Die SAV und die Genossenschaftsfrage (Teil 1 von 2)
Hanns Graaf
Die Linke befasst sich selten mit der Genossenschaftsfrage, um nicht zu sagen, sie ignoriert sie weitgehend. Insofern hebt sich davon ein Beitrag auf der Website der trotzkistischen Gruppe Sozialistische Alternative Voran (SAV) positiv ab. Die SAV arbeitet in der Linkspartei mit. Autor Claus Ludwig, Mitglied des SAV-Bundesvorstands und Linkspartei-Stadtrat in Köln, behandelt darin verschiedene Aspekte des Genossenschaftswesens. Wir gehen hier auf diesen Beitrag genauer ein, weil er grundsätzliche Positionen, die in der linken und marxistischen Szene weit verbreitet sind, darlegt und daran wesentliche sachliche und methodische Fehler sichtbar werden.
Ludwig behandelt zunächst die Aussagen zur Genossenschaftsfrage im aktuellen „Erfurter Programm“ der Linkspartei. Dabei meint er, dass in der Linken „in den letzten Jahren stärker die Genossenschafts-Idee diskutiert (wird). Im Erfurter Programm finden sich starke Bezugnahmen auf die sogenannte ´Solidarökonomie´.“ Völlig richtig konstatiert Ludwig: „Hinter diesem Aufgreifen der Genossenschaftsidee steckt, dass es verstärkte Diskussionen in der Gesellschaft darüber gibt, die Macht der Konzerne und Banken zu überwinden. Bei vielen Menschen wächst das Gefühl, dass kapitalistisches Privateigentum ein Problem an sich darstellt, viele sind für solidarische, gemeinsame Eigentumsformen offen.“
Im Folgenden geht der Autor konkret auf das Programm der LINKEN ein. Dort heißt es: „Solidarökonomie leistet einen wichtigen Beitrag zur kurzfristigen Senkung der Lebenshaltungskosten und zur besseren Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen.“ Ludwigs Kritik an dieser Aussage ist berechtigt: „Das ist faktisch nicht korrekt. DIE LINKE hätte formulieren können „es wäre gut, wenn es so wäre“ oder „wir würden diese Entwicklung begrüßen“. Aber es ist schlicht nicht die Wahrheit, dass Genossenschaften und ähnliche Initiativen einen „wichtigen Beitrag“ bezüglich der „Senkung der Lebenshaltungskosten“ und der „besseren Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen“ leisten. Das tun sie höchstens punktuell, aber auf die gesamte Wirtschaft bezogen, sowohl auf die Wertschöpfung bei Produkten und Dienstleistungen als auch auf die Anzahl der beschäftigten Arbeitskräfte spielt die „Solidarökonomie“ nur eine geringe Rolle. Im Parteiprogramm wird auch nicht unterschieden zwischen „echten“ Formen alternativer, solidarischer Ökonomie und formal genossenschaftlich verfassten Betrieben, die weit davon entfernt sind, alternative ökonomische Ansätze zu bieten.“
Völlig richtig bemängelt Ludwig, dass im „hier zitierten Abschnitt aus dem Parteiprogramm (…) zudem nicht zwischen Wohnungsbau-, Konsum- und Produktionsgenossenschaften unterschieden (wird). Dabei gibt es historisch und aktuell deutliche Unterschiede zwischen diesen Bereichen.“
Zum Genossenschaftssektor in Deutschland stellt Ludwig fest: „Bei den über 6.000 genossenschaftlich verfassten Betrieben arbeiten über 600.000 Menschen, circa 1,5 Prozent der Erwerbstätigen. 41 Prozent der Genossenschaften sind ländliche Genossenschaften und damit im am schnellsten schrumpfenden Sektor der Wirtschaft tätig.“ Und mit dem berechtigten Verweis darauf, dass viele Genossenschaften de facto ganz „normale“ Unternehmen sind, die wenig oder nichts mit selbstverwalteten, alternativen Strukturen zu tun haben, konstatiert er: “Unter dem Strich dürfte der Bereich der „echten“ solidarischen Ökonomie lediglich zwischen 100.000 und 300.000 Menschen beschäftigen, zwischen 0,25 und 0,75 Prozent der Erwerbstätigen.“ Immerhin ist dieses Milieu damit weit größer als das der „radikalen Linken“.
