiert sich darin, dass die Gesellschaft in verschiedene Klassen geteilt ist. Im Kapitalismus sind das i.W. die beherrschte Arbeiterklasse und die herrschende Bourgeoisie. Ein zentrales Mittel ihrer Herrschaft ist der Staat, auch der demokratische.

Die klassische Form der Demokratie war die des Stadtstaates Athen. Wichtige Fragen und die Besetzung zentraler Posten wurden öffentlich diskutiert und mehrheitlich beschlossen bzw. gewählt. Doch wählen und gewählt werden durften nur „freie“ Bürger – Sklaven, Fremde und Frauen waren davon ausgeschlossen.

Auch die bürgerliche Demokratie der Gegenwart – der Parlamentarismus – als die „normale“ Herrschaftsform der Bourgeoisie weist viele repressive und undemokratische Elemente auf. Für alle Menschen gilt – formell, in der Praxis nicht immer – das gleiche Recht, doch es ist ein gleiches Recht für ungleiche Menschen. Wer reich ist, hat mehr Einfluß und kann die demokratischen Freiheiten besser nutzen als ärmere Menschen. Wer eine Zeitung oder einen TV-Sender besitzt, hat mehr politischen Einfluß als der Leser oder Zuschauer.

Wie schon im alten Griechenland sind auch heute erhebliche Teile der Gesellschaft von der Demokratie ausgeschlossen, z.B. MigrantInnen oder Jugendliche unter 18. Da die Politik viele Bereiche der Gesellschaft nicht oder kaum tangiert und die direkte Einwirkung der Massen auf soziale Prozesse stark eingeschränkt wird, ist deren Interesse an Politik und Wahlen auch oft relativ gering.

Eine sehr wesentliche Einschränkung der bürgerlichen Demokratie besteht darin, dass die zentralen Bereiche der Gesellschaft – der Staatsapparat und der Besitz von Produktionsmitteln – weder demokratisch kontrolliert noch gewählt oder gar abgewählt werden können. Kein(e) WählerIn kann einen Konzernchef, einen Richter, einen General oder das riesige Heer von Beamten wählen, abwählen oder auch nur effektiv kontrollieren. Demokratisch entscheiden können die Massen nur darüber, wer sie „vertritt“, wer sie regiert und wer das System von Ausbeutung und Unterdrückung „organisiert“. Die Massen können über die Fassade der Demokratie mitbestimmen, nicht über deren Fundament.

Die (bürgerliche) Demokratie ist letztlich ein Ergebnis revolutionärer Kämpfe gegen das alte Feudalsystem, gegen die Vorherrschaft und die Willkür von König, Adel und Klerus. Doch aus Angst vor der erstarkenden Arbeiterklasse hat das Bürgertum immer Kompromisse mit den alten Eliten geschlossen. So wurden viele bürgerlich-demokratische Maßnahmen (z.B. Trennung von Kirche und Staat, Abschaffung der Monarchie, Rechte von Minderheiten) oft nicht oder nur zum Teil umgesetzt. Die Demokratie weist zudem überall „undemokratische“ Elemente auf, welche den herrschenden Ausbeutern politische und soziale Privilegien zuschanzen und v.a. in Situationen zugespitzten Klassenkampfes die Herrschaft des Kapitals sichern sollen. Dazu dienen u.a. Sonderbestimmungen, welche das Parlament und die Demokratie bei Bedarf aushebeln können: Notstandsgesetze, das Präsidentenamt, Geheimdienste, Bürgerkriegseinheiten usw.

Mit der Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse entstand eine verallgemeinerte Warengesellschaft. Um die Beziehungen der miteinander konkurrierenden Waren(ver)käufer zu regeln, wurde ein allgemeines Rechtssystem, der „Rechtsstaat“, notwendig. Damit verbunden war die Entstehung „der Politik“ als eines relativ selbstständigen, abgehobenen Bereichs, der scheinbar neutral über der Gesellschaft steht, tatsächlich jedoch einerseits zwischen verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse und andererseits zwischen allen Klassen „ausgleichend“ agiert. In letzter Instanz dient der demokratische „Rechtsstaat“ aber immer der herschenden Klasse. Das ist schon daran ablesbar, dass das Rechtssystem und jede Verfassung das Recht auf  Privateigentum (an Produktionsmitteln) schützt und damit die Ausbeutung sanktioniert.

