Strukturen der DDR
Petra Heller
In den 1980er Jahren wurden auch in der DDR in größerem Umfang Computer eingeführt. Dagegen war an sich nichts einzuwenden, wenn damit nicht die Vorstellung verbunden gewesen wäre, dass die Verbesserung der Technik, dass die Einführung neuer Technologie die einzigen Mittel wären, um die Gesellschaft voran zu bringen. Diese Vorstellung war aber gerade dem Stalinismus eigen. Stalin prägte einmal die Slogans „Die Technik entscheidet alles!“ und „Die Kader entscheiden alles“ – wobei mit „Kadern“ die Bürokratie gemeint war. Dass neue Technik ein Mittel zur Entwicklung der Gesellschaft ist, wird wohl kein(e) MarxistIn leugnen. Doch was bedeutet deren Einführung hinsichtlich der gesellschaftlichen Strukturen?
Nach Marx gibt es zwei Produktivkräfte: die Natur und den produktiv tätigen Menschen – v.a. die Arbeiterklasse. Nun werden aber meist auch Wissenschaft und Technik als Produktivkräfte bezeichnet. Das ist insofern völlig berechtigt, als mittels dieser ja die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt und damit wiederum die Natur beeinflusst werden. Allerdings sind Wissenschaft und Technik nur Hervorbringungen des Menschen. Streng genommen sind sie nur Produktionsmittel, derer sich die Produktivkraft Mensch bedient.
Sozialdemokratie und Stalinismus haben beide die Tendenz – bei durchaus unterschiedlichen Betonungen und Besonderheiten -, dass eine andere Gesellschaftsqualität (die jedoch nichts mit dem Kommunismus gemein hat, sondern eher ein modifizierter bürgerlicher „Sozialstaat“ ist) möglich wäre, ohne dass bestimmte bürgerliche gesellschaftliche Grundstrukturen wie Lohnarbeit oder der Staat abgeschafft werden. Statt an die Überwindung der subalternen Lage des lohnabhängigen und eigentumslosen Proletariats als Grundbedingung dafür, die schöpferischen Kräfte dieser Klasse freizusetzen, glauben sie mehr oder weniger, dass v.a. die Einführung neuer Technik die Entwicklung der Gesellschaft voranbringen würde. Während die Sozialdemokratie dabei in der Regel die Notwendigkeit von Privateigentum und Konkurrenz betont, hält der Stalinismus den Staat und die durch ihn geregelte zentrale Planung für entscheidend. Doch was nützt die beste Technik, wenn der gesellschaftliche Rahmen, in dem sie wirken, grundsätzlich oder partiell gleich bleibt, wenn die Entscheidungen über den Einsatz der Technik und deren Entwicklung nicht von den ProduzentInnen und KonsumentInnen auf direkte demokratische Weise gefällt werden, sondern nur wieder einem „Dritten“, dem Staat, überantwortet werden?!
Computer und Wohnungswesen
Zurück zu den Computern und in die DDR. In den 1980ern wurden auch die kommunalen Wohnungsverwaltungen (KWV) mit Computern ausgerüstet. Die Folgen? Erstens höhere technische Aufwendungen, zweitens waren MitarbeiterInnen wochenlang damit beschäftigt, die Daten von Wohnungen und Mietern zu digitalisieren. Die behauptete Einsparung von Zeit und Papier trat nie ein, wie auch weltweit der Personal- und Papierbedarf der Verwaltungen durch den Einsatz von Computern nicht unbedingt sinkt, ja oft sogar ansteigt.
Was waren nun die Vorteile der Computer für das DDR-Wohnungswesen? Kein einziges Problem wurde mittels der Computer behoben oder nur minimiert! Der Wohnungsmangel, die oft sehr schlechte Bausubstanz, die Fehlbelegung und Fehlnutzung von Wohnraum, das unpünktliche Zahlen oder Prellen der Mieten (und der Aufwand, diese Rückstände einzutreiben), die relativ aufwändige Verwaltung (die selbst Wohnraum blockierte) – alles blieb so, wie es war.
Das ist auch kein Wunder, denn eine wirkliche Verbesserung und Rationalisierung der Wohnungsverwaltung wäre nur möglich gewesen, wenn das gesamte System umgestellt worden wäre. Die hoch subventionierten Mieten, die im Schnitt nur 3% des Einkommens ausmachten und die realen Kosten bei weitem nicht deckten, hätten auf Null gesenkt werden können und müssen. Die realen Kosten für das Wohnen, die Instandhaltung usw. hätte man gesamtgesellschaftlich, z.B. als Pauschalabzug von den Einkommen, umlegen können. Natürlich hätten Vergabe, Nutzung, Tausch usw. von Wohnraum anhand klarer Kriterien geregelt werden müssen (was nicht heißt, dass alles hätte reglementiert werden müssen). Die Verwaltung des Wohnraums hätte kooperativ vom Bauwesen und den in Hauskomitees organisierten BewohnerInnen geregelt werden können. Es liegt auf der Hand, dass diese Selbstverwaltung das kollektive wie auch individuelle Eigeninteresse, eine effektive Kontrolle usw. stark verbessert hätte. Dann wären die BewohnerInnen nicht nur Mieter unter Obhut des Staates und lediglich „formelle“ Eigentümer, sondern Nutzer mit konkreten Rechten, Pflichten und Verantwortlichkeiten und somit aktive Gestalter ihres direkten sozialen Umfelds gewesen.