Was Ludwigs Kritik am Programm der LINKEN aber fehlt, ist der Hinweis darauf, dass die LINKE sich überhaupt nicht dazu äußert, wie der Kampf für Genossenschaften geführt werden soll. Welche Forderungen und Taktiken sollen verwandt werden? Welche Probleme ergeben sich? Wie können sie überwunden werden? Das Fehlen dieser Elemente ist ein deutlicher Ausdruck der reformistischen Methode der Linkspartei, einen politischen Wunschkatalog aufzustellen, anstatt eine Anleitung für den Klassenkampf zu formulieren. Doch wie wir noch sehen werden, zeichnet sich auch Ludwigs eigene Methode in der Genossenschaftsfrage tw. durch diesen Mangel aus.
Worin liegt die Bedeutung von Genossenschaften?
Ludwigs Betrachtung von Genossenschaften folgt jener Sicht, die in der Linken bzw. in der Arbeiterbewegung üblich war und ist. Diese sieht in den Genossenschaften v.a. alternative ökonomische Strukturen, deren Wirkung darin bestünde, den mit den Genossenschaften verbundenen Menschen bestimmte soziale und ökonomische Vorteile zu bieten. Das kann auch tatsächlich der Fall sein, doch nur in geringem Maße – allein schon deshalb, weil Genossenschaften nur einen (meist kleinen) Teil der Gesamtökonomie umfassen und auch sie natürlich den Spielregeln der kapitalistischen Gesellschaft unterliegen und sich ihnen nur partiell entziehen können. Das stellt auch Ludwig in seiner Kritik an den Positionen der LINKEN dar.
Doch damit ist das Problem für den Autor auch schon erledigt. Aus der – tendenziell richtigen – Einschätzung, dass das Genossenschaftssystem den ökonomischen und sozialen Zwängen des Kapitalismus insgesamt nicht entraten kann, folgert Ludwig, dass Genossenschaften lediglich eine sehr bescheidene Rolle spielen könnten und deshalb für eine antikapitalistische Strategie nebensächlich wären, ja sogar vom Ziel der revolutionären Überwindung des Kapitalismus ablenken würden. Die Marginalität und den Niedergang des Genossenschaftswesens nimmt Ludwig als Bestätigung seiner These – ohne den Gründen dafür genauer nachzugehen.
Wie den meisten Linken kommt ihm nicht in den Sinn, dass dieses Mauerblümchendasein der Genossenschaften auch daran liegen könnte, dass die Arbeiterbewegung und die Linke Selbstverwaltungsprojekte generell wenig unterstützt haben oder sich sogar – v.a. der Stalinismus – strikt dagegen ausgesprochen oder sie in der Manier des Reformismus auf bürokratische Weise organisiert und damit ruiniert haben. Dass der Stalinismus an Selbstverwaltung kein Interesse haben konnte, ja strikt dagegen sein musste, bedarf keines Beweises. Beim sozialdemokratischen Reformismus liegt die Frage nicht so einfach. Einerseits gab es mitunter gewisse Bestrebungen, das Genossenschaftswesen zu fördern, um so quasi Schritt für Schritt den Kapitalismus zu transformieren und den revolutionären Bruch durch eine Abfolge von quantitativen Änderungen überflüssig zu machen. Andererseits bedeutet ein größeres Genossenschaftswesen, dass dem Kapital bestimmte Bereiche der Gesellschaft der direkten Verwertung entzogen werden, ja die Genossenschaften ihnen sogar als Konkurrenten gegenüber treten. Daran können die (reformistischen) Gewerkschaften, die sich ja innerhalb des Systems von Privateigentum und Lohnarbeit verorten, aber kaum Interesse haben.
