Marx und die Genossenschaften

Hanns Graaf

Für viele MarxistInnen gilt als ausgemacht, dass Genossenschaften u.ä. Formen gemeinschaftlichen Wirtschaftens nur Inseln im Meer des Kapitalismus sein können und für den Klassenkampf und umso mehr für die Revolution höchstens von marginaler Bedeutung sind, ja dem Ziel der revolutionären Überwindung des Kapitalismus oft sogar entgegen stehen. Als Begründung dieser Positionen berufen sie sich v.a. darauf, dass ihr Altmeister Marx postuliert hätte, dass innerhalb des Kapitalismus keine alternative kommunistische Produktionsweise errichtet werden könne. Das ist zweifellos auch richtig. Doch was besagt das hinsichtlich der Genossenschaften? Und: was war die Position von Marx zur Genossenschaftsfrage?

Eine Darstellung der Haltung von Marx und Engels zum Genossenschaftswesen finden wir bereits im „Kommunistischen Manifest“ von 1848. Im Abschnitt zum kritisch-utopistischen Sozialismus  schreiben sie:

„Die ersten Versuche des Proletariats, in einer Zeit allgemeiner Aufregung, in der Periode des Umsturzes der feudalen Gesellschaft direkt sein eigenes Klasseninteresse durchzusetzen, scheiterten notwendig an der unentwickelten Gestalt des Proletariats selbst wie an dem Mangel der materiellen Bedingungen seiner Befreiung, die eben erst das Produkt der bürgerliche Epoche sind. (…) Die eigentlich sozialistischen und kommunistischen Systeme, die Systeme St.-Simons, Fouriers, Owens usw., tauchen auf in der ersten, unentwickelten Periode des Kampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie (…) Die Erfinder dieser Systeme sehen zwar den Gegensatz der Klassen wie die Wirksamkeit der auflösenden Elemente in der herrschenden Gesellschaft selbst. Aber sie erblicken auf der Seite des Proletariats keine geschichtliche Selbsttätigkeit, keine ihm eigentümliche politische Bewegung.

Da die Entwicklung des Klassengegensatzes gleichen Schritt hält mit der Entwicklung der Industrie, finden sie ebenso wenig die materiellen Bedingungen zur Befreiung des Proletariats vor und suchen nach einer sozialen Wissenschaft, nach sozialen Gesetzen, um diese Bedingungen zu schaffen.

An die Stelle der gesellschaftlichen Tätigkeit muss ihre persönlich erfinderische Tätigkeit treten, an die Stelle der geschichtlichen Bedingungen der Befreiung phantastische, an die Stelle der allmählich vor sich gehenden Organisation des Proletariats zur Klasse eine eigens ausgeheckte Organisation der Gesellschaft. Die kommende Weltgeschichte löst sich für sie auf in die Propaganda und die praktische Ausführung ihrer Gesellschaftspläne.

Sie sind sich zwar bewusst, in ihren Plänen hauptsächlich das Interesse der arbeitenden Klasse als der leidendsten Klasse zu vertreten. Nur unter diesem Gesichtspunkt der leidendsten Klasse existiert das Proletariat für sie. (…)

Sie verwerfen daher alle politische, namentlich alle revolutionäre Aktion, sie wollen ihr Ziel auf friedlichem Wege erreichen und versuchen, durch kleine, natürlich fehlschlagende Experimente, durch die Macht des Beispiels dem neuen gesellschaftlichen Evangelium Bahn zu brechen.

Die phantastische Schilderung der zukünftigen Gesellschaft entspringt in einer Zeit, wo das Proletariat noch höchst unentwickelt ist, also selbst noch phantastisch seine eigene Stellung auffasst, seinem ersten ahnungsvollen Drängen nach einer allgemeinen Umgestaltung der Gesellschaft.

Der hier geäußerten Kritik an den frühen Sozialisten und ihren Auffassungen können wir zustimmen, jedoch enthalten die Einschätzungen von Marx und Engels auch einige Elemente, die  einer historisch-kritischen Betrachtung nicht standhalten bzw. den Umständen ihrer Zeit geschuldet sind und nicht verallgemeinert werden können.

