Was sind gesellschaftliche Produktivstrukturen?

Ein Beitrag zur Konzeption einer nachkapitalistischen Wirtschaft

Hanns Graaf

Der Kapitalismus hat zu einer radikalen Umwälzung der Produktionsverhältnisse und einer unerhörten Ausweitung der Produktivkräfte geführt. Diese Dynamik war u.a. durch folgende Aspekte geprägt: die Generalisierung von Lohnarbeit und Warenproduktion, die Schaffung von nationalen Märkten und des Weltmarkts und die Durchsetzung der industriellen Massenproduktion. Alle diese Entwicklungen bedingen einander, denn Massenproduktion von Waren benötigt die große Industrie, große Kapitalmengen und einen großen Markt.

Die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise war aber auch mit einer anderen wichtigen Veränderung verbunden: der Umwälzung der gesellschaftlichen Produktivstrukturen (GPS). Wir  verstehen darunter jene Strukturen innerhalb der Produktionsverhältnisse, welche die Anwendung der technischen und lebendigen Produktivkräfte und die Höhe der Arbeitsproduktivität direkt beeinflussen.

Innerhalb der Gesamtheit der Produktionsverhältnisse gibt es solche, die kaum oder nur indirekten Einfluss darauf haben, wie oder ob bestimmte Technologien zur Anwendung kommen, etwa das Lohn- oder das Steuersystem. Die GPS nehmen dagegen eine besondere Stellung, sie bilden sozusagen den „Schnittpunkt“ von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften. Insofern also die GPS die Entwicklung und Durchsetzung neuer Technik und neuer produktiver Methoden beschleunigen können, wirken sie selbst als Produktivkraft.

Wir wollen an zwei Beispielen verdeutlichen, was GPS sind.

Die nach der Einführung der Dampfmaschine einsetzende Entwicklung des Eisenbahnsystems war gesellschaftlich nur möglich, weil es eine nationale und bald auch internationale Organisationsstruktur in Form von standardisierten Spurweiten, Signalen, Verkehrsregeln, Normen für Lokomotiven und Waggons usw. gab. In Deutschland wurde sogar die einheitliche Uhrzeit erst mit der Einführung der Eisenbahn festgelegt. Diese Maßnahmen gingen über den Rahmen und die Möglichkeiten eines oder weniger Einzelkapitale oder Regionen hinaus. Deshalb nahm der Staat (heute oft „überstaatliche“, internationale Strukturen wie z.B. die EU) diese Aufgaben im Interesse des Gesamtkapitals und gewissermaßen der Gesellschaft insgesamt wahr.

Nur unter diesen Voraussetzungen war es denkbar, per Eisenbahn eine stark vernetzte Industrieproduktion und die Verteilung von Menschen, Rohstoffen und Fertigprodukten innerhalb des nationalen Marktes und darüber hinaus durchzuführen. Nicht nur die Technik selbst, sondern auch bestimmte staatliche Maßnahmen haben es ermöglicht, dass die Eisenbahn nicht nur hier und da eingeführt wurde, sondern überall – und zwar in einer weitgehend standardisierten Art und Weise. Es wurden also spezifische Verhältnisse in Gestalt der GPS durchgesetzt, die eine gute Entwicklung, allgemeine Anwendung und hohe Effektivität der (technischen) Produktivkräfte ermöglichten und förderten.

Die kapitalistische Produktionsweise erfordert notwendigerweise auch die Entwicklung und Veränderung der gesamten gesellschaftlichen Organisation, die wieder auf die Produktion und die Entwicklung der Produktivkräfte zurückwirkt. Die Anhäufung von Kapital in großem Umfang, die Beherrschung großer Märkte und damit verbunden die Verdrängung der lokalen handwerklichen Kleinproduktion ist ohne ein leistungsfähiges Transportsystem unmöglich. Dafür kam neben der Schifffahrt damals nur die Eisenbahn infrage. Nur sie war in der Lage, schnell und massenhaft Güter und Menschen zu befördern. Insofern können wir – genau wie bei der Dampfmaschine – sagen, dass auch ohne Eisenbahn der Sieg des industriellen Kapitalismus unmöglich gewesen wäre.

Ein zweites Beispiel. Auch die industrielle Massenfertigung hätte sich nicht oder viel langsamer etablieren können, wenn es nicht bestimmte GPS dafür gegeben hätte. Die Standardisierung von Produkten, Produktionsabläufen und Anwendungsvorschriften ist unabdingbar für die Massenproduktion. Was nützt die massenhafte Herstellung von Schrauben und Muttern, wenn nicht der gesamte nationale Markt bzw. sogar der Weltmarkt einheitliche Normen für Schrauben hätte? Mit dem Kapitalismus hielt deshalb auch die Standardisierung allgemein Einzug, die davor, in der kleinen Handwerks- oder Manufakturproduktion keine oder nur eine geringe Rolle gespielt hat. Die Festlegung von Standards – was auch hier letztlich nur durch den Staat bzw. internationale „staatliche“ Gremien möglich ist – war eine unverzichtbare Bedingung kapitalistischer Entwicklung allgemein und der vom Kapitalismus bewirkten Umstrukturierung auch der Produkte selbst. Wir können das „Produktrevolution“ nennen. Letztere spielt in der marxistischen Theorie leider fast keine Rolle und wird in ihrer Bedeutung – nicht zuletzt auch für die Ökonomie einer nach-kapitalistischen Gesellschaft unterschätzt. Doch dazu an anderer Stelle mehr.