Dazu kommt noch ein dritter Aspekt. Die Etablierung eines Systems von Genossenschaften und selbstverwalteten Strukturen kann nur in konfliktreichen Auseinandersetzungen mit Staat und Kapital gelingen. Doch es ist gerade ein wesentliches Merkmal des Reformismus, dem Klassenkampf auszuweichen, ihn zu begrenzen und Zuspitzungen zu vermeiden. Daher waren die genossenschaftlichen Ansätze oft Ergebnisse „spontaner“ Initiativen der Basis und seltener Teil einer bewussten und systematischen Politik der Reformisten. Ein markanter Ausdruck der konzeptionellen Begrenzung des Reformismus ist auch der Umstand, dass die Genossenschaften meist nur Einzelprojekte blieben und kaum ernsthaft versucht wurde, die einzelnen genossenschaftlichen Inseln zu einem ganzen Archipel zu verbinden und dessen Erweiterung als einen wichtigen Teil des allgemeinen Klassenkampfes des Proletariats zu betrachten.
Das alles sieht Ludwig aber nicht. So versteht er nicht (oder spricht zumindest nicht davon), dass der Kampf für ein Genossenschaftssystem zugleich ein politischer Kampf gegen den Kapitalismus sein kann und muss und nicht nur ein Versuch bleiben darf, die Lage kleiner Teile der Massen ein wenig zu bessern. Ludwig sieht nicht, dass der Aufbau eines genossenschaftlichen Sektors objektiv ein anti-kapitalistischer Kampf ist insofern, als er die Grundlagen des Kapitalismus – das Privateigentum, das Lohnsystem, die entfremdete Arbeit usw. – begrenzt und in Frage stellt. Die Genossenschaften geraten daher nicht zufällig immer wieder in Konflikt mit den Interessen und den Strukturen von Staat und Kapital.
Freilich gibt es dabei keinen Automatismus in dem Sinn, dass sich aus bestimmten Strukturen von selbst ein revolutionäres Bewusstsein entwickeln würde. Produktion, Verteilung und den Arbeitsprozess anders zu organisieren, mag mit dem Bruch und der Kritik an bestimmten Aspekten des Kapitalismus einhergehen, doch das ist noch lange nicht dasselbe wie ein revolutionär-sozialistisches Bewusstsein. Um dieses auszuprägen, um den Entwicklungsprozess von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“ (Marx) voran zu bringen, bedarf es noch anderer objektiver und subjektiver Faktoren (revolutionäre Situation, Partei, Theorie usw.). Insofern gilt für die Genossenschaften und die GenossenschafterInnen dasselbe, was für die gesamte Klasse und ihre Kämpfe gilt.
Der Wert, den Genossenschaften und Selbstverwaltungsprojekte für die Arbeiterklasse und die Massen haben können, liegt also nicht nur – und eigentlich am wenigsten – darin, dass sie bestimmte ökonomische und soziale Vorteile für diese bringen können. Vielmehr liegt ihr Bedeutung darin, dass sie einen bedeutenden Teil des allgemeinen Kampfes der Ausgebeuteten und Unterdrückten für ihre Befreiung darstellen. Das Proletariat kann den Klassenkrieg aber nicht für sich entscheiden, wenn es diesen wichtigen Abschnitt der Front nicht besetzt und ihn somit freiwillig dem Gegner überlässt, wie es von der Sozialdemokratie, dem Stalinismus, aber auch von den meisten MarxistInnen praktiziert wurde und wird. Das heißt wiederum nicht, dass andere Fronten und andere Formen und Strukturen des Klassenkampfes weniger bedeutend wären. Es geht hier nicht um ein Entweder oder, sondern um ein Sowohl als auch.
Wie bildet sich Klassenbewusstsein?
Die Genossenschaftsfrage hat für die Herausbildung von Klassenbewusstsein eine große und spezifische Bedeutung. Leider geht Autor Claus Ludwig (wie die meisten MarxistInnen) darauf nicht ein.