Dazu zählt die Position, dass das Proletariat und die ökonomischen Verhältnisse nicht reif sind für genossenschaftliche Projekte und diese daher nur vereinzelte utopische Versuche sein könnten, die letztlich scheitern müssten. Diese Einschätzung von Marx und Engels bezog sich auf die Situation zu ihrer Zeit, der Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals stellte die Arbeiterklasse noch nicht die Mehrheit der Bevölkerung, selbst im fortgeschrittenen England. Die Arbeiterbewegung befand sich noch ganz am Anfang, sie verfügte noch nicht über schlagkräftige Organisationen. Der Kommunismus existierte nur als Idee von Individuen oder als kleinsten Grüppchen. So fehlten alle objektiven Voraussetzungen für die Entwicklung eines breiteren Genossenschaftswesens. Auch die Lebenslage des Proletariats war dergestalt, dass es aufgrund des überlangen Arbeitstages und der extremen Armut gar keine zeitlichen und finanziellen Ressourcen hatte, Genossenschaften aufzubauen. Die „genossenschaftlichen“ Projekte, etwa jene von Robert Owen, beruhten deshalb damals fast immer darauf, dass aufgeklärte Bourgeois die Initiative ergriffen und ihr Kapital einbrachten.

Es liegt auf der Hand, dass die Situation heute – v.a. in den entwickelten Ländern – sehr anders ist. Es gibt ein sehr zahlreiches Proletariat, das über starke Organisationen verfügt. Allerdings handelt es sich bei diesen fast immer um reformistische Formationen, die das Genossenschaftswesen kaum interessiert. Der soziale – und v.a. der finanzielle – Spielraum des Proletariats, sich eigene Strukturen zu schaffen, ist also wesentlich größer als zu Marx` Zeiten.

Die Einschätzung des Manifests, dass Genossenschaften nur kleine, natürlich fehlschlagende Experimentesein könnten, kann historisch nicht bestätigt werden. Nicht nur die Owensche Mustersiedlung und der Betrieb in Newark haben sehr gut funktioniert, auch andere solche Projekte waren oft über Jahrzehnte erfolgreich – sowohl kommerziell, als auch hinsichtlich ihrer sozial-reformerischen Effekte für die Beteiligten. Das ist umso bemerkenswerter, als diese genossenschaftlichen Projekte oft darunter litten, dass die Arbeiterklasse in jeder Hinsicht noch wenig entwickelt war und es oft keine Unterstützung seitens der Arbeiterbewegung gab. Diese ungünstigen Bedingungen für das Genossenschaftswesen haben sich aber Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts verbessert, sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeiterparteien waren oft – wenn auch nicht immer – Befürworter und Unterstützer der Genossenschaftsbewegung. Allerdings verstärkte oder verfestigte sich parallel dazu auch die reformistische Ausrichtung der Arbeiterorganisationen, was sich auch darin äußerte, dass sie die Genossenschaften nicht als besondere Stützpunkte der Revolution und des Klassenkampfes ansahen, sondern nur als Projekte zur Verbesserung der sozialen Lage des Proletariats. Später erlosch dann überhaupt jedes Interesse der sozialdemokratischen Bürokratien am Genossenschaftswesen. Auch der Bolschewismus – und noch stärker – der Stalinismus zeichneten sich durch eine weitgehende  Ignoranz bzw. Ablehnung von Genossenschaften und proletarischer Selbstveraltung aus.

Die spezifische, ihrer Zeit geschuldeten skeptischen Haltung von Marx und Engels gegenüber dem Genossenschaftswesen drückt sich bei ihnen in einer grundsätzlichen Betonung der Sphäre der Ideologie und des Politischen insofern aus, als sie v.a. den Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei und von Gewerkschaften als wesentlich politischen Strukturen betonten, während sie der Schaffung sozialer Strukturen der Arbeiterklasse – Genossenschaften und Selbstverwaltungsprojekte – kaum Aufmerksamkeit widmeten, obwohl sich nirgends in ihren Schriften eine dezidiert ablehnende Position findet; im Gegenteil: Marx betonte verschiedentlich die Bedeutung des Genossenschaftswesens.