GPS im Kapitalismus

Karl Marx beschreibt die Produktionsverhältnisse folgendermaßen: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft“. (Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13,  8)

Obwohl Marx u.a. MarxistInnen den Begriff „Gesellschaftliche Produktivstrukturen“ (oder einen anderen spezifischen Terminus) nicht benutzen, heißt das natürlich nicht, dass sie die Spezifik des Zusammenhangs von Produktivkräften und  Produktionsverhältnissen nicht kennen würden. Indem Marx im hier angeführten Zitat davon spricht, dass die „Produktionsverhältnisse (…) einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen“, wird dieser Zusammenhang schon deutlich – allerdings eher in einem allgmeinen Sinn. Er inkludiert sowohl verallgemeinerte (gesellschaftliche) wie sektorale („private“) Verhältnisse, etwa in einer Fabrik. Marx betonte immer wieder, dass die kapitalistische Produktionsweise eine historisch höhere Stufe der „Vergesellschaftung“ der Produktion im Sinne höherer Arbeitsteilung, engerer Vernetzung der Produktion und riesiger Mengen aufgehäufter, „toter“ Arbeit in Form konstanten Kapitals verkörpert. Diese „Vergesellschaftung“ war allerdings keine wirkliche Vergesellschaftung, weil nicht die Gesellschaft als Ganzes, d.h. die ProduzentInnen und KonsumentInnen, Produktion und Verteilung bestimmen, sondern das Kapital in Kooperation mit dem Staat. Wir könnten das „unechte Vergesellschaftung“ nennen.

So wichtig die Entwicklung und die Ausweitung der Produktivkräfte allgemein – darunter v.a. der „Hauptproduktivkraft“ Mensch – für die Durchsetzung des Kapitalismus ist, so bedeutend ist auch die Umwälzung der GPS. Diese haben einen direkten Einfluß auf die Wirkung und Entwicklung der Produktivkräfte, der technischen wie der menschlichen, in der Gesellschaft. Es liegt auf der Hand, dass eine Gesellschaft, welche die GPS besonders gut an die Anforderungen und potentiellen Möglichkeiten der Produktivkräfte anpasst, schon allein dadurch eine höhere Dynamik und höhere Produktivität aufweist.

Zur Frage der Entwicklungsperspektive einer Gesellschaft postulierte Marx: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“ (MEW 13, 9)

Das heißt nicht – wie es oft verkürzt dargestellt wird -, dass der Kapitalismus an einen Punkt kommen würde, wo er nicht mehr in der Lage wäre, die Produktivkräfte weiter zu entwickeln, also Stillstand eintreten würde, der dem Zusammenbruch des Systems gleichkäme. Solche Auffassungen finden wir auch im Denken mancher MarxistInnen, etwa bei Luxemburg oder Trotzki. Marx sagt aber vielmehr, dass der Kapitalismus nur jene Produktivkräfte entwickeln kann, die innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse entwickelbar sind. M.a.W.: es gibt im Kapitalismus eine Schranke für die Entwicklung bestimmter Produktivkräfte, für deren Entwicklung diese Gesellschaft eben nicht weit genug ist. Das ist jedoch etwas anderes als die Auffassung, dass er an einen Punkt kommen würde, wo keine Produktivkraftentwicklung mehr stattfindet.

Was heißt das nun hinsichtlich der GPS?

Die Entwicklung des Weltmarkts vollzieht sich – insbesondere seit dem imperialistischen Stadium des Kapitalismus – sehr ungleichmäßig; die Zentren werden immer dominanter, während die Peripherie tendenziell in der Produktivkraftentwicklung zurückbleibt und immer abhängiger von den Zentren wird. Die Entwicklung einiger weniger Schwellenländer und v.a. Chinas (das allerdings ganz besondere Entwickungsbedingungen aufweist) sind durchaus Ausnahmen von der Regel. Hinsichtlich der GPS heißt das z.B., dass die internationale Infrastruktur in einigen Bereichen immer größere „Löcher“ aufweist. Während Handys und Internet die gesamte soziale Struktur der großen Industrieländer durchdrungen haben, spielen sie in vielen unterentwickelten Ländern nur eine marginale Rolle. Gleiches gilt allgemein für die Infrastruktur. War der Aufstieg des Kapitalismus z.B. noch mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes weltweit verbunden, so stagniert dieser Prozess heute in vielen Ländern oder es gibt sogar eine Rückentwicklung.

Selbst in den imperialistischen Zentren gibt es hier große Defizite. Zwar haben Frankreich und Deutschland eigene Hochgeschwindigkeitszüge im Einsatz (TGV bzw. ICE), doch es gibt immer noch kein einheitliches europäisches Hochgeschwindigkeitssystem. Das hat jedoch keine technischen Ursachen. Bereits nach dem 1. Weltkrieg gab es in Deutschland Hochgeschwindigkeits-Verbindungen, z.B. zwischen Berlin und Hamburg. Die Ursachen für diese Stagnation, für dieses historische „Zurückbleiben“ liegen ausschließlich in den Strukturen des Kapitalismus begründet. Besonders die Konkurrenz zwischen den Bahnunternehmen Deutschland und Frankreichs ist dafür verantwortlich. Daneben spielt eine Rolle, dass die großen Autokonzerne maßgeblichen Einfluß auf die Verkehrspolitik ausüben und deren Struktur und die Lenkung von staatlichen Investitionen in den Verkehrssektor stark beeinflussen.

Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass sich das Niveau von Kooperation auf diesem Gebiet (das ja z.B. im Passagierflugzeugbau in Gestalt des multinationalen Konzerns Airbus schon vorhanden ist) erhöht. Doch auf jeden Fall ist klar, dass die kapitalistischen Verhältnisse in diesem Bereich für eine Entwicklungsverzögerung von 100 Jahren geführt haben. Hier zeigt sich, dass die Ausprägung neuer, qualitativ höherer GPS nicht stattgefunden hat. War diese Entwicklung in der Aufstiegsphase des Kapitalismus durch die staatliche Lenkung der Entwicklung des Eisenbahnsystems auf nationaler Ebene noch gegeben, so scheitert sie schon auf bi-nationalem und umso mehr auf internationalem Level. Ganz offensichtlich ist dafür die kapitalistische Gesellschaftsformation nicht „weit genug“ oder die „Ausweitung“ geht nur sehr zögerlich voran.

Ganz ähnlich ist das Bild auf dem oben erwähnten Gebiet der Standardisierung. Auch hier zeigt sich, dass deren Durchsetzung bei vielen, ja sogar bei den meisten Produkten über ein bestimmtes Level nicht hinausgeht. Bei fast allen Produkten – von der Kaffeemaschine bis zum PKW – erweist sich, dass „ähnliche“ Produkte bzw. deren einzelne Komponenten untereinander kaum kompatibel sind. Das ist schon insofern nachteilig (für die Gesellschaft, nicht für die Hersteller), als damit der Aufwand für Service, Reparaturen, Recycling usw. enorm steigt und eine „Wegwerfgesellschaft“ entsteht.

Es liegt im Wesen kapitalistischer Produktion, dass die Kapitaleigner versuchen, so viel Marktanteile wie möglich zu gewinnen. Zugleich wirkt die von der Konkurrenz und den (kapitalistisch „manipulierten“) Bedürfnissen getriebene Dynamik des Kapitalismus dahin, dass stets neue Produkte auf den Markt geworfen werden. Mittels dieser kann zeitweilig eine Vorrang- oder Monopolstellung erreicht werden, die einen entsprechenden Extraprofit ermöglicht. Damit verbunden ist die Tendenz, die neuen Produkteigenschaften in diesem Segment als Normen zu setzen, an die sich andere Produzenten anpassen müssen. Auch so werden Marktmacht und damit Profit gesichert. Dieser Trend kommt aber dem anderen Trend zur notwendigen Standardisierung ständig in die Quere. Hier zeigt sich, dass der Kapitalismus die – historisch gesehen – revolutionären Veränderungen von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen nur bis zu einem bestimmten Level treiben kann, für das er eben “weit genug“ ist. Zunehmend wirken die Verhältnisse, v.a. das Privateigentum, aber hemmend für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte. Dasselbe gilt für die GPS.

Schon Hegel wies darauf hin, dass eine Gesellschaft atomisierter und konkurrenzierender Privateigentümer (ob als Kapitaleigentümer oder Eigentümer ihrer Ware Arbeitskraft) eine Institution braucht, die „über“ diesen Privatinteressen steht, zwischen ihnen vermittelt und verbindliche Normen setzt. Diese Institution ist der Staat. Hinsichtlich der GPS hat sich gezeigt, dass dieser (bürgerliche) Staat in der Lage war, Verhältnisse durchzusetzen bzw. zu fördern, welche einen – trotz aller Begrenzungen – geeigneten Rahmen für die Entwicklung und effektive Anwendung v.a. der technischen Produktivkräfte abgaben.

Im Zuge der Entwicklung des Kapitalismus geriet der Staat aber immer mehr unter die Fuchtel des Kapitals. Der Einfluss des Adels wurde zurückgedrängt. Obzwar der Staat natürlich immer noch der „geschäftsführende Ausschuß“ des Gesamtkapitals ist, wird er immer offener zur Agentur des Finanzkapitals und einiger Global player in Form von Konzernen und imperialistischen Blöcken. Die Krise von 2008/09, als viele Staaten riesige Rettungspakete für die angeschlagenen Banken schnürten, sowie die Euro-Krise, in der sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten zu Handlangern der Börsenspekulanten und Groß-Gläubiger machten, verweisen darauf, dass es „dem Staat“ durchaus nicht (mehr) nur darum geht, vorteilhafte Bedingungen für das Gesamtkapital – ob im nationalen Rahmen oder im internationalen Rahmen etwa der EU – geht, sondern eher um partielle und kurzfristige Interessen bestimmter dominanter Kapitalfraktionen.

Seit der Kapitalismus in seine imperialistische Phase eigetreten ist, zeigt sich vermehrt, dass er immer weniger in der Lage ist, die GPS im globalen Maßstab so weiter zu entwickeln, dass sie mit der Dynamik der Produktivkraftentwicklung Schritt halten. In immer mehr Bereichen wird die Anwendung der Technik dadurch behindert, dass für ihren Einsatz oder für ihren Einsatz auf großer Stufenleiter, im globalen Maßstab, keine geeigneten Strukturen vorhanden sind. Einige Beispiele sollen das verdeutlichen.

Imperialismus

Die seit den 1980ern und 1990ern in vielen Ländern durchgeführten neoliberalen Maßnahmen führten dazu, dass vormals einheitliche, meist staatliche Strukturen (Post, Bahn, Energie- und Wasserversorgung, kommunaler Service usw.) privatisiert und zerschlagen, d.h. in konkurrierende Einzelunternehmen aufgespalten, wurden. Nun ist der Staat als Eigentümer nicht per se „besser“ als ein privater (was leider viele Linke glauben). Gerade in staatlichen Bereichen ist der Anteil von unproduktiver Bürokratie oft besonders hoch und die Innovations-Dynamik wegen fehlender Konkurrenz niedrig. Diese Mißstände wurden ja auch zu Argumenten für die Privatisierung. Ein Vorteil des staatlichen Sektors ist aber, dass in einem bestimmten Bereich eine einheitliche Struktur vorhanden ist. Mit der Privatisierung wurde diese nun oft abgeschafft. Abgesehen von den oft mit einer Privatisierung verbundenen sozialen Einschnitten für die Beschäftigten ist es ein wesentlicher Nachteil, dass die einheitliche Struktur zerstört wird.