MarxistInnen gehen davon aus, dass Bewusstsein bewusst gewordenes Sein ist. Der Prozess ist also einerseits von der objektiven gesellschaftlichen Realität bestimmt, andererseits von der individuellen Lage und der Persönlichkeitsstruktur von Einzelnen oder sozialen Gruppen, die komplex und widersprüchlich miteinander interagieren. Viele MarxistInnen meinen nun (v.a. in der Denktradition Lenins), dass revolutionär-sozialistisches Bewusstsein nur von außen, durch die Partei, in der Klasse verankert werden könne. Dazu müsse die Partei sowohl Theorie und Propaganda betreiben und den Klassenkampf voran treiben, ihn mit revolutionären Ideen verbinden und (möglichst auf dieser inhaltlichen Basis) das Proletariat organisieren: in der Partei, in Gewerkschaften, in Räten, Kontrollkomitees usw. Diese Vorstellung der Konstituierung der Arbeiterklasse und des Klassenbewusstseins teilen die meisten MarxistInnen. Bisher hat es jedoch nur der Bolschewismus vermocht, mit realer Politik diesen Prozess der Gewinnung der Majorität der Klasse in der Revolution erfolgreich umzusetzen. Die bolschewistische Taktik war bisher nur unter den konkreten und besonderen Bedingungen Russlands erfolgreich. Schon insofern muss die Vorstellung von der Oktoberrevolution als „Modell“ der proletarischen Revolution hinterfragt werden.
Es war v.a. der Trotzkismus, der in Gestalt des „Übergangsprogramms“ von 1938 und weiteren Schriften Leo Trotzkis einige wesentliche Lehren der russischen Revolution konzeptionell verarbeitet und zu systematisiert hat. Doch auch er blieb methodisch beschränkt. Er betont zwar die grundlegende Bedeutung der Selbstorganisation des Proletariats etwa in Streik- und Kontrollkomitees, in Milizen oder in Räten, doch sind diese Selbstverwaltungsstrukturen mehrfach beschränkt. Sie tauchen nur in (vor)revolutionäre Situationen und Momenten von Zuspitzungen des Klassenkampfes auf. Dies Formen sind v.a. politische Strukturen, d.h. sie agieren auf der politischen Ebene und befassen sich mit politischen Fragen. Für den „Alltag“ des Klassenkampfs und das Leben des Proletariats spielen sie fast kein Rolle. Damit sind diese Strukturen bzw. Formen des Klassenkampfes „Eintagsfliegen“; zugespitzte Klassenkämpfe, ja selbst ein „normaler“ Streik sind seltene Ereignisse.
Zwar kann sich das Bewusstsein einer Klasse einerseits schnell und radikal ändern, doch andererseits kann es nicht „auf Knopfdruck“ beeinflusst werden. Jede revolutionäre Aufwallung kann schnell wieder in Resignation, Passivität oder reformistisches Alltagsbewusstsein umschlagen. Gibt es keine sozialen Selbstverwaltungsstrukturen wie Genossenschaften, kann anti-kapitalistisches Bewusstsein schwer in der Praxis andocken. Im besten Fall kann es – wie etwa 1917 in Russland – von 0 auf 100 steigen, doch in den meisten revolutionären Situationen zeigte sich, dass ein solcher „einmaliger Impuls“ nicht ausgereicht hat, um genügend revolutionäre Energie zu erzeugen. Der große Vorteil von genossenschaftlichen Strukturen ist hingegen, dass dort Tag für Tag „alternativ“ gedacht und gehandelt werden kann und muss, um das Projekt über Wasser zu halten. Damit könn(t)en die revolutionären Kräfte sich potentiell auf ein – je nach Umfang des Genossenschaftssektors – erhebliches Milieu von Menschen stützen, die nicht nur nach einer zumindest ansatzweisen Alternative zum Kapitalismus suchen, sondern diese sogar schon praktizieren.
Die bei den meisten MarxistInnen ausgeprägte Vorstellung von Klassenbewusstsein als einem wesentlich nur politischen Bewusstsein ist einseitig und verbaut sich selbst eine größere Wirkung und wesentliche Quellen. Die Ursache für diese fehlerhafte Auffassung liegt schon bei Marx und Engels insofern, als sie den Fragen der konkreten Politik, des Parteiaufbaus, des Klassenkampfes und der Übergangsgesellschaft vergleichsweise wenig Raum eingeräumt haben. Sie wurzelt auch stark in der Sozialdemokratie, die von Beginn an auf die politische Ebene orientiert war und dem Aufbau alternativer Klassenstrukturen (ob Genossenschaften, Räten o.a. Strukturen) wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat oder sogar dagegen war. Besonders stark äußert sich diese Einseitigkeit auch bei Lenin und – darauf aufbauend – bei Stalin, die das Genossenschaftswesen nahezu komplett missachteten und die Bewusstseinsbildung fast ausschließlich als Aufgabe der Partei ansahen. Immerhin dämmerte es Lenin in seinen allerletzten Schriften, dass der von ihm eingeschlagene Weg des „Staatssozialismus“ und der Missachtung des Genossenschaftswesens falsch war.