Die Genossenschaftsfrage in Marx´ Kapital

Im 3. Band des „Kapitals“ stellt Marx bezüglich genossenschaftlicher Unternehmen fest: „Bei der Kooperativfabrik fällt der gegensätzliche (doppelseitige) Charakter der Aufsichtsarbeit weg, indem der Dirigent von den Arbeitern bezahlt wird, statt ihnen gegenüber das Kapital zu vertreten. (…) Aus den öffentlichen Rechnungsablagen der Kooperativfabriken in England sieht man, dass – nach Abzug des Lohns des Dirigenten, der einen Teil des ausgelegten variablen Kapitals bildet, ganz wie der Lohn der übrigen Arbeiter – der Profit größer war als der Durchschnittsprofit, obgleich sie stellenweise einen viel höheren Zins zahlten als die Privatfabrikanten. Die Ursache des höheren Profits war in allen diesen Fällen größere Ökonomie in Anwendung des konstanten Kapitals.“  (Marx, Kapital III, MEW 25, 401f)

Damit sagt er, dass ein genossenschaftliches Unternehmen (zu seiner Zeit) genauso oder sogar produktiver sein kann als ein privates. Das von MarxistInnen oft gebrauchte Argument, dass Genossenschaftsbetriebe sich gegen die private Konkurrenz nicht behaupten könnten, kann sich ganz allgemein also nicht auf Marx stützen.

Weiter führt Marx aus: „Die Kooperativfabriken der Arbeiter selbst sind, innerhalb der alten Form, das erste Durchbrechen der alten Form, obgleich sie natürlich überall, in ihrer wirklichen Organisation, alle Mängel des bestehenden Systems reproduzieren und reproduzieren müssen. Aber der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist innerhalb derselben aufgehoben, wenn auch zuerst nur in der Form, dass die Arbeiter als Assoziation ihr eigener Kapitalist sind, d. h. die Produktionsmittel zur Verwertung ihrer eigenen Arbeit verwenden. Sie zeigen, wie auf einer gewissen Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte und der ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsformen naturgemäß aus einer Produktionsweise sich eine neue Produktionsweise entwickelt und herausbildet. Ohne das aus der kapitalistischen Produktionsweise entspringende Fabriksystem könnte sich nicht die Kooperativfabrik entwickeln und ebenso wenig ohne das aus derselben Produktionsweise entspringende Kreditsystem. Letzteres, wie es die Hauptbasis bildet zur allmählichen Verwandlung der kapitalistischen Privatunternehmungen in kapitalistische Aktiengesellschaften, bietet ebenso sehr die Mittel zur allmählichen Ausdehnung der Kooperativunternehmungen auf mehr oder minder nationaler Stufenleiter. Die kapitalistischen Aktienunternehmen sind ebenso sehr wie die Kooperativfabriken als Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte zu betrachten, nur dass in den einen der Gegensatz negativ und in den andren positiv aufgehoben ist.(ebenda, 456)

Diese Passage führt uns zu zwei Überlegungen. Erstens sieht Marx Kooperativfabriken als eine Form (neben den Aktiengesellschaften) an, die in der Übergangsgesellschaft zum Kommunismus eine Rolle spielen. Demgegenüber sahen aber viele Theoretiker der II. Internationale, z.B. Hilferding, eher oder nur die Aktiengesellschaften und den sie verwaltenden Staat als Alternative zum Kapitalismus an. Eine ähnliche Position nahm auch Lenin ein, der hier Hilferding folgte. Genossenschaftliche Formen spielten auch in Lenins Vorstellungen von Übergangsgesellschaft keine Rolle. Seine – oft wiederholte – Formel war im Prinzip „Staatskapitalismus plus Sowjetmacht“. Der Genossenschaftsgedanke hatte so auch in der Wirtschaftspolitik der Bolschewiki keinen Platz. Die Marxsche Konzeption wurde also sehr einseitig und zu Gunsten der Rolle des Staates und auf Kosten der Selbstorganisation der Massen ausgelegt.