Anstatt eines Dienstleisters, z.B. der Post, gibt es nun mehrere Brief- und Paketdienste. Dadurch wird die Logistik komplizierter, die Relation zwischen Lieferaufwand und Lieferumfang verschlechtert sich – die Arbeitsproduktivität sinkt. Oft kommen an einem Tag 3 oder 4 verschiedene Paketdienste zu einer Adresse. Dieser Nachteil macht sich für Kunden wie für die Unternehmen insgesamt nur deshalb nicht so negativ bemerkbar, weil andere Faktoren diese partielle Unproduktivität wieder ausgleichen: rationellere, stark automatisierte Paketverteilzentren, mehr Paketlieferungen durch online-Handel und Lohndrückerei. Das ändert aber nichts daran, dass das privatisierte und aufgespaltete Postsystem gesellschaftlich gesehen unrationeller organisiert ist.

Ein ähnliches Bild bietet der Bahnsektor. Hier geht in etlichen Ländern der Trend dahin, die Bahn aufzuspalten – Bahnhöfe, Schienensystem, rollendes Material gehen in die Hände separater Eigentümer über, verschiedene Gesellschaften betreiben jeweils in Konkurrenz einen Teil des Gesamtbahnsystems. Wenn es gerade eine Stärke des aufstrebenden Kapitalismus war, in solchen Bereichen wie Post oder Bahn die Konkurrenz weitgehend auszuschalten und ein einheitliches System zu etablieren, so verfährt der Spätkapitalismus oft gerade umgekehrt. Während die GPS früher der Entwicklung und Anwendung der Technik zum gesamtgesellschaftlichen Nutzen dienten, ist heute tw. das Gegenteil der Fall.

Ein anderes Beispiel von globaler Bedeutung ist die immer größere Verelendung ganzer Weltregionen, v.a. in Afrika, wo moderne Technik in vielen Bereichen nicht angewendet wird, weil das Geld dafür fehlt, die Infrastruktur nicht vorhanden ist oder Billigarbeit die Benutzung von Technik ersetzt.

Doch auch in Bereichen, wo der technische Fortschritt am größten ist, z.B. bei Computern oder Handys, zeigt sich, dass ein höherer Nutzeffekt dadurch verhindert wird, dass die GPS nicht oder nicht schnell genug entwickelt werden. So gibt es keinen technischen Grund oder gar einen Vorteil dadurch, dass es diverse Betriebssysteme (z.B. Microsoft und Apple) gibt, die immer wieder zu Problemen bei der Kompatibilität führen. Bei Handys dauerte es viele Jahre, bis ein internationaler Standard für die Aufladesysteme festgelegt wurde. Überhaupt ist das Niveau von Standardisierung – zu Lasten der Kunden – oftmals absolut unzureichend. War die Standardisierung im Frühkapitalismus ein mächtiges Werkzeug, um eine fortschrittliche Produktionsweise durchzusetzen, gleicht sie heute eher einem Fußlahmen, welcher der Entwicklung hinterher hinkt.

All das zeigt, dass der Kapitalismus sich mehr oder weniger nicht in der Lage zeigt, die Produktionsverhältnisse an die Entwicklung der Produktivkräfte anzugleichen, was u.a. eben daran deutlich wird, dass die GPS für die immer stürmischer sich entwickelnde Technik „zu eng“ sind und der Kapitalismus für die Weiterentwicklung der GPS unfähig ist.

Hier stellt sich nun natürlich die Frage, inwieweit das der Sozialismus besser kann bzw. wie dieses „Besser“ konkret aussehen könnte?

Die GPS im Kommunismus

Die ökonomischen und alle anderen sozialen Strukturen werden nicht erst im Kommunismus selbst eingeführt. Sie entstehen in Ansätzen schon mit der Überwindung des Kapitalismus und bei der Etablierung der Übergangsgesellschaft, z.T. sogar noch im Schoße des Kapitalismus z.B. in Form genossenschaftlicher Strukturen. An der Frage, ob und inwieweit sich die kommunistischen Elemente in der Übergangsgesellschaft bzw. international durchsetzen und ausweiten, entscheidet sich, ob die eigentliche kommunistische Phase überhaupt erreicht wird. Der Kommunismus baut auf diesen Grundlagen auf und erweitert sie – quantitativ wie qualitativ.

Die neue Qualität, die historische Überlegenheit einer Gesellschaftsformation, zeigt sich und entfaltet sich nicht erst dann, wenn sie voll entwickelt ist, sondern schon von Anfang an. Die „Anfangsdynamik“ ist es, die sie befähigt, sich gegen die zunächst übermächtige feindliche alte Welt zu behaupten und sie hinsichtlich der sozialen Dynamik zu überflügeln.

Die wesentlichen Hemmschuhe der Weiterentwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus, wenn dieser seine revolutionäre Anfangsphase überschritten hat, sind das Privateigentum an Produktionsmitteln, die Konkurrenz und die unterdrückte, marginale Rolle des Proletariats, das nur Objekt, jedoch nicht Subjekt sozialer Prozesse ist, sowie der enorme unproduktive Staatsapparat. Diese wesentlichen sozialen Bedingungen können und müssen nach der Revolution umgekrempelt, überwunden, „aufgehoben“ werden.

Wenn die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und ihre Überlegenheit gegenüber der feudalen auch darin bestand, dass bestimmte GPS etabliert wurden, dann drängt sich die Frage auf, ob das auch beim Übergang zum Kommunismus relevant ist.