Eine „separate“ Wohnungsverwaltung wäre fast komplett verzichtbar gewesen. Büroräume und -material, Personal usw. wären weitgehend überflüssig geworden. Doch anstatt diese Umstrukturierungen zugunsten der kollektiven, „genossenschaftlichen“ Selbstverwaltung und größerer Rationalität durchzuführen, wurde das ineffektive bürokratische System noch digital aufgepäppelt. Diese Herangehensweise ist geradezu das Gegenteil dessen, was für das Absterben des Staates in der Übergangsgesellschaft nötig gewesen wäre.
Eine solche tiefgreifende Strukturreform wäre in jedem Arbeiterstaat möglich und nötig – doch sie kollidiert grundsätzlich mit der stalinistischen bürokratischen Gesellschaftsstruktur, die auf der Unterordnung der Gesellschaft unter eine staatliche und politische Bürokratie und der starken Einschränkung jeder Selbsttätigkeit und Selbstorganisation beruht.
Das System der Mietwohnungen funktioniert im Kapitalismus tw. anders als im Stalinismus, tw. aber auch sehr ähnlich. Auch hier gibt es diverse unproduktive Strukturen, die hier aber v.a. nötig sind, um die Befriedigung der monetären Interessen der meist privaten Immobilieneigentümer zu sichern.
Beispiel Bahn
Auch bei der Bahn (Reichsbahn, S- und U-Bahn) zog in der DDR in den 1980ern der „Fortschritt“ ein: es wurden elektronische Fahrkartenautomaten aufgestellt. Das Ergebnis ähnelte dem „Erfolg“ in den Wohnungsämtern. Nun standen Automaten neben den weiter bestehenden Fahrkartenschaltern. Mehr Aufwand also für den gleichen Effekt. Welch ein Fortschritt! Auch hier wäre aber wirklicher Fortschritt möglich gewesen. Der Nahverkehr hätte ebenfalls – über eine gesellschaftliche Umlage – kostenlos organisiert werden können. Anstatt FahrkartenverkäuferInnen und -automaten wären überhaupt keine Fahrkarten nötig gewesen, um mit Bus, Straßenbahn, S- oder U-Bahn zu fahren. Auch hier liegt auf der Hand, welche enormen Einsparpotentiale möglich waren – die zudem so im Kapitalismus undurchführbar sind, weil hier eine gesamtgesellschaftliche Rechnungsführung nicht in vollem Umfang bzw. gar nicht möglich ist.
Bei genauerer Betrachtung würden wir finden, dass solche strukturellen Verbesserungen im Arbeiterstaat eine große Steigerung der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsproduktivität hätten bewirken können. Zwar waren bei den Stalinisten Propaganda-Schlagworte wie „Überholen ohne Einzuholen“ an der Tagesordnung, doch das, was dafür real notwendig und möglich war, wurde nicht durchgeführt. Der von der Bürokratie praktizierte „Technizismus“ brachte letztlich nichts und konnte nichts bringen. Was als heiße Luft auf Parteitagen ausgestoßen wurde, verwehte als laues Lüftchen im realen Leben. In einem Liedtext der DDR-Rockband Silly hieß es dazu wunderbar ironisch und treffend: „Alles wird besser, aber nichts wird gut.“
Um eine andere, kommunistische Gesellschaft zu etablieren, die sich qualitativ wesentlich von allen vorhergehenden unterscheidet und wirklich alle Verhältnisse überwindet, die den Menschen bedrücken und einengen, ist die Weiterentwicklung der technischen Produktivkräfte nur ein Faktor. Genauso – im Grunde noch wichtiger – ist es, allgemein den Menschen selbst und im Speziellen die Arbeiterklasse zum Subjekt der Verhältnisse zu machen und sie nicht zu einem Objekt – weder des Kapitals noch einer herrschenden Bürokratie – zu degradieren.
Von zentraler Bedeutung ist, dass die sozialen Strukturen, innerhalb deren Technik angewendet wird, umgewälzt werden. Diese Umwälzung erfolgte schon beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus und ermöglichte überhaupt erst, dass industrielle Massenproduktion stattfinden konnte. Beim Übergang zum Kommunismus muss es eine erneute radikale Umwälzung jener Strukturen geben, in denen Technik wirkt und technische Systeme interagieren. Ohne eine neue Qualität dieser „Gesellschaftlichen Produktivstrukturen“ (GPS) kann keine neue Gesellschaftsqualität erreicht werden. Eine dem Kapitalismus überlegene Arbeitsproduktivität ist nicht nur – und vielleicht noch nicht einmal zuerst – eine Frage der moderneren Technik. Es ist v.a. eine Frage des Wirkungsumfelds dieser Technik. Die Erfahrungen der DDR wie des gesamten Stalinismus zeigen, dass deren diesbezüglichen „Bemühungen“ sehr bescheiden waren und dieses Problem nicht im Bewusstsein – weder der Klasse noch der Bürokratie – präsent war. Es war ihnen im wörtlichen Sinne kein Begriff.