Die Orientierung auf die Verstaatlichung beruhe oft auf der Annahme, dass der Trend zur Aktiengesellschaft eine „Vergesellschaftung“ darstellen würde, die objektiv Richtung Sozialismus weise und quasi nur noch unter der Regie der Arbeiterklasse weitergeführt werden müsse. Marx wies aber nicht zufällig darauf hin, dass diese „Vergesellschaftung“ die negative Aufhebungdes Kapitalismus darstellt, u.a. weil sie die Enteignung der ProduzentInnen und ihre unterprivilegierte  Stellung in Produktion und Gesellschaft eben nicht aufhebt, sondern sich nur deren Form ändert: an Stelle des Kapitals dirigiert nun der Staat.

Die zweite Schlussfolgerung aus Marx´ Ideen ist, dass die Genossenschaften einen ähnlichen Prozess von Konzentration und Zentralisation durchmachen müssen wie Privatunternehmen. Eine wichtige Rolle spielt dabei lt. Marx der Kredit. Daraus folgt, dass es eines genossenschaftlichen Bank- und Kreditsystems bedarf, dass diesen „Wachstumsprozess“ des Genossenschaftssektors fördern kann. Letztlich liefe eine solche Entwicklung darauf hinaus, dass Privatsektor und Genossenschaftssektor immer mehr als zwei große Blöcke miteinander in Konflikt geraten. Marx hielt es nicht für möglich, dass dieser Widerspruch im Rahmen des Kapitalismus, also evolutionär,   gelöst werden könnte, sondern dass dafür ein qualitativer Umschwung, eine Revolution nötig wäre.

Wir wollen auf diese Frage hier nicht weiter eingehen, können aber soviel sagen: die Arbeiterbewegung – sowohl die reformistische wie auch die „revolutionäre“ – haben beide wenig bis nichts unternommen, um das Genossenschaftswesen wirklich zu entwickeln und es zu einem „Block“ zu entwickeln, der nicht nur als Alternative zum kapitalistischen Wirtschaftssystem wahrgenommen werden kann, sondern auch mit dem Klassenkampf des Proletariats und dem Ziel der Revolution eng verbunden ist. An diesem Versagen ist allerdings auch Marx nicht ganz unschuldig, da auch er die Genossenschaften vorrangig nur als ökonomische Strukturen betrachtet hat und nicht auch als politische, für den Klassenkampf relevante Faktoren. So konzentrierten sich Marx und Engels und die sich auf sie berufenden PolitikerInnen der Arbeiterbewegung v.a. auf politische und ideologische Fragen und auf den Aufbau politischer Strukturen (Parteien und Gewerkschaften) und widmeten sich kaum der Schaffung sozialer Strukturen wie Selbstverwaltungs- und Genossenschaftsprojekte.

Bemerkenswert ist auch Marx´ Ansicht, dass im Zuge des Übergangs zum Kommunismus die ProduzentInnen wieder direkten Zugriff auf die Produktionsmittel bekommen müssen, d.h. ohne dass ein „Dritter“, sei es der private Kapitaleigner, seien es die Aktionäre, sei es der Staat, dazwischen tritt. Er schreibt: In den Aktiengesellschaften ist die Funktion getrennt vom Kapitaleigentum, also auch die Arbeit gänzlich getrennt vom Eigentum an den Produktionsmitteln und an der Mehrarbeit. Es ist dies Resultat der höchsten Entwicklung der kapitalistischen Produktion ein notwendiger Durchgangspunkt zur Rückverwandlung des Kapitals in Eigentum der Produzenten, aber nicht mehr als das Privateigentum vereinzelter Produzenten, sondern als das Eigentum ihrer als assoziierter, als unmittelbares Gesellschaftseigentum. Es ist andererseits Durchgangspunkt zur Verwandlung aller mit dem Kapitaleigentum bisher noch verknüpften Funktionen im Reproduktionsprozess in bloße Funktionen der assoziierten Produzenten, in gesellschaftliche Funktionen. (ebenda, S. 453)

Die Frage des Mir

In seinem Brief an die russische Sozialistin Vera Sassulitsch vom 8.3.1881 führt er bezüglich des Mir, der auf Gemeineigentum beruhenden russischen Dorfgemeinde, aus, dass diese unter bestimmten Umständen zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Umgestaltung des Agrarsektors in Russland werden könnte. Das Mir ist zwar keine Genossenschaft im strengen Sinn, beruht aber auf kollektivem Besitz und kooperativer Arbeit. Der Boden gehörte nicht anteilig einzelnen genossenschaftlichen Eigentümern, sondern der Dorfgemeinschaft, welche die Parzellen jährlich rochierend zuteilten. Viele Arbeiten, z.B. die Heumahd, wurden gemeinsam verrichtet.