Wir wollen an einigen Beispielen erläutern, was die Durchsetzung bestimmter GPS in der Übergangsgesellschaft bewirken und wie sie konkret aussehen kann.

Beispiel Post

Die Einrichtung eines standardisierten Postwesens war ein wichtiger Aspekt der Durchsetzung der bürgerlicher Produktionsweise. Waren (in Paketform) und Informationen (Brief, Telefon) konnten so zuverlässig und schnell verbreitet werden. Die Post lag meist in staatlicher Hand , der Wirtschaft wurden besonders günstige Konditionen eingeräumt (Rabatte für Massensendungen, Werbung und Geschäftspost).

Als Lenin wiederholt die Zuverlässigkeit der preußischen Post lobte, hob er damit offensichtlich auf die Unzuverlässigkeit dieser Einrichtung in Russland ab. Was er jedoch offenbar nicht sah, war die Tatsache, dass diese preußische Post zugleich auch ein bürokratisches Monstrum mit einem hohen Anteil unproduktiver Funktionen war. Trotzdem wurde er nicht müde, die preußische Post wiederholt als beispielhaft für die Wirtschaft Sowjetrusslands hinzustellen. Auch, dass die Post ein Service-Unternehmen und kein Produktionsbetrieb im eigentlichen Sinn war und schon deshalb als Vorbild für „die Wirtschaft“ nicht taugt, störte Lenin nicht weiter.

Weder in der Sowjetunion noch in anderen Ländern des „sozialistischen Lagers“ gab es dann auch nur den entferntesten Versuch, ein Postsystem zu schaffen, das nicht nur so zuverlässig, sondern auch wesentlich effizienter wäre als jenes in kapitalistischen Ländern. Doch genau das wäre nicht nur möglich, sondern unbedingt nötig gewesen, um auf diesem Gebiet höhere Produktivität und bessere „Lebensqualität“ als im „Westen“ zu erreichen.

Seit Jahren reduziert die Post in Deutschland die Zahl ihrer Filialen. Viele Postdienstleistungen werden inzwischen quasi „nebenbei“ in normalen Läden abgewickelt. Abgesehen von den sozialen Folgen für die Postbeschäftigten zeigt sich hierbei aber auch, dass Postbetrieb auch (fast) ohne eigene Filialen – also mit weniger Aufwand – funktionieren kann. Für eine solche Veränderung ist der Kapitalismus „weit genug“. Er brauchte für diese Innovation allerdings mehr als ein Jahrhundert – soviel zur Mär von der „Dynamik“ des Kapitalismus. Ein Arbeiterstaat hätte diese Entwicklung innerhalb einiger Monate vollziehen können – wenn es ein Bewusstsein und den politischen Willen dafür gegeben hätte.

Eine scheinbar postalische „Selbstverständlichkeit“ ist das Briefporto in Form einer Briefmarke, die aufgeklebt und gestempelt – also „entwertet“ – wird. Das ist in der bürgerlichen Gesellschaft auch nötig, weil Postdienstleistungen Waren sind. In einer nichtkapitalistischen Ökonomie könnte das ganz anders aussehen. Die Gesamtaufwendungen für den Postservice könnten als Pauschale im Lohn- und Steuersystem eingerechnet werden, so dass z.B. eine Briefsendung ohne Bezahlung möglich wäre. Im Kapitalismus wäre das unvorstellbar, weil eine solche gesellschaftliche „Kosten-Umlage“ fast undurchführbar wäre. Zudem würden Unternehmen die kostenlose Briefversendung ausnutzen und das ganze Land mit Print-Werbung überfluten.

Die simple Einsparung der Briefmarke und der Porti jedoch würde langfristig gerechnet tatsächlich Milliarden an Einsparungen bringen: die Herstellung entfiele, das Entwerten (Abstempeln) und der Bezahlvorgang wären genauso überflüssig wie Briefmarkenautomaten. Von diesen Einsparungen ließen sich problemlos sogar Briefmarken-Sondereditionen für Sammler finanzieren …

Grundvoraussetzung für die portofreie Post ist allerdings die Abschaffung des Privateigentums und der mit diesem verbundenen Funktionen (Werbung), nur so kann die Gesellschaft „weit genug“ auch für solche Produktivkraft-Sprünge sein.

Im Kapitalismus sind solche Umstrukturierungen entweder unmöglich oder ziehen sich über lange Zeiträume hin. Zudem besteht immer die Gefahr von Gegen-Reformen, welche den begrenzten Fortschritt wieder zurückdrehen. Genau das passierte mit der Liberalisierung des Postbereichs, indem der Brief- und Paketdienst statt vom Monopolisten Deutsche Post nun von vielen kleinen und größeren Logistikfirmen erledigt wird. Das hat, wie bereits oben gezeigt, ein völlig unrationelles Neben- und Gegeneinander zur Folge.

Was unter kapitalistischen Bedingungen ein Problem darstellt, ist für den Arbeiterstaat ein Glücksfall, denn weniger notwendige Arbeit führt hier nicht zu Arbeitslosigkeit, sondern dazu, dass die ArbeiterInnen anderen, sinnvolleren Tätigkeiten nachgehen können bzw. die notwendige Arbeitszeit – ohne soziale Nachteile – insgesamt verkürzt werden kann. Genau das  ist bei Marx ein zentrales Ziel des Kommunismus. Die geradezu quälend langsam sich vollziehende Verkürzung der Arbeitszeit im Ostblock (die tw. sogar hinter dem westlichen Kapitalismus mit der dortigen partiellen Einführung der 35-Stunden-Woche zurück blieb) hatte u.a. die Ursache, dass die Einführung neuer GPS nicht oder nur unzureichend erfolgte.