Viele Jahrzehnte lang kämpften progressive Menschen und die Arbeiterbewegung für (mehr)  demokratische Rechte, u.a. für das Wahlrecht für Frauen und gegen Einschränkungen der Demokratie, so etwa gegen ungerechte Wahlsysteme, welche die Arbeiterklasse benachteiligen. Auch heute noch existieren überall solche Einschränkungen der Demokratie, etwa die 5%-Klausel, die immer die herrschenden Parteien begünstigt, oder der Modus, dass nur aller paar Jahre gewählt wird, und die praktische Unmöglichkeit, dazwischen gewählte VertreterInnen auch abwählen zu können.

Trotz aller Beschränkungen und Mängel der bürgerlichen Demokratie ist dieses Regierungssystem der Diktatur (Präsidial-Diktatur, Militärdiktatur, Faschismus) vorzuziehen, weil es mehr Freiheiten bietet. Für die Arbeiterklasse und den Klassenkampf ist es von Vorteil, wenn sie und ihre Organisationen einigermaßen frei agieren können, wenn Streiks, Proteste und Organisationen legal sind. Deshalb müssen die Linke und die Arbeiterbewegung für die Verteidigung und Ausweitung der Demokratie eintreten. Doch diese Unterstützung muss immer eine kritische sein und darf nicht ausblenden, dass auch die Demokratie letztlich eine Herrschaftsform der Bourgeoisie ist.

Unter „Demokratie“ wird meist die demokratische Staatsform verstanden. Jedoch gab es schon vor der Entstehung des Staates Formen von „Demokratie“ im Sinne von Mehrheits- oder Gemeinschaftsentscheidungen. In der Frühzeit der menschlichen Zivilisation gab es noch kein Mehrprodukt, die Arbeitsteilung der Gemeinschaft war nur gering ausgeprägt, es gab weder Klassen noch war ein Staat nötig, der soziale Privilegien hätte schützen können. Insofern gab es auch keinen demokratischen Staat. Es gab jedoch Demokratie in dem Sinn, dass innerhalb der Gemeinschaft „demokratisch“ beraten und entschieden wurde. Ja, wir können sogar sagen, dass menschliche Gemeinschaften ohne solche „basis-demokratische Prinzipien“ und Selbstverwaltung gar nicht funktionieren könnten.

Erst mit der Klassen-Differenzierung der Gesellschaft in Unterdrückende und Unterdrückte entstand ein Staat, der die Interessen der Herrschenden absicherte und durchsetzte. Damit verbunden war, dass Entscheidungen, die früher „demokratisch“ getroffen wurden, nunmehr zentral, von „oben“, vom Staat, einer Bürokratie, dem Klerus bzw. dem Allein-Herrscher durchgesetzt wurden. Das einfache System „direkter Demokratie“ wurde von einem immer komplexeren abgehobenen Staat verdrängt. Doch Formen der alten, direkten Demokratie existierten in etlichen Lebensbereichen weiter. Im Mittelalter gab es z.B. die Allmende (in Russland das „Mir“), den Gemeinschaftsbesitz an Land, dessen Nutzung und Verteilung demokratisch von der Dorfgemeinschaft geregelt wurde. Auch heute gibt es diese Form von Demokratie und Selbstverwaltung z.B. in Genossenschaften, in Vereinen u.a. sozialen Zusammenhängen.

Die Unterdrückten und besonders die Arbeiterbewegung haben immer auch gegen den Staat und für Selbstbestimmung gekämpft. So wurde in Nordspanien 1855 von den AnarchistInnen der erste Generalstreik – erfolgreich – darum geführt, dass ihre Gewerkschaften legal arbeiten durften.