Marx schreibt: Die im „Kapital“ gegebene Analyse enthält also keinerlei Beweise weder für noch gegen die Lebensfähigkeit der Dorfgemeinde, aber das Spezialstudium, das ich darüber getrieben und wofür ich mir Material aus Originalquellen beschafft habe, hat mich davon überzeugt, dass diese Dorfgemeinde der Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Russlands ist; damit sie aber in diesem Sinne wirken kann, müsste man zuerst die zerstörenden Einflüsse, die von allen Seiten auf sie einstürmen, beseitigen und ihr sodann die normalen Bedingungen einer natürlichen Entwicklung sichern.

Es bleibt zu fragen, ob Marx´ Einschätzung bezüglich der Rolle des Mir für die soziale Umgestaltung Russlands auch noch 1917, also fast 40 Jahre später, zutraf oder die Entwicklung das Mir inzwischen schon „ausgehöhlt“ hatte. Jedenfalls spielt das Mir für die konzeptionellen Überlegungen Lenins und der Bolschewiki kaum eine Rolle. Trotzdem erscheint es wenig überzeugend, wenn etwa Rudi Dutschke in seinem Buch „Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen“ behauptet, dass das Mir eine zentrale Rolle für die sozialistische Umgestaltung hätte spielen können und allgemein – wie noch zu Zeiten von Marx – die asiatische Produktionsweise vorherrschend in Russland gewesen sei.

Fest steht jedoch, dass der Weg der Umgestaltung der Landwirtschaft, den Stalin schließlich mit der Enteignung der „Kulaken“ und der Zwangskollektivierung ging, nicht nur fatale Folgen hatte (Produktionsrückgang, Hunger), sondern auch ein absurder Versuch war, Genossenschaften (in Wahrheit waren es nur Staatsbetriebe besonderer Form) zu bilden, ohne an die schon gegebenen kollektiven Wirtschaftsformen anzuknüpfen.

Marx in der IAA

In der 1864 gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) spielte Marx eine sehr prominente Rolle. In der IAA waren neben „Marxisten“, Anarchisten und Gewerkschaftern auch mehrere Genossenschaften Mitglied. Allein schon deshalb nahm Marx auch zur Frage des Genossenschaftswesens Stellung. In einer Resolution schreibt er dazu 1866: (a) Wir anerkennen die Kooperativbewegung als eine der Triebkräfte zur Umwandlung der gegenwärtigen Gesellschaft, die auf Klassengegensätzen beruht. Ihr großes Verdienst besteht darin, praktisch zu zeigen, dass das bestehende despotische und Armut hervorbringende System der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital verdrängt werden kann durch das republikanische und segensreiche System der Assoziation von freien und gleichen Produzenten.

(b) Aber das Kooperativsystem, beschränkt auf die zwerghaften Formen, die einzelne Lohnsklaven durch ihre privaten Anstrengungen entwickeln können, ist niemals imstande, die kapitalistische Gesellschaft umzugestalten. Um die gesellschaftliche Produktion in ein umfassendes und harmonisches System freier Kooperativarbeit zu verwandeln, bedarf es allgemeiner gesellschaftlicher Veränderungen, Veränderungen der allgemeinen Bedingungen der Gesellschaft, die nur verwirklicht werden können durch den Übergang der organisierten Gewalt der Gesellschaft, d. h. der Staatsmacht, aus den Händen der Kapitalisten und Grundbesitzer in die Hände der Produzenten selbst.