In Wahrheit stellen all diese Auffassungen von Klassenbewusstsein eine unmaterialistische Herangehensweise dar, die das Bewusstsein eben nicht als bewusstes Sein auffassen, als Ergebnis von sozialer Praxis, sondern stark als Ergebnis „ideologischer Arbeit“. Es ist kein Wunder, dass gerade der Stalinismus diesen Begriff immer besonders strapaziert hat, jedoch jeden Versuch der Massen, sich ihre Strukturen zu schaffen, dabei zu lernen und ihr Bewusstsein in der Praxis zu entwickeln, strikt unterbunden hat.
Bewusstsein ist nicht nur ein System von politischen Meinungen und Einstellungen, es umfasst auch verschiedene Fähigkeiten, Gewohnheiten, Bedürfnisse usw., die sich aus dem konkreten materiellen Leben bzw. aus der Kritik daran ergeben und aus den Strukturen, in denen sich das (gesellschaftliche) Leben abspielt. Wenn Marx richtigerweise vom Menschen als von einem „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ spricht, dann bezieht er sich auf die Vielfalt sozialer Bedingungen und reduziert Bewusstsein und dessen Entwicklung eben nicht nur auf die politische Sphäre. Dazu passen auch die diversen positiven Verweise von Marx auf die Genossenschaften, auch wenn er sich dazu nie systematisch geäußert hat.
Die Frage der Produktionsweise
Ein sehr verbreitetes Argument von MarxistInnen und auch Ludwigs ist, dass sozialistisches Bewusstsein (in der Klasse und nicht nur einer kleinen Avantgarde) erst in der Revolution und durch eine einflussreiche Partei entstehen könne, weil vor der Revolution keine materiellen und Produktionsverhältnisse vorhanden sein könnten, die dem Proletariat entsprechen würden, wie das bei der Bourgeoisie bereits im Spätfeudalismus der Fall gewesen wäre.
Was daran stimmt (und worauf auch Marx wiederholt hinwies), ist die Tatsache, dass das Proletariat vor der Revolution tatsächlich nicht eine ihm gemäße Produktionsweise im Rahmen des Kapitalismus etablieren kann. Hinsichtlich der Revolutionstheorie folgern viele MarxistInnen daraus nun, dass die Bourgeoisie ihre Produktionsverhältnisse im Rahmen der feudalen Gesellschaft etablieren konnte und „nur noch“ die politische Macht erobern musste, um die Elemente bürgerlicher Produktionsweise quantitativ ausweiten und innerhalb einer neuen sozialen Qualität weiterentwickeln zu können. Das Proletariat hingegen müsse erst die politische Macht erobern, ehe es die gesamte Gesellschaft inkl. ihres produktiven Unterbaus umwälzen kann.
Doch tatsächlich gelang es auch der Bourgeoisie vor der Revolution nur, bestimmte Elemente ihrer Produktionsweise in mehr oder weniger großen Bereichen durchzusetzen. Diese existierten z.B. in einigen italienischen Stadtstaaten, wo das Bürgertum (insbes. das Handelskapital) bereits erstarkt war, oder als Enklaven kapitalistischer Wirtschaft innerhalb der feudalen Verhältnisse, z.B. die Fuggers oder in Gestalt der (oft jüdischen) Akteure im Finanzbereich. Das hinderte das Bürgertum aber nicht daran, bereits auf dieser Entwicklungsstufe viele Elemente ihrer „Weltanschauung“ zu etablieren. Die bürgerliche Ideologie entstand in verschiedenen Formen (Humanismus, Aufklärung, Calvinismus, Protestantismus usw.) also bereits, als kapitalistische Strukturen noch wenig entwickelt waren. Die Inseln kapitalistischer Ökonomie (Manufakturen, Handel, Finanzsystem, erste Fabrikbetriebe) waren die sozialen Stützpunkte der Bourgeoisie.
