Welche Regierung?

Zur Debatte in der Bewegung „Aufstehen“

Hanns Graaf

Auf der offiziellen Seite von „Aufstehen“ wurde im November 2018 eine „Präambel für ein neues Regierungsprogramm“ veröffentlicht, das Ausdruck eines „gesellschaftlichen Neubeginns“ sein soll. Leider wird den LeserInnen verschwiegen, wer die AutorInnen dieses Papiers sind. Dieses intransparente und undemokratische Vorgehen verweist deutlich auf die übliche Methode reformistischer „Prominenter“, einerseits die Offenheit und die Demokratie ihrer politischen Struktur zu betonen, andererseits aber permanent von „oben“ die politische Ausrichtung vorzugeben bzw. zum beeinflussen. Und das fällt ihnen um so leichter, als das vorherrschende Bewusstsein in solchen Strukturen wie der LINKEN, der SPD oder auch in „Aufstehen“ (und im Grunde in der Arbeiterklasse insgesamt) ja ohnehin reformistisch ist.

Dass die Basis von „Aufstehen“ über ein alternatives Regierungsprogramm diskutieren soll, ist trotzdem insofern positiv, weil damit das übliche Procedere, dass nur die „oben“, d.h. die Parteien und die „politische Klasse“ über „die Politik“ bestimmen, konterkariert wird. Insofern ist die Diskussionsinitiative in „Aufstehen“ zu begrüßen. Die AutorInnen machen auch einen konkreten Vorschlag für die Diskussion: „Ende März wollen wir die Ergebnisse zusammenführen, darüber im Internet abstimmen und schließlich im Frühsommer auf einem Kongress und breit in der Gesellschaft diskutieren.“

Der Text sagt auch, wozu die Debatte dienen soll: „Die Resultate dieser Diskussion sollen eine Messlatte sein für Wahlprogramme und Kandidatinnen und Kandidaten von Parteien. Unterstützt von Aktionen, die unseren Argumenten Nachdruck verleihen, können unsere Forderungen und Vorschläge zur Grundlage neuer Mehrheiten im Bundestag und einer neuen Regierung unseres Landes werden.“ Es geht also darum, das Programm einer neuen Bundesregierung bzw. der sie tragenden Parteien zu beeinflussen. Ganz offensichtlich wäre die gewünschte „neue Mehrheit“ im Bundestag dann Rot/Rot/Grün.

Die Frage der Macht

Sicher kann man in einem Land nichts wirklich verändern – von revolutionären Veränderungen ganz abgesehen -, wenn man, d.h. eine Klasse, nicht die Macht hat. Doch was ist die Macht? Liegt sie beim Parlament und der von ihr bestimmten Regierung, wie die „Präambel“ suggeriert? Nein, die Macht im Kapitalismus liegt in den Händen derer, die über die großen Produktionsmittel verfügen und damit über Wohl und Wehe der Gesellschaft entscheiden. Natürlich tritt diese Herrschaft nur selten offen und radikal auf, sondern wird meist über alle möglichen Instanzen und Verfahrensweisen exekutiert, etwa die bürgerliche Demokratie, die Tarifpartnerschaft oder das Rechtssystem. Es mag möglich sein, die Politik durch andere Mehrheiten zu ändern (was ja auch oft, wenn auch in engen Grenzen, passiert), doch diese „andere Politik“ würde sich sofort einem grundsätzlichen Problem gegenüber sehen, wenn sie praktisch umgesetzt wenden soll: dem Widerstand bzw. der Unbrauchbarkeit von Kapital und Staatsapparat.

Ein Beispiel: Würde eine „linke“ Regierung eine spürbare Erhöhung von Löhnen und sozialen Transferzahlungen beschließen, würde das vom Kapital – das ja im internationalen Konkurrenzkampf steht – sofort mit Abwanderung und schwindenden Investitionen beantwortet werden, was Arbeitslosigkeit und weniger Steuereinnahmen bedeutet. Die Umsetzung solcher Maßnahmen würde zudem vom Staatsapparat erfahrungsgemäß unterlaufen werden. Ein Ausweg wäre nun die Enteignung von Kapital und Reichtum – was dem Grundgesetz widerspricht und damit jeden Widerstand von Staat und Kapital gegen solche Maßnahmen formal-juristisch berechtigt. Die Durchsetzung einer wirklich alternativen Politik müsste also bewusst mit den Grundlagen und Mechanismen der bürgerlichen Gesellschaft brechen. Anstatt sich auf parlamentarische Mehrheiten und Regierungskonstellationen zu verlassen, müsste man sich auf die Organisationen und die Mobilisierung der Arbeiterklasse und der Massen stützen. Das kann man aber nur, wenn man sich bereits lange zuvor politisch auf die Arbeiterbewegung orientiert und auf diese eingewirkt hätte.