  1. c) Wir empfehlen den Arbeitern, sich eher mit Produktivgenossenschaften als mit Konsumgenossenschaften zu Die letzteren berühren nur die Oberfläche des heutigen ökonomischen Systems, die ersteren greifen es in seinen Grundfesten an.
  2. d) Wir empfehlen allen Kooperativgesellschaften, einen Teil ihres Gesamteinkommens in einen Fonds zu verwandeln zur Propagierung ihrer Prinzipien durch Wort und Tat, mit anderen Worten, durch Förderung der Errichtung von neuen Produktivgenossenschaften sowie durch Verbreitung ihrer Lehren.
  1. e) Um zu verhindern, dass Kooperativgesellschaften zu gewöhnlichen bürgerlichen Aktiengesellschaften entarten, sollten alle Arbeiter, die in ihnen beschäftigt sind, ob Aktieninhaber oder nicht, gleiche Anteile vom Gewinn Wir sind willens zugeben, dass die

Aktieninhaber als eine nur zeitweilige Maßnahme Zinsen zu einem niedrigen Prozentsatz erhalten.

Marx macht hier unzweideutig klar, das für ihn Genossenschaften eine wichtige Rolle im Prozess der Überwindung des Kapitalismus spielen – eine Position, die ich von jener von 1848 unterscheidet. Er betont aber zugleich, dass die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise nicht durch die Verallgemeinerung von Genossenschaften allein erfolgen kann, sondern dafür das Proletariat die politische Macht erobern und danach die gesamte Gesellschaft umwälzen muss. Er hebt hervor, dass die Genossenschaften zu einem ganzen System verbunden und – z.B. durch Abgaben an einen Fonds – mit der allgemeinen politischen und Propagandaarbeit der Arbeiterbewegung verbunden werden müssen. Er hält Produktivgenossenschaften für sinnvoller als Konsumgenossenschaften und schlägt Maßnahmen vor, der Gefahr der Degeneration des Genossenschaftswesens entgegen zu wirken.

Diese Haltung von Marx hebt sich deutlich von der heute verbreiteten Ignoranz vieler MarxistInnen gegenüber dem Genossenschaftsgedanken ab.

Die Kritik am Gothaer Programm

1875 schlossen sich in Gotha die beiden deutschen Arbeiterparteien, der Lassallesche „Allgemeine deutsche Arbeiterverein“ (ADAV) und die „Eisenacher“ um Bebel und Wilhelm Liebknecht zur  (aber erst etwas später so genannten) Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) zusammen. Das sehr kurze Programm enthält auch ein Passage zur Genossenschaftsfrage, die v.a. die Ansichten der Anhänger Lassalles ausdrückt: „Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert, um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtung von sozialistischen

Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volkes. Die Produktivgenossenschaften sind für Industrie und Ackerbau in solchem Umfange ins Leben zu rufen, dass aus ihnen die sozialistische Organisation der Gesamtarbeit entsteht.“

In seiner Programmkritik, den „Randglossen zum Gothaer Programm“, von 1875 geht Marx auch auf die Genossenschaftsfrage ein. Die Wirkung der Marxschen Kritik war aber zu seiner Zeit gleich Null, weil sie von Bebel u.a. SPD-Führern, die das Pamphlet kannten, nicht veröffentlicht wurde. Auch Engels hat sich dafür nicht besonders engagiert. Erst anderthalb Jahrzehnte später, 1891, veröffentlichte er sie in der „Neuen Zeit“.

Marx schreibt: An die Stelle des existierenden Klassenkampfes tritt eine Zeitungsschreiberphrase – „die soziale Frage, derenLösungmananbahnt. Statt aus dem revolutionären Umwandlungsprozesse der Gesellschaftentstehtdiesozialistische Organisation der Gesamtarbeitaus derStaatshilfe, die der Staat Produktivgenossenschaften gibt, die er, nicht der Arbeiter,ins Leben ruft. Es ist dies würdig der Einbildung Lassalles, dass man mit Staatsanleihn ebensogut eine neue Gesellschaft bauen kann wie eine neue Eisenbahn! Aus einem Rest von Scham stellt mandie Staatshilfe“ – „unter die demokratische Kontrolle des arbeitenden Volks. (…) Es liegt auch der Hauptanstoß nicht darin, dass man diese spezifische Wunderkur ins Programm geschrieben, sondern dass man überhaupt vom Standpunkt der Klassenbewegung zu dem der Sektenbewegung zurückgeht.