Die Post war im Westen (bis zur Umsetzung der neoliberalen Reformen) und im Osten staatlich und in ihrer Funktionsweise nahezu identisch. Hier wie dort gab es keine strukturelle Möglichkeit für die Gesellschaft bzw. die Post-Kunden, an der Funkionsweise der Post etwas zu ändern. Die Beschäftigten der Post (im Westen waren sie oft Beamte) hatten keinen direkten Grund, an der Situation etwa zu ändern. „Ihre“ Organisationen – die SPD und die Gewerkschaft – blieben völlig passiv, machten keine Vorschläge zur Verbesserung des Postsystems – um schließlich den neoliberalen „Reformen“ mehr oder weniger nachzugeben.  Kein Wunder: wäre doch jede Änderung, die nicht neoliberal ausfällt, mit den „normalen“ Verkehrsweisen des Kapitalismus kollidiert.

Genau hier hätte die Möglichkeit und die Notwendigkeit bestanden, im Osten diese Grenzen zu überspringen. Doch es geschah nichts: jegliche Reform – d.h. die Einführung adäquater GPS – wurde versäumt und damit die sozialen Effekte und die Steigerung der Arbeitsproduktivität vergeben.

Beispiel Fahrkarten

Im Bereich des Öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV) gab es in der DDR (und im gesamten Ostblock) noch Fahrkarten. Hätte man die Fahrkarten auch abschaffen können? Natürlich! Da sie ohnehin hoch subventioniert waren, hätte man sie auch zu 100% subventionieren können. Die realen Kosten für den Nahverkehr hätte man über eine gesamtgesellschaftliche Umlage (wie bei den Postkosten auch) verrechnen können. Diese Null-Subventionierung ist natürlich –  v.a. am Beginn der Übergangsgesellschaft – nicht überall möglich. Doch beim ÖPNV durchaus, weil niemand das kostenlose Fahren mißbrauchen kann. Wer fährt schon mehr als  nötig, nur weil es umsonst ist? Und selbst wenn: Was schadet das?

Die Einsparung der Fahrkarten würde einen großen ökonomischen Effekt haben: die Fahrkartenherstellung fällt weg, Fahrkartenverkäufer und -kontrolleure sind nicht mehr nötig, Fahrkartenautomaten und -entwerter sind überflüssig und niemand kann mehr durch Schwarzfahren die Gesellschaft bzw. die Kommune betrügen. Die Einsparungen wären enorm. Allein in Ostberlin gab es Dutzende S- und U-Bahnhöfe. D.h. über 100 Beschäftigte waren allein in Berlin mit dem Fahrkartensystem befasst und hätten anderen, sinnvolleren Arbeiten nachgehen können. Landesweit ging es um tausende Beschäftigte.

Die entsprechenden GPS wurden jedoch nicht eingeführt und somit eine Chance, auf diesem Sektor in der Produktivität dem Kapitalismus überlegen zu sein, nicht genutzt. Manche Maßnahmen haben die Situation eher noch verschlimmert. So wurden in den 1980ern Fahrkartenautomaten eingeführt. Doch diese haben die FahrkartenverkäuferInnen nicht etwa ersetzt – es gab sie trotzdem noch. Der Effekt dieser Reform? Statt eines Systems – die VerkäuferInnen – gab es nun zwei Systeme – VerkäuferInnen am Schalter und Automaten. Der gesellschaftliche Aufwand wurde größer statt kleiner.

Bei genauer Betrachtung hätte man sehr viele Bereiche finden können, wo die DDR hinsichtlich der GPS unter ihren Möglichkeiten blieb. Allerdings gab es durchaus auch Bereiche, wo durch die Abschaffung des Privateigentums und der Konkurrenz eine Hebung der gesamtgesellschaftlichen Produktivität erreicht wurde. Am deutlichsten wurde das an der radikalen Minimierung bestimmter unproduktiver (im Sinne der Produktion von Gebrauchswerten) Berufsgruppen wie Händler, Finanzdienstleister, Makler, Juristen usw. Letztere fehlten aber nicht etwa, es gab einfach weniger Streitfälle, z.B. weil die Grundstückspriese so niedrig waren, dass sich – im Gegensatz zu heute – ein Streit um ein paar Quadratmeter kaum lohnte, jedenfalls nicht finanziell. Leider wurde dieser Spareffekt zum goßen Teil wieder daduch zunichte gemacht, indem andere große unproduktive Sektoren im staatlichen und politischen Bereich installiert wurden (Stasi, politische Apparate, Verwaltung).

Beispiel Handel

Zu welch absurden Strukturen der Stalinismus in der DDR führte, zeigt der Handelsbereich. Mit dem Konsum und der HO gab es zwei separate Strukturen, die sich aber nicht als Konkurrenten gegenüber standen und die gleichen Waren zum selben Preis anboten. Ohne Grund und ohne Nutzen wurde so eine doppelte Verwaltungsstruktur aufrecht erhalten. Anstatt HO und Konsum zusammenzulegen, bestand dieser aberwitzige Dualismus bis zum Schluss der DDR.