Von all diesen, entscheidenden Fragen ist in der Präambel jedoch nicht die Rede. Das allein beweist, die reformistische, völlig im Rahmen des Kapitalismus verbleibende politische Methode der AutorInnen. Genau dieselbe Methode (und z.T. dasselbe Milieu) waren es, die 2005 aus dem Tiger WASG, der allerdings schon stark an reformistischem Rheumatismus litt, einen Bettvorleger der PDS gemacht haben.

Welche Regierung?

Es wäre allerdings keine Alternative zum Reformismus, sondern nur billige Kritikasterei, wenn wir es damit bewenden ließen. Wir sagen ganz klar, dass es nicht das Ziel sein kann, eine „linkere“, „sozialere“ bürgerliche Regierung zu etablieren – in der Annahme, der parlamentarische Schwanz könne nach Belieben mit den Hunden des Kapitals und des Staates wedeln. Dass das nicht funktioniert zeigen nicht nur 100 Jahre SPD in Regierungen, sondern auch die Regierungsbeteiligungen der Linkspartei auf Landesebene.

Wir leugnen nicht, dass man die Macht braucht, um etwas zu verändern. Doch für MarxistInnen liegt die „alternative Macht“ eben nicht in einem linkeren Parlament oder einer linkeren Regierung, sondern in der Arbeiterklasse und ihrem potentiellen sozialen Gewicht. Nur sie ist grundsätzlich aufgrund ihrer großen Zahl – sie stellt die Bevölkerungsmehrheit – und ihrer engen Verbindungen zum modernen Produktionsprozess und der Entwicklung der Produktivkräfte in der Lage, wesentliche progressive Veränderungen zu bewirken. Das macht sie, wie Marx es ausdrückte, zur einzig wirklich konsequent revolutionären Klasse.
Doch unabhängig von einer revolutionären Perspektive ist das Proletariat auch für die Umsetzung von „Reformen“ letztlich der entscheidende Faktor. Selbst im Rahmen der Tarifkonflikte, die ja immer nur ritualisiert zwischen Kapital und Gewerkschaftsbürokratie ausgetragen werden, kommt das „objektive Gewicht“ der Arbeiterklasse „indirekt“ zum Tragen. Die Erfahrung aus fast allen Reformprojekten zeigt ganz klar, dass deren Effekte entweder marginal sind (und in der nächsten Krise oft wieder kassiert werden) oder Reformen durch das Proletariat erkämpft worden sind und nicht einfach Ergebnisse reformistischer Politik waren. Kein auch nur einigermaßen relevanter sozialer Fortschritt ist denkbar, ohne dass Massen dafür kämpfen.

Der Reformismus zeichnet sich grundsätzlich dadurch aus, dass er a) Klassenkämpfe beschränkt oder gar verhindert und sie in einem System-konformen Rahmen hält sowie b) die Aktionen und Organisationen der Arbeiterklasse bürokratisch kontrolliert und deren Möglichkeiten zur Kontrolle und Selbstorganisation einschränkt oder gänzlich vereitelt.
Daraus ergibt sich die grundsätzliche Frage, worauf sich eine „alternative Regierung“ stützen soll? Diese zentrale Frage wird freilich in der Präambel gar nicht gestellt – gleichwohl aber klar beantwortet: Die Regierung verkörpert den gleichen Typus wie jede andere bürgerliche Regierung, die der administrative „Überbau“ einer der privatkapitalistischen „Basis“ ist, sich dazu des Staatsapparats bedient und jede direkte „Einmischung“ der Massen ausschließt. Es ist also nicht weit her mit der „Alternative“ der Präambel-Autoren.

Eine wirklich alternative Politik bzw. Regierung müsste sich also auf die Organisierung und Mobilisierung der Arbeiterklasse u.a. Ausgebeuteter und Unterdrückter stützen. Das ist in der „alternativen“ Präambel aber offenbar nicht vorgesehen. Die Akteure alternativer Politik sind wieder nur die Parteien, die Regierung und der Staat – die Basis darf mitreden, wählen, Druck ausüben – bestimmen aber kann sie nicht! Das ist lupenreine SPD-Politik. Der Erfolg dieser Methode ist daran ablesbar, dass die SPD sich langsam aber sicher den einstelligen Prozentzahlen bei Wahlen nähert.
Wenn eine Politik oder eine Programmatik nicht wesentlich auf die Selbstorganisation der Klasse setzt oder diese nur auf die politische Ebene (politische Organisationen und politische Aktionen) bezieht, so muss sie scheitern oder kann zumindest nicht mehr bringen, als der zahnlose Reformismus vergangener Dekaden. Die Selbstorganisation der Klasse kann viele Formen annehmen. Dazu zählt ein von der Belegschaft gewähltes – und nicht von der Bürokratie von oben bestimmtes – Streikkomitee; dazu zählt ein von den BewohnerInnen kollektiv verwaltetes (und ihnen gehörendes) Wohnhaus; dazu zählen selbstverwaltete soziale Einrichtungen verschiedener Art bis hin zu Genossenschaften im produktiven und distributiven Sektor usw. All das interessiert weder die Reformisten, noch die Stalinisten oder die meisten „MarxistInnen“. Und das ist eine Ursache dafür, dass sie gescheitert sind oder in der sozialen Marginalität verharren.