Dass die Arbeiter die Bedingungen der genossenschaftlichen Produktion auf sozialem und zunächst bei sich, also auf nationalem Maßstab herstellen wollen, heißt nur, dass sie an der Umwälzung der jetzigen Produktionsbedingungen arbeiten, und hat nichts gemein mit der Stiftung von Kooperativgesellschaften mit Staatshilfe! Was aber die jetzigen Kooperativgesellschaften betrifft, so haben sie nur Wert, soweit sie unabhängige, weder von den Regierungen noch von den Bourgeois protegierte Arbeiterschöpfungen sind.“

Es handelt sich hier also nicht um ein Kritik am Genossenschaftswesen selbst sondern an der Lassalleschen Auffassung davon. Marx betont, dass die Genossenschaften im Kontext der revolutionären Umwandlung gesehen werden müssen, lehnt die Staatshilfe ab und sieht die Genossenschaften nur dann als sinnvoll an, wenn sie Hervorbringungen der ArbeiterInnen selbst sind.

Die Frage der Staatshilfe wirft allerdings einige Fragen auf. Es steht außer Zweifel, dass Genossenschaften nicht vom (bürgerlichen) Staat eingerichtet werden sollten, weil so von vornherein eine starke Abhängigkeit von ihm entsteht und Illusionen in ihn befördert werden. Doch es erschließt sich uns nicht, warum jede Art von „Staatshilfe“ verwerflich sein soll. Wenn es dem Proletariat gelingt, vom Staat Geld für seine Kooperativen zu erhalten bzw. durch Klassenkampf zu erzwingen, ist das aus unserer Sicht durchaus nicht verwerflich – so lange an die Hilfe keine Bedingungen des Staates geknüpft sind. Das Bestreben der „unteren Schichten“, vom Staat Hilfe zu erhalten, ist so alt, wie die Klassengesellschaft selbst. So musste etwa in der Französischen Revolution der Staat auf den Druck der Massen hin Nationalwerkstätten einrichten, um den Arbeitslosen ein Auskommen zu sichern. In diesem Sinne ist es völlig korrekt, Geld oder soziale Leistungen vom Staat einzufordern. Diese Forderungen müssen aber damit einhergehen, die Rolle des bürgerlichen Staates als Herrschafts- und Unterdrückungsinstrument klar zu benennen und die Verwaltung von sozialen Maßnahmen (Projekte allgemein nützlicher Arbeiten, Sozialkassen usw.) unter Arbeiterkontrolle zu stellen und nicht unter der Fuchtel von Kapital und Staat zu belassen. Marx´ Kritik an den Gothaern ist aber insofern berechtigt, weil sie diese „Rahmenbedingungen“ eben nicht beachteten und nicht die ArbeiterInnen sondern Bismarcks Staat zum Subjekt des Fortschritts machten.

Einige abschließende Bemerkungen

Marx hat leider keine zusammenhängende, systematische Darstellung der Genossenschaftsfrage hinterlassen. Es gibt nur sporadische Äußerungen dazu. Immerhin durchziehen sie sein gesamtes Werk bis zum Ende und zeigen, dass für ihn die Genossenschaften durchaus keine unbedeutenden Strukturen waren, ja für ihn sogar ein zentrale Rolle für eine zum Kapitalismus alternative Wirtschaft und Gesellschaft spielten.