Beispiel Wohnungswesen

Ähnlich verhielt es sich bei der Wohnungsverwaltung. Fast alle Wohnungen waren kommunales Eigentum. Anstatt Selbstverwaltungsstrukturen auf Ebene des Hauses, des Viertels usw. einzurichten, wurde die Verwaltung von Kommunalen Wohnungsverwaltungen (KWV) erledigt. Viel Aufwand, der nicht nötig war. Zudem belegten die KWVen selbst viele Wohnungen, obwohl Wohnungsmangel herrschte. Nicht wenige KWV-MitarbeiterInnen waren damit befaßt, Mietschulden einzutreiben. Aufgrund der Mietsubventionen war der Aufwand des Eintreibens oft höher als der Ertrag. Auch hier wird deutlich, dass mögliche und notwendige Strukturreformen, also die Einführung von GPS, die einer kommunistischen Gesellschaft entsprechen, versäumt wurde. Tausende Beschäftigte arbeiteten in einer unnötigen bürokratischen Struktur.

Es ist ein in der Linken weit verbreiteter Irrtum, dass das Privateigentum durch die Verstaatlichung ersetzt werden muss, anstatt dass eine wirkliche Vergesellschaftung in Form von Selbstverwaltungsstrukturen und Genossenschaften vollzogen wird, die es weniger oder gar nicht nötig haben, dass irgendwelche staatlich-bürokratischen Strukturen vorhanden sind, um ein abstraktes „Volks“eigentum zu verwalten.

Beispiel Auto

Nehmen wir ein Beispiel aus der Gegenwart. Seit Einführung von Autos ist es usus, ein Ersatzrad mitzuführen, um auch im Falle einer Reifenpanne mobil zu sein – obwohl die Wahrscheinlichkeit einer Panne äußerst gering ist.

Nehmen wir an, ein Ersatzrad wiegt 10 Kilogramm. 2014 betrug der PKW-Bestand in Deutschland knapp 44 Millionen. D.h. wir fahren täglich 440.000 Tonnen Ersatzräder „spazieren“! Wir können ahnen, welche Mengen an Treibstoff dafür mehr gebraucht werden, von der Umweltbelastung abgesehen. Ausserdem sind 44 Millionen Räder (Reifen) mehr notwendig und müssen mindestens ein Mal (mehr) hergestellt werden.

Natürlich, könnte jetzt eingewendet werden, dass dieser Aufwand ja notwendig ist, denn wer will schon bei einer Reifenpanne ohne Ersatzrad dastehen?! Das stimmt sicher – für die Vergangenheit und die Gegenwart. Denn selbst wenn der Reifenservice schnell kommen könnte, sähe er sich dem Problem gegenüber, dass es hunderte verschiedene Größen und Typen von Rädern bzw. Reifen gibt, die nicht alle vorrätig sein können.

Genau hier kommt nun die Frage der GPS ins Spiel. Gäbe es nur wenige PKW-Typen (aber in vielen Varianten), die weitgehend standardisiert sind, könnten nicht nur alle PKW-bezogenen Mobilitätsbedürfnisse ausreichend befriedigt werden, auch Service, Reparatur oder Ersatzteilherstellung könnten wesentlich besser und mit weniger Aufwand abgesichert werden. Eine solche Struktur würde es auch ermöglichen, das Mitführen eines Ersatzrades einzusparen und einfach im Schadensfall die nächste Werkstatt anzurufen. Allerdings ist dazu noch eine andere technische Voraussetzung erforderlich – das Handy bzw. ein Notrufsystem im Auto. So kann ich immer und von überall eine Werkstatt erreichen. Wie bekannt, gibt es diese Voraussetzungen bereits.

Wir sehen auch an diesem Beispiel, wie durch eine andere Struktur der Gesellschaft – beruhend auf anderen Eigentumsverhältnissen – eine höhere Produktivität der Gesellschaft und ein angenehmeres Leben ermöglicht würden. Natürlich wäre das Pannen-Problem am einfachsten dadurch lösbar, dass es Reifen gibt, die nicht kaputt gehen können, sondern höchstens mit der Zeit verschleißen. Das wäre ein Horror für die Reifenindustrie – und ein anderes Thema und eine andere Gesellschaft …

Beispiel Versicherung

Die Frage der GPS spielt nicht nur in produktiv-technischen Bereichen eine große Rolle, sondern auch im Verwaltungs- oder Servicebereich. Es war eine Errungenschaft des Kapitalismus, dass ein Versicherungssystem etabliert wurde, das bei Schadensfällen wirksam wird. Dieses System hatte natürlich eine Struktur, die der bürgerlichen Gesellschaft entsprach. Es gibt viele Versicherer, sie stehen untereinander in Konkurrenz und dienen v.a. der Erwirtschaftung von Gewinn. Im Arbeiterstaat könnte man die Produktivität des Versicherungswesens sofort verbessern, indem es nur einen Versicherer gibt. Das wurde sogar im Stalinismus weitgehend durchgesetzt. Tatsächlich war der Versicherungssektor z.B. in der DDR relativ, v.a. hinsichtlich der Beschäftigtenzahl, deutlich kleiner als in der BRD (bei im Prinzip gleichen Leistungen). Diese andere Struktur des Versicherungswesens hatte also einen realen ökonomischen Effekt – gesellschaftlich gesehen.

Doch weitere Schritte zur Verbesserung dieses Bereichs blieben leider aus. So hätte man den gesellschaftlichen Gesamtaufwand für Versicherungsleistungen pauschal als Umlage auf die Einkommen erheben können, anstatt sie pro Person und Schadensfall zu berechnen. Damit hätte man sehr viel Pesonal- und sonstigen Aufwand im Versicherungsbereich einsparen können – es wurde nicht einmal versucht.

Was würde das konkret bedeuten? Ein Blechschaden im Straßenverkehr – der „typische“ Unfall – wird heute polizeilich mit viel Aufwand aufgenommen, Gutachter werden eingeschaltet, oft wird die Justiz bemüht – all das, bevor der Schaden überhaupt repariert wird. Dieser unnötige (und meist sehr ärgerliche) Aufwand könnte wegfallen; die durch die Reparatur entstandenen Kosten werden pauschal erstattet. Natürlich müsste sichergestellt werden, dass beim Unfall nicht grobe Fahrlässigkeit oder Absicht im Spiel sind. Ein solches Vorgehen ist im Fall eines Personenschadens auch nicht unbedingt anwendbar. Doch in der Mehrzahl der Schadensfälle ist es möglich.