Dies bedenkend, können wir sagen: das „alternative“ Regierungsprogramm folgt dem Motto „Weiter so!“ im bürgerlichen Politikbetrieb und ist überhaupt nicht alternativ. Es ist nicht Teil der Lösung des Problems, sondern selbst Teil des Problems.

Gesellschaftsmodell

Diese Alternativlosigkeit kommt aber nicht nur darin zum Ausdruck, wie und womit man gedenkt, die Verhältnisse zu beeinflussen, sondern auch darin, welche Vorstellungen man von der Gesellschaft selbst hat.

Im Präambel-Text heißt es dazu: „Die Möglichkeiten für eine andere Politik sind gegeben. Sie müssen nur genutzt werden. Dazu gehört eine Wirtschaftspolitik, die die Unternehmen in gesellschaftliche Verantwortung nimmt und unsere digitale Infrastruktur sowie das Banken- und Finanzsystem am Gemeinwohl ausrichtet. In der kommerziellen Wirtschaft wollen wir neue Formen wirtschaftlichen Eigentums fördern und verbreiten, die unternehmerische Freiheit und marktwirtschaftlichen Wettbewerb garantieren, zugleich aber verhindern, dass von dieser Freiheit zum Nachteil von Unternehmen, Belegschaften, Natur und Allgemeinheit Gebrauch gemacht werden kann.“

Zunächst wird hier Politik als eine Art Wunschkatalog dargestellt. Doch Politik ist – trotz einer natürlich auch vorhandenen Eigendynamik – letztlich Ausdruck der ökonomischen Macht und der ökonomischen Interessen der Bourgeoisie.

Wenn es heißt, es ginge um „eine Wirtschaftspolitik, die die Unternehmen in gesellschaftliche Verantwortung nimmt und unsere digitale Infrastruktur sowie das Banken- und Finanzsystem am Gemeinwohl ausrichtet“, dann ist das gut gemeint, doch es fehlt jede Aussage darüber, wie das erreicht werden soll. Davon abgesehen, dass eine Ausrichtung am Gemeinwohl für jedes kapitalistische Unternehmen, das in Konkurrenz zu anderen steht (also alle), auf Sicht den Bankrott bedeutet, weil die Konkurrenz z.B. niedrigere Steuersätze hätte oder niedrigere die Löhne zahlt. Privateigentum und Konkurrenz sind also tendenziell unvereinbar mit dem Gemeinwohl.

Was schlagen die Präambel-AutorInnen vor? Sie wollen „neue Formen wirtschaftlichen Eigentums fördern und verbreiten, die unternehmerische Freiheit und marktwirtschaftlichen Wettbewerb garantieren (…)“. Tut uns leid: solche „neuen“ Formen haben wir schon, man nennt sie kapitalistische Unternehmen. Anstatt konkreter Alternativen, etwa Genossenschaften, Arbeiterkontrolle, geplante Wirtschaft usw. wird uns eine hohle Phrase präsentiert. Unsere Weltverbesserer fordern, dass ihre „neuen“ Unternehmensformen „verhindern, dass von dieser Freiheit zum Nachteil von Unternehmen, Belegschaften, Natur und Allgemeinheit Gebrauch gemacht werden kann.“ Wie soll das gehen, wenn der Eigentümer der Produktionsmittel seinen Profit ausschließlich daraus zieht, dass er die Lohnarbeit der Beschäftigten ausbeutet und sich einen überproportionalen Anteil an der Mehrarbeit aneignet? Man sollte solchen Leuten wie unseren präambelnden Reformisten ein Unternehmen schenken, wo sie ihre Ideen praktisch ausprobieren könnten. Den Konkurs müssen sie aber selber ausbaden.

Sollte dieser Text, der keinen Hauch von Alternative atmet, zur politischen Grundorientierung von „Aufstehen“ werden, würde der Bewegung schon bald die Luft ausgehen.

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