Marx schreibt dazu: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“ (Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, MEW 13, 7. Auflage 1971, S. 3) Was die Bourgeoisie im Schoße des Feudalismus entwickelt, sind also v.a. bestimmte Produktivkräfte – keine komplette Produktionsweise.
Selbstverwaltungsstrukturen sind jene – wenn auch in jeder Hinsicht begrenzten – Bereiche des sozialen Seins, wo ein anderes Bewusstsein (im umfassenden und nicht nur im eng politischen Sinn) im Proletariat wachsen kann. Sogar heute schon, da solche genossenschaftlichen, „solidarischen“ Bereiche meist weit davon entfernt sind, bewusste Teile des Klassenkampfes und einer kommunistischen Perspektive des Proletariats zu sein, gibt es unzählige Berichte, die davon erzählen, wie das Arbeiten, das Lernen, das Zusammenleben usw. sich in selbstverwalteten Strukturen verändern. Hier wird ein alternatives Potential deutlich, hier öffnet sich einen Spalt breit die Tür in eine bessere Zukunft. Keine Parteiversammlung, keine Schulung, keine Demo und auch kein Streik kann – ohne deren Bedeutung schmälern zu wollen – diese Art von Erfahrung und sozialer Praxis ersetzen.
Wie viele MarxistInnen irrt auch Claus Ludwig, wenn er schreibt: „Die Vorstellung, dass sich schon im Kapitalismus sozialistische Wirtschaftsformen entwickeln können, hat sich als Utopie erwiesen.“ Ohne den Begriff „Wirtschaftsformen“ zu definieren, versteht Ludwig darunter aber offenbar nicht bestimmte Produktivkräfte bzw. Produktionsverhältnisse, sondern eine Produktionsweise. Letztere kann tatsächlich erst nach der Ergreifung der politischen Macht durchgesetzt werden, während erstere bereits davor in Ansätzen verwirklicht werden können. Das Wachstum der Arbeiterklasse als „Haupt“produktivkraft zeugt davon genauso wie der nicht zuletzt durch Klassenkampf erzwungene „Sozialstaat“ oder eben auch Selbstverwaltungsstrukturen.
Wie viele MarxistInnen überschätzt auch Ludwig einerseits das Niveau der Etablierung der bürgerlichen Produktionsweise in der vor-bürgerlichen Gesellschaft wie er andererseits die Möglichkeiten, Elemente (!) einer proletarischen Ökonomie schon im Kapitalismus zu verwirklichen, unterschätzt.
Die Orientierung auf die Schaffung eines möglichst umfangreichen Genossenschaftswesens ist nicht dasselbe wie die Etablierung einer anderen Produktionsweise. Diese umfasst ja weit mehr Produktionsverhältnisse als nur das Eigentumsverhältnis. Schon von daher ist es absurd, die Etablierung eines genossenschaftlichen Sektors im Kapitalismus mit der Schaffung einer neuen Produktionsweise zu identifizieren.
Auch Claus Ludwig räumt das „alternative Potential“ ein, wenn er bezüglich der Genossenschaften schreibt: „Im Einzelfall kann das Arbeiten in solchen Betrieben durchaus erfüllender sein als in der Maschinerie eines auf Profit getrimmten, streng hierarchischen Unternehmens. In diesem Sinne wirken Genossenschaften und andere Formen der Selbsthilfe durchaus bremsend auf die Ausrichtung der gesamten Gesellschaft auf den Profit, ähnlich wie der öffentliche Sektor. Allerdings ist dieser weitaus bedeutsamer als die Genossenschaften. (…) Genossenschaften strahlen auch eine gewisse Attraktivität aus, weil oftmals die Erfahrung gemacht wird, dass Staatsbetriebe nicht „besser“ sind, als private kapitalistische Unternehmen. Wenn sie von Staatsbürokraten und hoch bezahlten Managern nach privatkapitalistischen Prinzipien geführt werden, ist ein Unterschied kaum erkennbar.“
Gerade deshalb ist ja auch die in der Linken verbreitete Forderung nach Verstaatlichung als Alternative zur „neoliberalen“ Privatisierung – und meist auch als Alternative zur Genossenschaftsorientierung – unzureichend.