Marx´ Hauptbeschäftigung galt der Analyse der kapitalistischen Ökonomie, die er oft bis in die letzte Verästelung der bürgerlichen Literatur untersuchte. Obwohl Marx´ Haltung, den Kommunismus nicht als ideales Zukunftsgebilde voraus zu sehen, sondern nur die hauptsächlichen Tendenzen und Faktoren der historischen Entwicklung aufzudecken, grundsätzlich angemessen und verständlich ist, so erweist sich andererseits sein Verzicht auf genauere Darstellungen der Übergangsgesellschaft als fatal, wie die diversen theoretischen und praktischen Irrwege der Sozialdemokratie, des Bolschewismus und des Stalinismus zeigten. Allesamt vernachlässigten diese sträflich das Genossenschaftswesen – und im weiteren Sinn die Frage der proletarischen Selbstverwaltung – und setzten auf den Staat als Organisator und Verwalter von Ökonomie und Gesellschaft. Das führte zwangsläufig dahin, das Proletariat zwar dem Zugriff der Bourgeoisie zu  entziehen, indem es enteignet wurde, aber nur, indem es sich danach nur erneut einer „dritten Macht“, dem Staat, unterwerfen musste. Die untergeordnete, machtlose Stellung der Massen als bloße Objekte der Geschichte blieb somit bestehen.

Das Fehlen einer „Genossenschaftstheorie“ bei Marx und Engels bedeutet auch, dass die besonderen Probleme von kooperativen Strukturen kaum beleuchtet worden sind. Dieses konzeptionelle Manko zu überwinden wäre die Aufgabe der Theoretiker und Praktiker der Arbeiterbewegung nach Marx sein müssen. Doch haben sie sich dieser Aufgabe fast nicht gewidmet. Schon Eduard Bernstein wies mehrfach auf diesen Missstand hin und betonte die Bedeutung des Genossenschaftswesens. Leider wurde dieser berechtigte Hinweis Bernsteins (wie manch anderer) von seinen KritikerInnen, v.a. von Kautsky und Luxemburg, trotz aller Berechtigung ihrer Kritik in wesentlichen Punkten kaum gewürdigt und mit z.T. oberflächlicher Polemik abgetan. Es ist hier aber nicht der Ort, das genauer auszuführen.

Ein Blick auf die Programme und Konzepte der heutigen Linken offenbart, dass sich an dieser  historischen Misere wenig geändert hat. Gibt es in der „universitären“ Linken noch diverse Arbeiten zum Themenbereich „Genossenschaften und alternative, solidarische Ökonomie“, so fehlt in der Programmatik linksradikaler Organisationen sogar das Wort „Genossenschaft“. Der Reformismus, v.a. in Gestalt der Linkspartei, sieht Genossenschaften allenfalls als Teil einer „gemischten Wirtschaft“ an, ohne ein Wort darüber zu verlieren, inwieweit Genossenschaften etwas mit Klassenkampf oder Revolution zu tun haben.

Das komplette Desaster von Sozialdemokratie und Stalinismus, auch nur einen Millimeter Richtung  Kommunismus voran gekommen zu sein, gründet auch – und wesentlich – darin, Genossenschaften, Selbstverwaltung und Räte als grundlegende Strukturen einer nichtkapitalistischen Gesellschaft zu unterschätzen oder anzulehnen. Nach diesen grundlegenden historischen Negativ-Erfahrungen liegt es auf der Hand, dass der Kampf um proletarische Selbstverwaltung und Genossenschaften ein zentrales Element schon des Klassenkampfes im Kapitalismus sein muss. Genossenschaften sind nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts! In diesem Sinn mag am Schluss noch einmal Marx selbst zu Wort kommen: „Wenn aber die genossenschaftliche Produktion nicht eitel Schein und Schwindel bleiben, wenn sie das kapitalistische System verdrängen, wenn die Gesamtheit der Genossenschaften die nationale Produktion nach einem gemeinsamen Plan regeln, sie damit unter ihre eigene Leitung nehmen und der beständigen Anarchie und den periodisch wiederkehrenden Konvulsionen, welche das unvermeidliche Schicksal der kapitalistischen Produktion sind, ein Ende machen soll – was wäre das andres, meine Herren, als der Kommunismus, der ‚mögliche Kommunismus‘?“ (Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, Dietz Verlag Berlin, 1963, S. 77)

2 Gedanken zu „Marx und die Genossenschaften“

  1. ganz spontan: Ich bin begeistert … auch weil es mir Arbeit erspart; denn ich war gerade dabei einen kleinen Artikel zu schreiben, der zumindest sehr ähnlich geworden wäre.
    Viele Grüße
    Robert Schlosser

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