Welche enormen Einsparungen unproduktiver Sektoren dadurch möglich wären, erweist sich allein schon, wenn wir bedenken, dass sich der unproduktive Bereich der Verwaltung (im weitesten Sinne) – ob im staatlichen oder im privatwirtschaftlichen Bereich – im Zuge der Entwicklung des Kapitalismus stark vergrößert hat und weiter wächst. Eine nichtkapitalistische Gesellschaft hätte hier riesige Möglichkeiten zur Steigerung der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität und der Lebensqualität, die dem Kapitalismus nicht oder weit weniger möglich sind.

Fazit

An diesen wenigen Beispielen zeigt sich, wie bedeutsam die Frage der GPS ist und dass sie jener spezifische Teil der Produktionsverhältnisse sind, der direkte ökonomische Wirkungen hat. Die höhere Arbeitsproduktivität einer Gesellschaft als der zentrale Unterschied zwischen verschiedenen Gesellschaftsformationen äußert sich sehr wesentlich auch in anderen, „höheren“ Formen der GPS. Insofern ist es auch klar, dass der Kommunismus und seine „Vorgängerstufe“ Übergangsgesellschaft eine höhere Arbeitsproduktivität gegenüber dem Kapitalismus nur erreichen können, wenn sie auch die GPS auf eine qualitativ höhere Stufe heben.

Diese Frage ist für die Übergangsgesellschaft besonders wichtig, da diese ja zunächst nur die spezifisch bürgerliche Form von Produktivkräften (in gewisser Hinsicht sogar das Proletariat selbst) vorfindet und insofern erst nach und nach – und letztlich erst auf der Stufe eines internationalen Systems aus mehreren Arbeiterstaaten – eine höhere Produktivität als der Kapitalismus erreichen kann. Gerade deshalb, weil neue GPS – zunächst – eben keine höher entwickelten wissenschaftlich-technischen Produktivkräfte benötigen, sondern bereits auf Basis der schon vorhandenen eingeführt werden können, ist es dem Arbeiterstaat leicht möglich, in kurzer Zeit, ohne sonstige ökonomische Veränderungen, Investitionen, Erfindungen usw. ein höheres Produktivitäts-Niveau zu erreichen. Die – etwas überspitzt gesagt – einzige Voraussetzung ist der politische Wille, die politische Einsicht des herrschenden Proletariats.

Nach Brecht ist der Kommunismus das „Einfache, das schwer zu machen ist“. Hinsichtlich der GPS können wir sagen, dass er sogar recht einfach machbar ist.

Wir können verallgemeinernd feststellen, dass eine höhere Produktivität der Übergangsgesellschaft nur erreicht werden kann, wenn eine Vergesellschaftung und keine Verstaatlichung erfolgt. War die Einführung bestimmter GPS im Kapitalismus an den Staat gebunden, so ist sie in der Übergangsgesellschaft gerade nicht an den Staat, sondern an die assoziierten ProduzentInnen und KonsumentInnen und ihre Selbstverwaltungsstrukturen gebunden. Im Kapitalismus wächst der Staat, v.a. die Verwaltung, immer weiter an. Das liegt zum einen daran, dass die Produktivkräfte und die sozialen Strukturen immer komplexer werden, also mehr „verwaltet“ werden muss, zum anderen daran, dass die dem Kapitalismus immanenten Widersprüche zunehmen und „geregelt“ werden müssen. Im Kommunismus – und schon in der Übergangsgesellschaft – hingegen werden diese Widersprüche nach und nach „ausgetrocknet“, weil die sozialen Grundlagen dafür (Privateigentum, Konkurrenz, Ungleicheit) als sozialer Nährboden fehlen. Die Komplexität der Produktion und der sozialen Beziehungen aber bleibt natürlich bestehen. Weil aber diese Beziehungen keine antagonistischen mehr sind, ist es möglich, dass die Vermittlung und Regelung weitgehend ohne Staat in Form der Selbstverwaltung erfolgen kann.

Das Absterben des Staates erfolgt also nicht erst im Kommunismus und auch keineswegs von selbst; es ist ein Prozess, der schon am Tag 1 nach der Revolution bewußt vom Proletariat organisiert werden muss. Der Staat muss so weit wie möglich durch ein Räte- oder Selbstverwaltungssystem ersetzt werden, doch auch die Strukturen des Rätesystem müssen so weit wie möglich durch Selbstverwaltung ersetzt und minimiert werden. Dabei geht es – um nicht mißverstanden zu werden – um die Minimierung von Strukturen, nicht etwa um die Ausschaltung der räte-demokratischen Prinzipien. Auch ein Rätesystem benötigt natürlich Strukturen, eine Verwaltung, also „unproduktive“ Sektoren. Es geht aber darum, möglichst wenige solcher Strukturen zu haben. Wenn ich z.B. die Post oder die Bahn statt staatlich-bürokratisch räte-demokratisch verwalte, ändert das zunächst noch nichts an deren Struktur und Funktionsweise. Nicht nur die Änderung der Verwaltung, sondern deren weitestmögliche Minierung muss das Ziel sein. Erfolgt dies nicht – wie im Stalinismus und Reformismus -, ist es unmöglich, zu einer kommunistischen oder „irgendwie besseren“ Gesellschaftsqualität zu gelangen.

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