1871 waren es schließlich die aufständischen Massen in Paris, welche die Macht übernahmen und die „Kommune“ errichteten. Diese Pariser Kommune bezeichnete Marx als die „endlich gefundene Form“, mit der die Arbeiterklasse den alten bürgerlichen Staat ersetzen, ihre Macht ausüben und die Gesellschaft Richtung Kommunismus entwickeln kann. 1905 entstanden dann mit der Revolution in Russland die ersten wirklichen Arbeiterräte (Sowjets). 1917, in der nächsten russischen Revolution, wurden die Sowjets dann zu den entscheidenden Zentren der Bewegung, zu Machtorganen der ArbeiterInnen, der Soldaten und der armen Bauern. Insofern die Sowjets neben und gegen die bürgerliche „Provisorische Regierung“ bestanden, waren sie Elemente einer Doppelmacht. Mit dem Oktober-Umsturz übernahmen sie die ganze Macht. Aber nach und nach wurden sie schließlich selbst von einem neuen, bürokratischen Staatsapparat verdrängt und entmachtet.

Doch in allen revolutionären Kämpfen der Arbeiterklasse bildeten sich fortan immer wieder Räte oder räteähnliche Strukturen. Jeder Kampf um die Kontrolle sozialer Prozesse durch das Proletariat (Arbeiterkontrolle über die Geschäftsführung und die Produktion, über Sicherheitsstandards, die Streikführung usw.) ist mit der Schaffung solcher Rätestrukturen – mit „Arbeiterdemokratie“ – verbunden und ohne sie letztlich unmöglich.

Was war das Besondere der Pariser Kommune und der Räte? Vor allem waren sie Instrumente der Arbeiterklasse bzw. der Massen. Sie waren Diskussionsforen, Organisationszentren und Machtorgane. Sie wurden demokratisch gewählt, ihre Funktionsträger wurden direkt kontrolliert, waren jederzeit abwählbar und hatten keine Privilegien. Damit waren die Räte geeignet, den abgehobenen, bürokratischen Staatsapparat zu ersetzen und zu sichern, dass die Massen über Strukturen verfügen, mit denen sie direkt ihre Interessen in „Staatspolitik“ umsetzen können. Die Räte ermöglichen eine Demokratie der Mehrheit anstelle der Demokratie einer Minderheit. Nur  Räte ermöglichen es, die „natürliche“, direkte, gemeinschaftliche Demokratie der Basis zu verallgemeinern und aus dem Prokrustesbett des Staates zu befreien. Die Räte sind also schon kein Staat mehr im herkömmlichen Sinn. Räte sind aber nicht per se revolutionär-sozialistisch, diese Qualität erreichen sie nur, wenn eine revolutionäre Partei in ihnen die Mehrheit hat.

Im Kommunismus, einer Gesellschaft ohne Privateigentum, ohne Klassen, ohne Ausbeutung und Unterdrückung ist ein Staat, auch ein demokratischer, nicht mehr notwendig, er „stirbt ab“, wie es Friedrich Engels formulierte. Insofern ist der Staat – in welcher Form auch immer – eine historische Erscheinung und keineswegs ein absoluter Wert. Doch schon in der Übergangsgesellschaft – auch  „Diktatur des Proletariats“ oder „Arbeiterstaat“ genannt – muss die Arbeiterklasse bewußt in Angriff nehmen, die Reste von „Staat“ zurückzudrängen und durch Selbstverwaltungsstrukturen zu ersetzen.

Was aber auch die Befürworter der Rätedemokratie oft nicht verstehen, ist, dass die rätedemokratischen „Staats“-Strukturen nicht nur einem anderen Zweck dienen, ihre Form ändern und direkt demokratisch von den Massen bestimmt werden müssen. Absterben des Staates bedeutet v.a., dass die Strukturen selbst (so weit möglich) verschwinden. Gerade an dieser Aufgabe sind u.a. die Bolschewiki gescheitert. Dass die „Staatsbeamten“ wählbar und abwählbar sind, dass sie keine Privilegien mehr haben, dass die Massen sich die Verwaltungsaufgaben „teilen“, setzt ja immer noch voraus, dass sie Teil einer „separaten“ Staatsstruktur sind. Diese möglichst zu eliminieren, heißt auch, „unproduktive“ Strukturen zu verkleinern und die Produktivität der Gesellschaft zu heben.

Das Proletariat muss also bezüglich jedes Staates aktive „Sterbehilfe“ leisten. Das Absterben des Staates ist ein Gradmesser für die Qualität der nachkapitalistischen Gesellschaft und eine seiner wichtigsten Triebkräfte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert